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Türkischer Dschihadismus als neue Gefahr? Die Auswirkungen des Krieges in Syrien und der türkischen Syrien-Politik auf die Region Hatay – 3. Bericht

hatay400.000 syrische Flüchtlinge leben in der Region Hatay, der südlichsten Provinz der Türkei, wo der Syrienkrieg gleich nebenan tobt. Die Kriegsflüchtlinge sind allerdings von der Türkei nicht als solche anerkannt, die ihnen nach internationalen Verträgen zustehenden Schutzrechte werden ihnen verwehrt. So müssen sie unter miserabelsten Bedingungen ihr Leben fristen und sind allen möglichen Formen von Ausbeutung – bis hin zu Sklavenarbeit und Zwangsprostitution ausgesetzt. Gleichzeitig gilt die Region Hatay als Rückzugsort für Dschihadisten aller Coleur. Friedens-, Gewerkschafts- und Menschenrechtsaktivist*innen haben sich im Friedensratschlag Hatay zusammengetan, um über die Zustände vor Ort zu informieren und Gegenwehr gegen Ausbeutung und Krieg zu organisieren. Wir dokumentieren hier die deutsche Übersetzung zu ihrem dritten Bericht (siehe auch die Berichte 1 und 2 im LabourNet Germany), in dem sie eindringlich warnen, dass dschihadistische Organisierung inzwischen Wurzeln in der lokalen Bevölkerung schlägt.


 

3. Bericht des zivilgesellschaftlichen Ratschlags (HALK MECLİSLERİ)  – FRIEDENSRATSCHLAG – GEGEN DEN KRIEG UND FÜR DAS RECHT AUF LEBEN – Hatay  (Mai – Oktober 2016)

EINLEITUNG

vordertuerDer Friedensratschlag Hatay – gegen den Krieg, für das Recht auf Leben – legt hier den dritten Bericht über die „Auswirkungen des Krieges in Syrien und die türkische Syrien-Politik auf die Region Hatay“ vor. Wir beleuchten die Entwicklungen in Hatay, die deutlich machen: Dschihadismus ist nicht mehr nur ein externer Faktor, sondern hat in der einheimischen Bevölkerung Wurzeln geschlagen. Dschihadismus wird damit zu einer inneren Gefahr für die Türkei, was bis zu Rekrutierungsaktivitäten des Islamischen Staates reicht. Die Türkischen Streitkräfte haben mit einer Reihe von dschihadistischen Gruppierungen, die von der türkischen Regierung unterstützt werden, am 24. August die Operation Dscharabulus gegen den IS in Syrien gestartet [die zugeich den Einfluss der kurdischen YPG-Einheiten zurückdrängen sollte]. Dschihadisten innerhalb der Türkei haben das offenbar als Einladung zu Aktionen gegeneinander und ebenso direkt gegen die Türkei verstanden.

Im ersten Bericht vom 15. März 2016 haben wir beschrieben, wie ausländische Dschihadisten ohne rechtliches Prozedere in Drittländer überstellt werden. Außerdem haben wir aufgezeigt, dass von Hatay nach Gaziantep und von dort ins syrische Kilis eine Versorgungsbrücke für Dschihadisten errichtet wurde.

Im zweiten Bericht vom 26. April 2016 haben wir die Sicherheitsbedenken und steigende Unzufriedenheit sowohl in der einheimischen Bevölkerung als auch unter den syrischen Flüchtlingen dargelegt. Andererseits haben wir betont, dass Dschihadisten einerseits durch direkte Unterstützung durch den türkischen Staat, andererseits durch die de facto gewährte Immunität in der Türkei für Logistik, Rekrutierung und die Vorbereitung von Anschlägen freie Hand haben.

In der Zeit bis zum September haben sich einige Warnungen aus unseren ersten beiden Berichten leider bestätigt.

Am 22. März 2016 haben IS-Anhänger Anschläge in Brüssel verübt. Einer der Angreifer war aus Gaziantep nach Europa gekommen. Den Mechanismus der Überstellung hatten wir in unserem ersten Bericht – eine Woche vor den Ereignissen in Brüssel – offen gelegt.

Wie in unserem ersten Bericht bereits aufgezeigt, haben sich die Bedenken der Bevölkerung bezüglich der Präsenz von Dschihadisten und der Gefahr neuer Anschläge als richtig heraus gestellt. Am 24. April 2016 wurde der mit der oppositionellen Farooq-Brigade [Teil der als gemäßigt islamistisch angesehenen Freien Syrischen Armee] in Verbindung stehende syrische Journalist Muhammed Dabul zum Ziel eines versuchten Attentats. Am 6. Juli starben zwei Dschihadisten bei der vorzeitigen Explosion einer von ihnen für den Einsatz vorbereiteten Bombe. Immerhin konnte der geplante Anschlag so nicht mehr ausgeführt werden.

Karte der Provinz Hatay mit ihren Bezirken (Quelle: http://cografyaharita.com/haritalarim/4l_hatay_ili_haritasi.png)

Karte der Provinz Hatay im Südwesten der Türkei mit ihren Bezirken

Zwischenzeitlich haben sich mehrere Anschläge ereignet, auch als direkte Folge der dschihadistischen Versorgungslinie Hatay-Gaziantep/Kilis. Zahlreiche Dschihadisten hatten sich auf den Weg gemacht, die Grenze von Atme im syrischen Idlib nach Reyhanlı in Hatay zu überqueren, um sich an der – unter Schirmherrschaft des türkischen Geheimdienstes MİT stattfindenden – Operation Dscharabulus zu beteiligen. Am 14. August verübte der IS einen Selbstmordanschlag direkt an dem Grenzübergang, den die Dschihadisten für ihre Einreise in die Türkei nutzten. Neben dutzenden Dschihadisten kam beim Angriff auch mindestens ein Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes ums Leben.

Am Abend des 20. August 2016 sammelten sich von türkischer Regierungsseite unterstützte Dschihadisten in Vorbereitung der Operation Dscharabulus in der Grenzregion von Gaziantep. Zur gleichen Zeit wurde in Gaziantep ein Selbstmordanschlag auf eine Hochzeitsfeier verübt, der 60 Menschen in den Tod riss.

Am 6. Oktober wurde in Atme ein weiterer mit dem IS in Verbindung stehender Selbstmordanschlag verübt. Dieser richtete sich gegen von der Türkei unterstützte Dschihadisten, von denen beim Anschlag mindestens 30 ihr Leben verloren. Am 13. Oktober kam es wiederum zu einem Selbstmordanschlag gegen von der Türkei unterstützte Dschihadisten, diesmal im syrischen Azez gegenüber von Kilis. Auch bei diesem Angriff starben mindestens 30 Dschihadisten.

