40 Jahre Stammheim: Die „Mutter aller Polizeistaaten“

Sind wir nicht alle ein bisschen § 129a?Im April hatte sich ein Göttinger Linksradikaler unter dem Pseudonym »Mescalero« kritisch mit linken Gewaltfantasien, auch seinen eigenen, auseinandergesetzt und war zu dem Schluss gekommen: »Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir: zur Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden.« Der »Mescalero« hatte seine anfänglich »klammheimliche Freude« über das Attentat aber nicht verhehlen wollen, auf dieser dürftigen Grundlage wurde der Text kriminalisiert und jeder Versuch, ihn zu publizieren, verfolgt. Als 47 Professoren ihn dokumentierten, belehrte sie der niedersächsische Innenminister Eduard Pestel (CDU) über die »besondere Treuepflicht« von Beamten, die mehr erfordere »als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung«“ – so endet der Beitrag „Klammheimliche Freude, exotische Vorschläge“ von Jörn Schulz am 14. Oktober 2017 in neues deutschland externer Link – endet dort, wo es anfängt: Mit der strafrechtlichen Verfolgung jeder gestellten Frage zur offiziellen Darstellung, hin zu Gesetzesänderungen, die entscheidende Grundlagen liefern für politische Verfolgung bis heute, inklusive ihrer sukzessiven Ausweitungen. Siehe dazu drei weitere aktuelle Beiträge – und den Tatort zum Thema:

  • „Herbst und Frühling“ von Georg Fülberth am 14. Oktober 2017 in der jungen welt externer Link schreibt über Geschichte und Wirkung der RAF und auch ihre Bedeutung für die Linke – und unterstreicht zur Bedeutung der RAF  für die Entwicklung der BRD:  „Und dann gab es den 18. Oktober 1977: die Geiselbefreiung von Mogadischu, die Todesnacht von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim, die Tötung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die Rote Armee Fraktion (RAF). Hierfür wurde das pathetische Wort vom »Deutschen Herbst« gefunden, der einerseits nur alle zehn Jahre medial begangen wird, andererseits jeden Tag: Es gibt kein anderes politisches Phänomen in der Geschichte Westdeutschlands, das so ausgiebig per Geschichtsschreibung, Journalismus und Film behandelt wurde wie die RAF, die während der fast 28 Jahre ihres Bestehens (1970–1998) nur etwa 60 bis 80 Mitglieder zählte. Seriös ist Jutta Ditfurths Biographie über Ulrike Meinhof. Was ansonsten dazu bisher geschrieben, gefilmt und gesendet wurde und wird, ist mittlerweile nicht mehr interessant als Beitrag zur Tatsachengeschichte der RAF von ihrer Entstehung bis zu ihrer Selbstauflösung, wohl aber für den mentalen Zustand einer sich endgültig als Siegerin des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts verstehenden Nation. Untersucht man dies, geht es nicht mehr um die Rote Armee Fraktion, sondern um das, was im Selbstverständnis der BRD daraus wurde und warum“.
  • „Vor 40 Jahren: Bundestag beschließt Kontaktsperregesetz“ von Detlef Borchers am 29. September 2017 bei heise online externer Link, worin zu den gesetzlichen „Neuerungen“ 1977 unter anderem ausgeführt wird: „Unmittelbar nach Schleyers Entführung in Köln startete Horst Herold, Chef des Bundeskriminalamtes, eine umfangreiche Rasterfahndung und Kommunikationsüberwachung: Alle Telefonzellen in Köln wurden abgehört; Beamte schwärmten aus, um die Wohnung zu finden, in der Schleyer gefangengehalten wurde. Kommissar Computer sollte Angaben über Wohnungen sammeln und bewerten, die a.) über eine Tiefgarage verfügten und bei denen b.) Miete und Strom in bar bezahlt wurden. Tatsächlich wurde das RAF-Versteck gefunden, die Meldung über diese Wohnung wurde aber nicht verarbeitet. Allein der Name der Mieterin hätte dank der Fahndungsdatenbank Inpol sofort die höchste Alarmstufe ausgelöst. Auf Seiten der Regierung wurde ein „großer“ und ein „kleiner“ Krisenstab gebildet. Dort wurde davon ausgegangen, dass die Schleyer-Entführung auch von den inhaftierten Mitgliedern der RAF im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim mit geplant worden war. Um weitere Kommunikation zu unterbinden wurde eine völlige Isolation angeordnet, zudem wurden die Telefone der Anwälte abgehört und eine Nachrichtensperre verfügt. Diese Schritte wurden zunächst mit einem „übergesetzlichen Notstand“ gerechtfertigt und dann mit dem Kontaktsperregesetz für Inhaftierte nach dem Paragraphen 129a des Strafgesetzbuchs legalisiert, das in acht Tagen erarbeitet und verabschiedet wurde. 371 Abgeordnete stimmten für das erste deutsche Sicherheitsgesetz im Kampf gegen den Terror, bei 4 Gegenstimmen und 17 Enthaltungen. Zu den Neinsagern gehörte der SPD-Abgeordnete Manfred Coppik: „Der Kampf gegen den Terrorismus wird nicht durch Sondergesetze gewonnen, sondern durch eine entschlossene Anwendung des geltenden Rechts.