Während eine mögliche Militäroperation gegen Dscharabulus bereits in der Diskussion war, griff der IS am 1. Mai 2016 das Polizeipräsidium von Gaziantep an. Zwei Polizisten starben bei dem Angriff, 23 wurden verletzt. Am 16. Oktober dann, nachdem mit der Eroberung von Dabiq die erste Etappe der Operation „Schutzschild Euphrat“ beendet war, startete eine Polizeioperation gegen IS-Zellen in Gaziantep. Bei einer Explosion in den resultierenden Auseinandersetzungen wurde der IS-Anführer der Provinz Gaziantep getötet.

Es sind außerdem die Grenzregionen zum regelmäßigen Ziel von Kanonen- und Raketenbeschuss geworden.

Das Auftreten von Konflikten und die Anwesenheit von Dschihadisten ist, wie beschreiben, nicht mehr nur ein externer Faktor, der mit dem Ende des Krieges in Syrien von selbst verschwinden wird. In den Bezirken Reyhanlı, Antakya und İskenderun in Hatay ist ein besorgniserregender Grad an Organisierung durch dschihadistische Gruppen einschließlich des IS und der Al-Nusra Front festzustellen. Diese Erkenntnis findet sich nicht nur in irgendwelchen geheimen Unterlagen, sondern ergibt sich auch aus Beobachtungen in der Gegend und aus Gesprächen mit Menschen vor Ort.

Hatay ist mit seiner reichen Kultur als Stadt der Brüderlichkeit bekannt. Dieses Ansehen steht jedoch auf dem Spiel, wenn sich mittlerweile hunderte Jugendliche aus dem Bezirk Reyhanlı in die Reihen des IS begeben haben.

Die Bewohner*innen der Grenzgebiete, Alewiten, syrische Flüchtlinge, Christen, Juden, Tscherkessen fühlen sich bedroht. Tscherkessen suchen zum Teil Schutz in Russland. Die jüdische Bevölkerung ist nahezu verschwunden. Diese negative Entwicklung wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach weiter fortsetzen und vertiefen. Am 21. Juni ist der jüdische Friedhof in Hatay zerstört worden. Am 16. Juli kam es zu Belästigungen in alewitischen Nachbarschaften, am 31. Juli in der orthodoxen Kirche in Antakya.

Der Friedensratschlag Hatay legt hier seinen dritten Bericht vor. Im Mittelpunkt des Berichts stehen die dschihadistische Organisierung in Hatay sowie die Umstände, die dschihadistischer Rekrutierung unter Einheimischen wie Flüchtlingen den Weg gebahnt haben. Wir zeigen, wie diese Ereignisse letztlich zur Zerstörung des kulturell-gesellschaftlichen Zusammenhalts in Hatay geführt haben.

ZIELE UND METHODEN

Ziel dieses Berichts ist es, die Auswirkungen des Kriegs in Syrien und der Syrien-Politik der türkischen Regierung auf die Region Hatay in den Blick der Öffentlichkeit zu rücken. Dabei berichten wir direkt aus der Perspektive der Einwohner*innen und nutzen bestätigte Informationen aus erster Hand. Mit unseren Berichten wollen wir die herrschende Zensur unterlaufen. Zensur nutzt nur dem Krieg und führt zu Spannungen zwischen den Völkern. Wir wollen Desinformation vorbeugen und mit korrekten Informationen alle Bemühungen nach einem Leben in Frieden, Brüderlichkeit und Würde unterstützen.

Der Bericht basiert auf persönlichen Gesprächen mit Menschen, die die Zerstörungen des Krieges hautnah erleben, sowie auf Beobachtungen in verschiedenen Regionen Hatays. Für den Bericht wurden Beobachtungen in den Bezirken Antakya, Defne, Reyhanlı, Altınözü und Yayladağı aufgezeichnet. Interviews wurden durchgeführt mit syrischen Menschenrechtsaktivist*innen, Beamten aus dem Innenministerium, Anwälten der Anwaltskammer Hatay, Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen, einheimischen Journalisten, lokalen Führungskräften, Religionsvertretern und Meinungsführern. Aus Sicherheitsgründen werden einige Namen unserer Interviewpartner nicht veröffentlicht.

Außerdem fand zur Verbreitung der Erkenntnisse aus den ersten beiden Berichten und zur Vorbereitung dieses dritten Berichts am 19. Juni 2016 im Bezirk Defne in Hatay unter dem Titel „Bevor es für Hatay zu spät ist“ ein Diskussionsforum statt. Die Abschlusserklärung des Forums „Bevor es für Hatay zu spät ist“ ist diesem Bericht am Ende beigefügt.

I. VON EINER STADT DER BRÜDERLICHKEIT ZU EINER STADT DER FEINDSELIGKEITEN

Verhältnis zwischen Regierung und Flüchtlingen erzeugt politische Widersprüche

Wir haben mit dem Archäologen Jozef Naseh gesprochen, der seit den 1970er Jahren in Hatay lebt und den Wandel in Politik und Gesellschaft aus der Nähe beobachtet hat. Eine Zeitlang war er Präsident der Stiftung der Griechisch-Orthodoxen Kirche in Antakya, außerdem war er an der Gründung verschiedener politischer Parteien beteiligt. Wir sprachen mit ihm über den kulturellen Wandel, der mit dem Krieg einhergeht, und die Dynamiken, die zu potenziellen Auseinandersetzungen führen. Naseh beschreibt eine kulturelle Veränderung, eine Erosion der Kultur. Er stellt fest, dass die aktuelle Wanderungsbewegung nicht nur humanitäre, sondern politische Dimensionen aufweist. Die wahre Gefahr aber wird sich erst in dem Moment zeigen, in dem die ökonomischen Möglichkeiten der einheimischen Bevölkerung zur Versorgung der Geflüchteten nicht mehr ausreichen.

400.000 syrische Flüchtlinge sind in Hatay angekommen. Naseh sagt: „Natürlich sind wir verpflichtet, den Migrant*innen Obdach zu gewähren. Sie sind nun mal geflohen, im Moment kann man da nichts machen. Es ist keine Option, sie auf einmal alle zurück zu schicken.“ Die Flüchtlingswelle der letzten fünf Jahre unterscheidet sich von vorhergehenden Wanderungsbewegungen in einem wesentlichen Faktor: „Die, die früher gekommen sind, kamen wegen der Freiheiten und wegen eines besseren Lebens. Sie brachten kulturelle Besonderheiten hervor. Wir denken, viele von denen, die jetzt kommen, sind vor allem gegen das politische System in Syrien.“

Die Flüchtlinge sind in Bezug auf Bildung, Gesundheit, Unterhalt mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert. Naseh erzählt, dass es zwar staatliche Lösungsversuche gibt. Diese Bemühungen seien aber nicht ausreichend, sondern schaffen eher neue politische Probleme.

„Die Tatsache, dass diese Versuche von der Regierung einseitig unternommen werden, kann zukünftig negative Auswirkungen in verschiedenen politischen Bereichen haben. Zum Beispiel gibt es heute die AKP. Die politischen Mechanismen von heute bereiten den Geschehnisse den Weg. Aber das Regime kann sich ändern. Die Machtverhältnisse können andere werden, oder Kollaborationen entstehen. Dann kann die bisher von der Bevölkerung gezeigte Opferbereitschaft und Toleranz in Zukunft in die Brüche gehen. Wenn sie bricht, werden die Migrant*innen sich auf diesem Boden selbst als anders und fremd wahrnehmen. Wenn es dazu kommt, wird dieser Weg wohl zu politischen Konflikten führen.“

Die „Anderen“: Geboren in der Türkei, Wurzeln in Syrien       

Wir erinnern an eine Reihe von Konflikten in den ersten Monaten des Jahres 2016 in von Flüchtlingen bewohnten Nachbarschaften wie Narlıca und Odabaşı in Hatay. Naseh aber betont, dass die Hauptgefahr von der Zerstörung der ökonomische Struktur ausgeht: „Es gibt Konflikte im Moment. Aber vor allem hat sich mit der Einwanderung die ökonomische Struktur nicht genug gewandelt. In Hatay gab es bisher ein klares ökonomisches Gleichgewicht. Dieses ökonomische Gleichgewicht stützte sich zu 60-70 Prozent auf die Landwirtschaft. Die Wirtschaft basiert auf landwirtschaftlicher Produktion.“

„Jetzt ist die landwirtschaftliche Produktion bedroht. Warum? Wegen der Probleme aus unserer Außenpolitik. Weil die Möglichkeiten für den Verkauf von Produkten aus der Landwirtschaft und der mit der Landwirtschaft verbundenen Industrie über die Grenze hinweg knapp geworden sind, hat sich die auf die vorhandene Landwirtschaft gestützte Ökonomie verlangsamt – und ist während dieser Verlangsamung ärmer geworden. Oder nicht verarmt, sondern die Ökonomie hat angefangen, sich im Kreis zu drehen. Man konnte keinen Gewinn mehr machen. Die Einwohner hier fangen an zu verarmen. Unter den Migrant*innen gibt es Gebildete, gibt es auch Handwerker. Und es gibt solche, die Arbeit in der Landwirtschaft verrichten. Mit diesem Potenzial an Arbeitskraft können sie zu geringeren Kosten produzieren. Die Wirtschaft wird sich in diesem Zusammenhang verändern. Wahrscheinlich in drei Jahren, in fünf Jahren, ich weiß es nicht. Es sind schon fünf Jahre vergangen. In fünf Jahren wird ein hier geborenes Kind vielleicht schon 10 Jahre alt sein. Zum Gymnasium gehen. Mit hiesiger Bildung und Kultur aufgewachsen, wird das Kind wie ein türkischer Staatsbürger leben. Aber die Schwierigkeiten, auf die es hier trifft, lassen es wissen, dass es „anders“s ist. Diese Probleme werden die Struktur von Antakya verändern. Wenn das Assad-Regime womöglich für längere Zeit bestehen bleibt, oder dieses Regime sich selbst neue politische Grenze konstruiert und überlebt, wird es zu gegenseitigen Streitereien kommen. Das wiederum führt zu massiven Problemen in der Wirtschaft. Man kann sagen, dass diese Perspektive für Hatay auch die Perspektive für die gesamte Türkei ist.“

„Wenn eines Tages das Essen auf unserem Tisch nicht mehr reicht…“

Naseh bestätigt, dass die ankommenden Syrer*innen mit der Anpassung an die Kultur der lokalen Bevölkerung von Hatay keinerlei Probleme haben: „Die Mehrheit derjenigen, die hierher kommen, haben mit der Sprache keine Schwierigkeiten. Sie sprechen ja arabisch [das in Hatay weit verbreitet ist]. Und unter denen, die arabisch können, sind einige Turkmenen. Und es gibt auch Türken, die arabisch sprechen. Sie können sich hier mit Leichtigkeit integrieren. Für sie ist die kulturelle Struktur hier nicht besonders fremd. Und die Sprache hilft auch. Aber auf einer nächsten Stufe kann es für sie trotz allem politische Probleme geben.“

„Die lokale Bevölkerung war umstandslos bereit, den ökonomischen Kuchen mit den Flüchtlingen zuteilen. Das heißt, die Leute kommen, lassen sich nieder, werden willkommen geheißen. Am gedeckten Tisch gibt es genug zu essen für alle. Aber in Zukunft, wenn es nicht mehr für alle reicht, werden vielleicht ein oder zwei Personen hinaus geworfen. Das kann dann zu politischen Problemen führen. Kann, sage ich. Es muss nicht.“

Bewegung gegen Laizismus

Laut Naseh ist in den Nachbarschaften, wo sich konservative Syrer*innen niedergelassen haben, ein offensichtlicher Wandel zu verzeichnen. Er weist darauf hin, dass es hier nicht bei einer bloß kulturellen Änderung bleiben, sondern über kurz oder lang auch politischer Druck resultieren wird: „Zum Beispiel die Nachbarschaft Bağrıyanık, die Kurtuluş Straße, oder auf der oberen oder unteren Seite [von Antakya]. Dort gibt es eine sichtbare soziale und kulturelle Veränderung. Vor 10 Jahren zum Beispiel haben wir auf eine Frau im Niqab, bei der man nur noch die Augen sieht, nicht so reagiert, wie wir es heute tun. Wir sagen, dass sie mit ihrer eigenen Kultur hierher gekommen sind, ihre Kultur hier leben. Aber wenn diese Kultur auf unsere Gesellschaft Druck zu politischer Veränderung ausübt, wird das zu einem Problem.“

„Wir sehen die Gründungsgrundlagen der türkischen Republik, Laizismus und Humanismus, bedroht. Menschliche Werte erodieren. Mit sichtbarer Unterstützung von außen ändert sich die Gesellschaft hin zu einem immer konservativeren Verständnis, unter dem der Laizismus leidet. “

Juden verlassen Hatay

Die jüdische Bevölkerung in Hatay inzwischen einen Punkt erreicht, an dem ihr Fortbestehen nicht mehr gesichert ist.