  • „Keine Glaubensfrage“ von Markus Bernhardt am 18. Oktober 2017 in der jungen welt externer Link ist ein Beitrag, in dem die konkrete Aufklärung zu den Ereignissen in Stammheim ebenso Thema ist, wie die kontinuierliche Anwendung neuer gesetzlicher Möglichkeiten, die in diesem Zusammenhang geschaffen worden waren: „In ihrem Antrag auf Wiederaufnahme der Todesermittlungen setzten Ensslin und Lehmann keineswegs auf vermeintliche Gewissheiten, die manche Staatsdiener, aber auch Linke noch immer umtreiben, sondern listeten insgesamt 32 Punkte auf, die Fragen in bezug auf die offizielle Darstellung der Todesumstände und konkrete Ermittlungsansätze aufwerfen. Zudem verwiesen sie darin auf den Umstand, dass noch vor der offiziellen Feststellung des Todes der RAF-Mitglieder am Morgen des 18. Oktober 1977 um 8.53 Uhr eine dpa-Meldung über die Fernschreiber ging, nach der »laut Mitteilung des baden-württembergischen Justizministeriums Andreas Baader und Gudrun Ensslin Selbstmord begangen haben«. Noch vor den kriminaltechnischen Untersuchungen in den Gefängniszellen habe »Regierungssprecher Bölling im Namen der Bundesregierung, der Partei- und Fraktionsvorsitzenden der vier Bundestagsparteien sowie der Ministerpräsidenten von vier betroffenen Landesregierungen« verkündet, dass »die Gefangenen ›das Mittel der Selbstzerstörung eingesetzt haben‹«. Zudem habe der Leiter der Sonderkommission »Stammheim«, Günter Textor vom Bundeskriminalamt, öffentlich erklärt, die Soko habe von der Staatsanwaltschaft keinen entsprechenden über Selbstmord hinausgehenden Ermittlungsauftrag bekommen. »Damit war die Ermittlungsrichtung von vorne herein einseitig fest gelegt und nicht mehr ergebnisoffen«, kritisierten Ensslin und Lehmann in ihrem Wiederaufnahmeantrag.  Zugleich bemerkten sie darin, dass die Forderung nach einer vollständigen Aufklärung bis 2012 nicht erfüllt worden sei. »Die Begründungen für die Einstellungsverfügung des Todesermittlungsverfahrens, es habe keinerlei Anhaltspunkte für eine strafrechtlich relevante Verursachung des Todes der Gefangenen Baader, Ensslin und Raspe sowie der Verletzungen der Gefangenen Möller durch Dritte gegeben, müssen aufgrund der in diesem Antrag aufgeführten Punkte im einzelnen neu untersucht werden«, unterstrichen sie“.
  • Siehe auch den Tatort vom 15.10.2017 „Der rote Schatten“ externer Link : „40 Jahre liegen der Deutsche Herbst und die Todesnacht von Stammheim zurück. Die Folgen dieser traumatischen Zeit beeinflussen den aktuellen Fall der Kommissare Lannert und Bootz.“ (90 Min. | UT | Verfügbar bis 14.11.2017 | Quelle: Das Erste)
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=122851
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