„Jüdische Präsenz ist im Prinzip nicht mehr vorhanden. Selbst wenn sie hier und da noch ihre kulturelle Identität ausdrücken – die jüdische Gemeinschaft können sie nicht mehr aufrecht erhalten. Die Synagoge ist geöffnet, aber es ist schwierig, überhaupt nur 10 Leute zu finden. 16 sind sie insgesamt. Es gibt einige Vorschriften für den Gottesdienst, die können sie so nicht mehr erfüllen. Eine Gemeinschaft, die diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllen kann, wird aber zerfallen.“

Christen: Wir sind Samen von diesem Boden

Ein dschihadistischer Anschlag zu Ostern 2016 in Pakistan verstärkte die Sorgen in christlichen Gemeinschaften überall auf der Welt, so auch in Antakya. In den Kirchen und der näheren Umgebung patrouillierte die Polizei, die Besucher blieben aus. Traditionell bevorzugen christliche Gemeinschaften, politischen Spannungen aus dem Weg zu gehen. Auch gegen die nun eingesetzten Maßnahmen protestieren sie nicht laut. Es breitet sich aber eine stummen Unzufriedenheit unter den Gemeindemitgliedern aus.

Naseh erzählt: „Die hier schon lange bestehende christliche Gemeinschaft kam mit der politischen Ordnung bzw. den politischen Grenzen nie in Konflikt. Heute gibt es die Türkische Republik. Früher gab es den Staat Hatay. Noch früher gab es den Staat Syrien… Mit keinem davon gab es politische Probleme. Der Grund dafür ist die Kultur des Glaubens, der hier im Boden verwurzelt ist. Das heißt, unsere Gedanken wurzeln in diesem Boden. Wir sind Samen dieser Erde. Gingen wir zu einem anderen Ort, würde es uns dorthin verschlagen – wir könnten dort nicht fruchtbar, nicht produktiv sein. Unser Platz ist hier, wer auch immer der Anführer ist. Unser Platz für Freiheit, für Glaubensfreiheit ist mit diesem Boden verknüpft, nicht mit irgendeinem Anführer.“

Wir haben gefragt, was passiert, wenn es zu einer Bedrohung durch nicht-staatliche Akteure kommt. „Verteidigung ist Aufgabe des Staates, nicht unsere. Wir sind keine Armee. Wir sind keine Krieger, auch keine Sicherheitsbeauftragten. Wir wollen auf diesem Boden in Freiheit leben. Als Samen von dieser Erde wollen wir hier weiter in Gemeinschaft leben. Ob da über uns eine politische Macht ist, ein Staatsoberhaupt oder eine andere Macht, es ist deren Aufgabe sicherzustellen, dass wir in Freiheit diesen Boden bepflanzen können. Wir erwarten, dass der Staat diese Aufgabe von sich aus erfüllt.“

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Werden Christen geschützt oder bedroht?

Wir haben nach dem aktuellen Einsatz von Polizeieinheiten und Röntgengeräte als Sicherheitsmaßnahmen in der Kirche gefragt. „Das macht Angst, macht den Gläubigen Angst. Die Menschen können ihren Andachtsort nicht mehr frei betreten. Ich empfinde diese Maßnahmen als verstörend. Sie haben eine Sicherheitsschleuse mitten auf den Kirchhof gestellt, die wir durchlaufen müssen. Mich betrifft das genauso. Ich gehe durch die Sicherheitsschleuse ins Kircheninnere mit Menschen, mit denen ich seit Jahren zusammenlebe. Irgendwann ist mir aufgegangen, dass sie denken, einer von uns könnte die Sicherheitsmaßnahmen durchbrechen. Aber wer aus unserer Gemeinschaft würde so etwas tun? Ich kann nicht in die Kirche gehen und gleichzeitig Argwohn gegen meinen Nachbarn hegen. Anders herum gilt das genauso.“

„Wir haben nie Konflikte gehabt mit den Menschen, mit denen wir seit Jahren Seite an Seite zusammenleben. Und ich glaube, es wird auch in Zukunft keine Probleme geben. Es gibt Ehen zwischen Christen und Muslimen, zwischen Alewiten und Sunniten. In unserer Gemeinschaft, unserem kulturellen Umgang gibt es keine Problem. Es gibt allerdings Leute, die genau das als Problem sehen und dagegen vorgehen wollen.“

„Anatolien war ein Baum, die Zweige aber wurden beschnitten und übrig blieb einzig Antakya“

Im Patriarchat Antakya der Griechisch-Orthodoxen Kirche haben wir mit Pater Dimitri Doğum und Pater Jan Dellüller gesprochen. Dabei ging es um die Situation der christlichen Bevölkerung in Hatay und um die Auswirkungen der aktuellen Entwicklungen.

Die politische Situation wollten Doğum und Dellüller nicht kommentieren. Die Pater berichten aber, das die christliche Bevölkerung in Hatay von 8-9 Tausend Christen im Jahr 1938 auf nun nur noch 1.000 gesunken ist. Von Mersin bis Hatay insgesamt beträgt die griechisch-orthodoxe Bevölkerung etwa 12.000 Personen, sagten sie.

In den 1920er Jahren wurden um den 6. und 7. Januar allein 40 Taufen vorgenommen, 170-180 Taufen waren es pro Jahr. Heute finden pro Jahr nur noch 4-5 Taufen statt. „In Yayladağı gibt es keine Christen mehr, aber noch eine Kirche. Die wird gerade restauriert. Was aber macht das Kulturministerium? Das ist kein religiöses Erbe, sondern es ist kulturelles Erbe. Der Staat hat kein Recht, ein solches Erbe für seine Zwecke auszubeuten,“ sagt Pater Jan. Er beschwert sich, dass bei den Restaurationsbemühungen die Befindlichkeit der Christen nicht berücksichtigt wird.

Am 22. April 2013 sind der Griechisch-Orthodoxe Erzbischof von Aleppo und Antakya Pavlo Yazıcı und der Syrisch-Orthodoxe Erzbischof von Aleppo Yuhhana İbrahim entführt worden, nachdem sie von der Türkei aus nach Syrien eingereist waren. Wir fragen, ob die beiden Pater angesichts dieser Entführung durch den aktuellen gesellschaftlichen Wandel und die Präsenz von Dschihadisten beunruhigt sind. Pater Jan erwidert:

„Wir sind so beunruhigt wie Ihr über die Lage in diesem Land. Wir sind hier nicht zu Besuch. Wir besitzen eine 2000 Jahre alte Kultur, wir sind die ursprünglichen Einwohner von Antakya. Von der Zahl mögen wir wenige sein, aber wir sind keine Minderheit. Die anderen wissen gar nicht, was Anatolien ist. Anatolien war ein Baum, aber alle Zweige wurden abgeschnitten. Als einziger Zweig geblieben ist nur Antakya. Werden wir es beschützen können? Nein.“

Und weiter: „Sie reden über mehr Toleranz. Aber warum willst Du mich tolerieren? Es ist ein geringschätziger Begriff. Statt Toleranz brauchen die Menschen mehr Liebe.“ Pater Dimtri macht andererseits auf die Beunruhigung aufmerksam, die aus dem ökonomischen Verfall in Hatay resultiert: „Seit Jahren haben sie hier „fellah“ zu Alewiten gesagt, um sie religiös herabzuwürdigen. Seit 2000 Jahren leben Alewiten, Sunniten, Juden hier Seite an Seite. Mein Beruf ist die Goldschmiederei. Auf dem Markt von Uzunçarşı waren Alewiten unsere Brüder, Sunniten unsere Freunde. Wegen der Ereignisse der letzten fünf Jahre sind wir als Bürger, als Arbeitgeber, als Familie besorgt. Die Ladenbesitzer sind tief besorgt. Und wer in der Erwartung von Touristen sein Unternehmen eröffnet hat, kann überhaupt kein Geschäft machen.“

II. BELÄSTIGUNGEN, PROVOKATIONEN, ÜBERGRIFFE

Provokationen in alewitischer Nachbarschaft

Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 fanden wie in allen Städten auch in Hatay auf Anregung der Machthaber „Demokratiewachen“ genannte Demonstrationen statt. Die Teilnehmer*innen dieser Demonstrationen marschierten unter „Allahu Akbar“-Rufen durchs Stadtzentrum. Immer wieder gingen von ihnen Belästigungen und Übergriffe aus.

In der Nacht vom 16. Juli drangen Gruppen mit Motorrädern unter „Alahu Akbar“-Rufen und Slogans für die Herrschenden in die besonders von arabisch-alewitscher Bevölkerung bewohnte Nachbarschaft Armutlu ein. Bewohner der Nachbarschaft stellten sich den Demonstranten körperlich entgegen und waren tagelang auf den Straßen, um ihr Zuhause zu beschützen.

Jugendliche, die in der Nacht vom 16. Juli auf dem Uğur-Mumcu-Platz gegen Übergriffe Wache halten:

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Belästigung an der orthodoxen Kirche in Antakya

Nach dem 15. Juli haben die Demonstrationen für die Machthaber wochenlang angedauert. Die Demonstrant*innen, die beim Eindringen in die alewitischen Nachbarschaften behindert wurden, liefen unter „Alahu Akbar“-Rufen in anderen Formationen weiter durch die Stadt. Zwei Wochen später kam es zu einer weiteren Provokation.

Eine Gruppe von etwa 20 Personen passierte am 31. Juli gegen 19 Uhr auf ihrem Weg entlang der Hürriyet Straße die dort gelegene Orthodoxe Kirche.

Die Gruppe bemerkte, dass in der Kirche zu dieser Zeit eine Trauungszeremonie stattfand. Sie versammelten sich deshalb einige Meter von der Eingangspforte der Kirche, während sie die „Allahu Akbar“-Rufe fortsetzten. Nach Beendigung der Trauungszeremonie wollten einige Teilnehmer die Kirche verlassen. Wegen der Menschenmenge vor der Kirche war ihnen der Weg allerdings versperrt.

Die Kirche befindet sich etwa 150 bis 200 Meter vom Büro des Gouverneurs und dem Polizeipräsidium von Hatay. Zuerst kamen allerdings nur zwei Polizisten. Die Gruppe hörte auf deren Erscheinen hin zwar mit den „Allahu Akbar“-Rufen auf, blieb aber weiter auf der Straße versammelt.

Ein Kirchenvertreter sprach mit den beiden Polizisten und berichtete von der Besorgnis über die Menschenansammlung vor der Kirche in. Er teilte mit, dass die Menschen die Kirche nicht verlassen könnten, so lange die Blockade vor der Kirche andauert.

Die Polizisten allerdings erwiderten lediglich: „Wir haben dringendere Aufgaben. Es wird ein anderes Team kommen“, und verließen sie den Ort des Geschehens ohne Intervention.

Einige Zeit später erschienen weitere Polizisten. Eine Person, Berichten zufolge ein Ladenbesitzer aus der Gegend, winkte die Gruppe zu sich heran, bevor er ihnen bedeutete, den Ort zu verlassen. Daraufhin zerstreute sich die Gruppe und verließ den Ort.

Wir kennen die betroffenen Mitglieder der christlichen Gemeinde. Ihre Namen wollen sie nicht veröffentlicht wissen. In Antakya haben sie sich einer solchen Lage zum ersten Mal gegenübergesehen.

Übergriff auf jüdischen Friedhof

Auf dem Friedhof Asri in Antakya wurden im Juni 2016 Grabsteine jüdischer Gräber zertört. Als jüdische Bürger am Vatertag (19. Juni) den Friedhof besuchen wollten, fanden sie die Wände beschmiert, das Torschloss aufgebrochen und etwa 10 Grabsteine zertrümmert.

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Der zerstörte Friedhof befindet sich in der Nachbarschaft Emek, einer Gegend, in der dschihadistische Gruppen einigen Einfluss haben. Nach Aussagen von Anwohnern aus der Nachbarschaft ist auch der IS dort aktiv.

Sehr viele jüdische Bürger haben Hatay bereits verlassen. Die Zahl der Verbliebenen ist soweit gesunken, dass die jüdische Gemeinde als solche nicht mehr fortbestehen kann. Die in Hatay verbliebenen Mitglieder der jüdischen Gemeinde sagen inzwischen, die Vorfälle der letzten Zeit geben denjenigen Juden recht, die Hatay schon vorher den Rücken gekehrt hatten.

Innerhalb von nur 6 Jahren hat sich in Hatay eine radikale islamische Ideologie entwickelt. Die jüdische Gemeinde mit ihrer 2000jährigen Geschichte ist angesichts von Drohungen und Angriffen fast vollständig verschwunden.

Ausbeutung und Übergriffe gegen syrische Flüchtlinge

Syrische Flüchtlinge werden auf der einen Seite als Bedrohung wahrgenommen, während sie auf der anderen Seite selbst bedroht werden. Im Frühjahr und Sommer fanden in Odabaşı, Antakya und Narlıca Übergriffe gegen syrische Flüchtlinge statt, bei denen Knüppel und Luftgewehre verwendet wurden. In unserem zweiten Bericht haben wir einige der gegen Flüchtlinge gerichteten Übergriffe ausführlich diskutiert.

Neben Übergriffe durch die einheimische Bevölkerung in Hatay wenden auch Grenztruppen Gewalt gegen Syrer*innen an, wenn diese Versuchen, die Grenze nach Hatay zu überqueren. Syrische Aktivisten haben ein Video veröffentlicht, auf dem Soldaten eine Gruppe von Flüchtlingen unter Beschuss nimmt, als diese in der Nacht vom 18. auf den 19. Juni versucht, über den Grenzübergang Güveççi von Idlib nach Yayladağı in Hatay zu gelangen. Zehn Flüchtlinge wurden dabei getötet.

Abgesehen von Vorfällen körperlicher Gewalt sind im täglichen Leben Ausnutzung und andere Formen von Zwang und Gewalt verbeitet. In Gebieten wie Reyhanlı und Narlıca, wo viele Flüchtlinge wohnen, sind Kinderarbeit, Schwerstarbeit, Tagelöhnerei an der Tagesordnung. Hatice Can, Anwältin und stellvertretende Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins (İHD), bestätigt, dass auch sexuelle Ausbeutung von Frauen und Mädchen weit verbreitet ist. Nur gelegentlich werden Anwältinnen und Anwälte durch indirekte Beschreibungen über solche Vorfälle informiert. Die Opfer scheuen sich davor, Fälle solcher Ausbeutung vor Gericht zu bringen.

III. REYHANLI: DSCHIHADISTISCHE ORGANISIERUNG UNTER FLÜCHTLINGEN UND EINHEIMISCHEN

Die Beobachtungen und Interviews, die wir in unseren ersten beiden Berichten dokumentiert haben, sollten vor allem die anhaltende Straflosigkeit für IS-Kämpfer in Hatay öffentlich machen. Es muss aber festgestellt werden, dass die Al-Nusra-Front die höchsten Rekrutierungszahlen unter den Syrern in Hatay aufweist.

İlhami Balı, bekannt als Verantwortlicher für den Zollverkehr beim IS, ist in Reyhanlı registriert. Der Presse wurden Dokumente des türkischen Geheimdienstes MİT zugespielt, die Rekrutierungsaktivitäten des IS in den Bezirken Reyhanlı und İskenderun in Hatay aufzeigen:

rekrutierung

Lokale Quellen berichten, dass Jugendliche aus dem Bezirk sich dem IS angeschlossen haben, in Syrien kämpften und anschließend zurückgekehrt sind. Sie sagen, die Zahl einheimischer IS-Kämpfer geht in die Hunderte. Für diejenigen, die im Kampf für den IS sterben, werden in ihren Herkunftsorten Trauerzelte errichtet.

Hunderte Jugendliche aus Reyhanlı haben sich dem IS angeschlossen

D.H., ein Ladenbesitzer, der anonym bleiben will, sprach mit uns im Juni 2016 über die Anwesenheit des IS im Bezirk. Er erzählte, dass fünf Einheimische mit ihren Familien zum IS nach Syrien gegangen sind und dort beim Kampf für den IS ihr Leben verloren. Trauerzelte seien hier im Bezirk errichtet worden.

Die Identität dieser IS-Kämpfer, deren Ehefrauen in Syrien geblieben sind, ist nicht geheim. Einer ist der Sohn von Ata D., ursprünglich aus Harran (jetzt unter dem Namen Kavalcık bekannt), zwei sind Brüder der Familie Yumuşak, die sich mit der gesamten Familie dem IS angeschlossen hatten, einer gehört zur Familie Şanverler (Gezer), und einer zur Familie Yapar.

D.H. erzählt weiter: Die Familie Yumuşak kam auch namentlich im Niğde-Prozess vor. In diesem Prozess sind IS-Kämpfer eines dreifachen Mordes schuldig gesprochen worden, den sie 2014 in der Provinz Niğde in Zentralanatolien begangen hatten. In der Anklageschrift heißt es, dass Ahmet Yumuşak auf der Verbindungsstraße zwischen Altınözü und Reyhanlı IS-Kämpfer transportiert hat. Er wurde außerdem beschuldigt, syrische Mädchen in Reyhanlı verkauft und – in Zusammenarbeit mit dem Polizeipräsidium von Yayladağı – Aluminium-Pulver für den Bombenbau des IS geschmuggelt zu haben. (Mehr dazu unter http://www.hurriyet.com.tr/turk-polisi-iside-giden-patlayici-maddelerin-gecisine-yardim-etmis-28342254 externer Link)

D.H. berichtet, dass sich nicht nur aus Harran, sondern auch aus den Dörfern Beşaslan und Horlak eine Reihe von Menschen dem IS angeschlossen haben: „Zwölf Leute aus Beşaslan, die sich zum IS gegangen waren, sind zurück gekehrt. Aber es wurden [von den Behördern hier] nicht einmal ihre Aussagen aufgenommen. Sie konnten einfach wieder zurück. Etwa 300 Leute aus Reyhanlı sind zum IS gegangen. … Ein Jugendlicher kehrte nach seiner Verwundung in Kobane zurück und sagte, er sei von türkischen Soldaten ausgebildet worden.“

„Syrer können nicht aufhöre, Al-Nusra zu preisen“

D.H. bestätigt,dass Al-Nusra die beliebteste Gruppe unter Syrer*innen ist: „Syrer*innen können nicht aufhören, Al-Nusra zu preisen. Sie sagen: “ Es ist ein schiitisch-sunnitischer Krieg, und Al-Nusra wird ihn gewinnen.“ Du kannst ihre Häuser nicht betreten. Sie haben Gebäude mit drei Stockwerken im Stadtzentrum, die mit Videokameras gesichert sind.“

Ökonomische Verbindungen haben manche reich gemacht, erzählt D.H. Aber er ergänzt, dass zugleich innerhalb der Gesellschaft die Fremdenfeindlichkeit gewachsen ist.

„Syrer*innen haben die Kontrolle über die Wirtschaft übernommen. Sie haben die Kontrolle über die Handelsmärkte übernommen. Sie bezahlen nichts für die Elektrizität, die sie benutzen. Es gibt in unserer Gesellschaft Feindschaft gegen Fremde.“

D.H. berichtet, es wäre inzwischen üblich im Bezirk, dass Männer sich eine zweite Frau aus der syrischen Gemeinschaft nehmen. Einheimische Frauen hätten deshalb schon zeitiger gegen die Flüchtlinge reagiert. Gleichzeitig sehen Ladenbesitzer Syrer inzwischen als Konkurrenz.

Ist man allerdings in den Zentren des Bezirks unterwegs, trifft man zwangsläufig immer auch auf Syrer*innen, die betteln oder auf der Suche nach Tagelöhner-Tätigkeiten sind.

„Es gibt immer noch Leute, die in Lagerhallen wohnen, und es gibt Leute, die wohnen in Scheunen auf den Dörfern.“, sagt D.H. „Gleichzeitig verhalten sich Syrer*innen, als gäbe es hier unbegrenzte Freiheit. Dieser Ort hier ist nicht mehr sicher. Der Krieg hat vor fünf Jahren angefangen. Wer damals 12 war, ist heute 17. Was mit Kilis passiert ist, wird auch Reyhanlı pasieren. Al-Nusra hat diesen Ort unter Belagerung.“

Islamische Bildung in 48 temporären Bildungszentren

Yunus Dolgun, Vertreter der Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen in Reyhanlı, lebt im Dorf Bükülmez. Das Dorf befindet sich in der Nähe des (auf der syrischen Seite gelegenen) Camps Atme, einem Umschlagplatz für Dschihadisten. Wie Dolgun berichtet, gibt es 48 temporäre Bildungszentren für syrische Flüchtlinge in Reyhanlı. Syrische Lehrer*innen arbeiten dort als Freiwillige.

Dolgun macht auf zukünftige Gefahren aufmerksam: „Wir wissen nicht, ob die freiwilligen Lehrer*innen Verbingungen zu Dschihadisten haben. Die Schulen werden von islamistischen Organisationen betrieben, die sich den Anschein von Hilfsorganisationen geben. Es gibt 16.100 registrierte Schüler*innen, von denen sich 15.000 weiterhin in Ausbildung befinden. Jede dieser Schulen hat einen kostenlosen Bus-Shuttle, aber keine einzige unterrichtet nach säkularem Lehrplan.“

Die İHH, eine islamistische Hilfsorganisation, hat in Reyhanlı ein nicht registriertes Weisenhaus errichtet. Dolgun macht sich Sorgen, dass die Kinder, die dort aufwachsen, in die Richtung dschihadistischer Netzwerke gelenkt werden.

Dschihadisten nehmen den Tscherkessen die Straßen weg

Nach dem Putsch vom 12. September 1980 hatten Nachtwachen in ihren Berichten vermerkt: „Auf den Straßen waren nur Hunde und Tscherkessen.“ Heute dagegen haben viele Tscherkessen aus Reyhanlı Asyl in Russland beantragt. Hatten sie vor Kriegsbeginn eine starke gesellschaftliche Präsenz, ziehen sie sich jetzt immer mehr aus der Stadt zurück, berichtet Uğur Pihava, Mitglied der Gründungsversammlung der Bewegung der Tscherkessen.

Pihava berichtet, einerseits bedroht der Krieg Tscherkessen in Syrien. Andererseits sind durch die Präsenz von Dschihadisten und den Zustrom syrischer Flüchtlinge auch die sieben tscherkessischen Dörfer in Reyhanlı bedroht.

Pihava betont, dass die Verschlechterung der Situation in Hatay allen Grund zur Sorge bereitet. Einige Mitglieder der tscherkessischen Community haben deshalb im Februar 2016 begonnen, Asyl in Russland zu beantragen.

IV. BEVOR ES FÜR HATAY ZU SPÄT IST

Am 19. Juni 2016 fand im Hotel Tarbuş in Defne/Hatay unter der Überschrift „Bevor es für Hatay zuspät ist“ ein Diskussionsforum statt. Dort wurden die sozialen und politischen Bedrohungen diskutiert, die aus dem Krieg in Syrien und der türkischen Syrien-Politik resultieren. Folgende Personen nahmen am Forum teil:

Jozef Naseh (Archäologe), Yunus Dolgun (Vertreter der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen, Bezirk Reyhanlı ),Hatice Can (Anwältin und stellvertretende Vorsitzende des Türkischen Menschenrechtsvereins İHD), Uğur Pihava (Mitbegründer der Bewegung der Tscherkassen), Hediye Levent (Journalistin), Hamide Yiğit (Autorin), Oya Ersoy (Vorsitzende der Bewegung der Volkshäuser – Halkevleri), Perihan Koca (Ko-Sprecherin der Gesellschaftlichen Freiheitspartei – Toplumsal Özgürlük Parti Girişimi TÖPG), Zeynep Altıok Akatlı (stellvertretende Vorsitzende der CHP und Abgeordnete für İzmir), Serkan Topal (CHP, Abgeordneter für Hatay), İbrahim Yaman (Ratspräsident für Defne), Garo Paylan (HDP, Abgeordneter für Istanbul), İlhan Yiğit (Mitglied des Zentralkomitees der Gewerkschaftsföderation KESK), Dr. Sadık Nazik (Mitglied der Gewerkschaft der Gesundheits- und Sozialarbeiter*innen SES), Umar Karatepe (Sachverständiger, Gewerkschaftsföderation DİSK), Mithat Can (Türkischer Menschenrechtsverein İHD, Bereichsvorsitzender Hatay), Alp Kayserilioğlu (Autor), Max Zirngast (Autor).

Die Abschlusserklärung des Forums warnt vor der Gefahr eines originär türkischen Dschihadismus und unterstreicht die Notwendigkeit einer breiten Gegenbewegung – bevor es für Hatay zu spät ist.

Abschlusserklärung des Forums vom 19. Juni: „Bevor es für Hatay zu spät ist…“

Der Krieg in Syrien dauert bereits seit fünf Jahren an. Die türkische Regierung betreibt eine Politik der aktiven Einmischung in diesen Krieg. Hatay ist davon in vielerlei Hinsicht betroffen: Sicherheit, Kultur, Tradition der Bürderlichkeit, Ökonomie stehen vor dem Abgrund.

Unter Verwendung von Bulldozern hatte die türkische Regierung mit Kriegsvorbereitungen an der Grenze begonnen, lange bevor die Auseinandersetzungen diese Gegenden erreicht hatten. Der Krieg in Syrien, der von der Türkischen Regierung von Anfang an als ihre Angelegenheit angesehen wurde, trifft nun uns.

Im November 2015 hat die Türkei ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen, im Februar 2016 wurde die Verbindungsstraße zwischen Gaziantep und Aleppo gekappt. Seitdem sind hier vermehrte Bewegungen zu beobachten: Die Dschihadisten haben sich nach Hatay zurückgezogen, ein Versorgungskorridor zwischen Hatay und Kilis wurde eröffnet. So sind neue Kanäle entstanden, über die die Spannungen des Krieges über die Grenzen hinweg das Gebiet der Türkei erreichen.

Die Präsenz dschihadistischer Gruppen einschließlich Al-Nusra und des IS in Hatay wächst weiter. Die logistischen Tätigkeiten dieser Gruppen und die Bestrebungen zu einer Organisierung unter den Geflüchteten wie unter der einheimischen Bevölkerung können ungehindert fortgesetzt werden. Gleichzeitig ist die staatliche Politik gegenüber Flüchtlingen von Gewalt an der Grenze geprägt. Flüchtlinge werden innerhalb der Gesellschaft isoliert und direkt oder indirekt zur Rückkehr gezwungen.

Die 400.000 Syrer*innen in Hatay sind nicht als Flüchtlinge anerkannt, ihre Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. Sie leben unter miserablen Bedingungen, die von Niedriglohn über Kinder-Sklavenarbeit bis hin zu Kinderheirat und Zwangsprostitution reichen.

Gesunde Lebensumstände werden den Geflüchteten vorenthalten. Gleichzeitig erleben sie besondere Schwierigkeiten bei der Bildung. Flüchtlingskinder erhalten keine säkulare Bildung, sondern bekommen Unterricht in Bildungszentren, die dschihadistischen Gruppen nahe stehen.

Die schwierigen Lebensumstände Geflüchteter bereiten den Nährboden für dschihadistische Rekrutierungen: sie können leicht von NGOs ausgenutzt werden, die Dschadisten nahe stehen. Auch innerhalb der einheimischen Bevölkerung kommt es vermehrt zu islamistischer Organisierung.

Insgesamt besteht die ernsthafte Gefahr, dass sich in naher Zukunft ein türkischer Dschihadismus entwickelt.

Hatays Kultur und Tradition der Brüderlichkeit erodieren. Jüdinnen und Juden haben Hatay weitgehend verlassen, Tscherkessen beantragen Asyl, weil sie hier keine Zukunft mehr sehen. Alewiten und Christen fühlen sich zunehmend bedroht, Sunniten werden zum Ziel provokativer Propaganda. Geflüchtete werden durch zunehmende Ausländerfeindlichkeit in die Arme von Dschihadisten getrieben.

Es gab eine Zeit, da hatte die Wirtschaft in Hatay im Rahmen der Ökonomie des Krieges ein Gleichgewicht gefunden. Nun aber kollabiert die Wirtschaft: Der ökonomische Puffer aus dem Schmuggeln von Öl und der Politik des Plünderns ist aufgebraucht, die Spannungen zwischen sozialen Gruppen steigen an.

Bevor es für Hatay zu spät ist, müssen Schritte unternommen werden. Ein sofortiger Stopp für den Verkehr von Dschihadisten und deren Aktivitäten in Hatay, Grenzschließungen für logistische Kriegsunterstützung, die Aufklärung von Kriegsverbrechen auf nationaler und internationaler Ebene und Rechenschaft der dafür Verantwortlichen sind sowohl nötig als auch unzureichend.

Die Anwesenheit hunderttausender Geflüchteter ist inzwischen Realität in Hatay. Dieser großen gesellschaftlichen Gruppe werden die Rechte, die ihnen nach internationalen Verträgen zustehen, verwehrt. Es muss sichergestellt werden, dass ihre Interessen nicht weiter der Ausbeutung geopfert werden. Statt zukünftigen Zusammenstößen muss es wieder um Brüderlichkeit gehen, müssen soziale Rechte wie die auf Bildung, Arbeit und Gesundheit auf gleichberechtigter Basis ermöglicht werden.

Als Antwort auf die herrschende Politik, die Geflüchtete ausgrenzt, isoliert und unter ungleichen Bedingungen zu leben zwingt, muss ein Verständnis für Gleichberechtigung und Integration in der sozialen Arbeit und bei sozialen Rechten aufgezeigt werden.

Die Zahl der Gesundheitsstützpunkte muss erhöht werden und es müssen besondere Maßnahmen für den präventiven Gesundheitsschutz sowohl für die Geflüchteten als auch für die einheimische Bevölkerung ergriffen werden. In der Bildung für Geflüchtete muss den Prinzipien des Säkularismus gefolgt werden. Auf dem Arbeitsmarkt muss das Recht auf gleiche Arbeit gegen alle Formen der Ungleichheit verteidigt werden.

Gegen die neuen Auseinandersetzungen an unserer Grenze, gegen den Krieg, der an unseren Grenzen andauert, gegen dschihadistische Aktivitäten und die Gefahr eines türkischen Dschihadismus müssen wir einen offenen, mutigen und effektiven Kampf führen.

Im Namen „humanitärer Hilfsaktionen“ werden Rekrutierung und andere Aktivitäten von Dhschadisten unterstützt. Solche Aktivitäten, wie sie von der İHH und anderen NGOs durchgeführt werden, die ihre Verbindung zu Dschihadisten nicht einmal zu verschleiern versuchen, müssen ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden.

Neben der Berichterstattung zum Krieg, der Veröffentlichung von Entwicklungen und dem Entwickeln von Kampagnen müssen Kämpfe organisiert werden, die die Menschen im Namen von Frieden und Brüderlichkeit auf die Straße bringen.

Der Krieg in Syrien wird von der türkischen Regierung benutzt, um das eigene Land umzugestalten. Dieser Krieg ist ein Krieg um das Überleben der Regierung auf dem Weg zur reaktionären Diktatur. Der Kampf um Frieden in Hatay muss im Rahmen des Kampfes um Frieden in unserem Land organisiert werden, auf der Basis von Säkularismus, Demokratie, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Kontakt:

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Koordination: Ali Ergin Demirhan (ali@sendika.org/ +90 553 281 93 05)

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