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Flüchtlinge im Niger protestieren gegen Polizeigewalt und unerfüllte Zusagen der Festungsgemeinschaft EU

Dossier

Seit März 2019 gehen die Proteste von Flüchtlingen im Niger immer weiter - an dem Betrug, den die EU an ihnen begehtDer friedliche Protest von Flüchtlingen in Niger, die seit dem 16.12.2020 vor dem UNHCR-Büro in Agadez ausharrten, wurde gestern von lokalen Behörden gewaltsam auseinander getrieben und die Menschen zurück in das Wüstenlager, 16 km außerhalb, gezwungen. Die Menschen wurden mit Gewalt auf LKW gezwungen. Refugees (vor allem aus dem Sudan), die sich weigerten wurden geschlagen. Nach dem Eintreffen der ersten zwangsweise zurück gebrachten Refugees kam es in dem Wüstenlager zu einem Brand, der große Teile des Lagers zerstörte…“ – aus dem Thread „Der friedliche Protest von Flüchtlingen“ bis zum 06. Januar 2020 im Twitter-Kanal der Seebrücke Frankfurt/Main externer Link über die Proteste in und um Nigers Flüchtlingscamps – von Menschen (insgesamt im letzten Monat knapp 3.000), die aus Libyen in den Niger „gebracht“ worden waren, mit zahlreichen Zusagen über ihre künftigen Möglichkeiten, die allesamt nicht eingehalten worden sind. Siehe dazu auch einen ausführlichen Hintergrundbeitrag über die Lage der Flüchtlinge im Niger und weitere Informationen:

  • Wo Europas südlichste Grenze beginnt. Innert weniger Jahre hat sich der Sahelstaat Niger zum zentralen Partner der EU-Abschottungspolitik gemausert. Eine Recherche in der Wüstenstadt Agadez. New
    „Als sich der Pick-up überschlug, auf dem Menkam Linou mit ihrer siebenjährigen Tochter sass, dachte sie nicht, dass sie überleben würde. Denn bleibt man in der Ténéré-Wüste nördlich von Agadez auf dem Weg nach Libyen einmal zurück, sind die Chancen auf Rettung gering. «Wir hatten Glück», sagt Linou. Bis auf eine ausgekugelte Schulter seien sie und ihre Tochter unverletzt geblieben. Wäre sie damals in der Wüste nicht von einer Patrouille der Uno-Agentur IOM (Internationale Organisation für Migration) aufgefunden worden, würde sie heute nicht hier sitzen, auf einem Korbstuhl im Innenhof eines Kulturzentrums in Agadez. Über Linou raschelt der Wind in den Bäumen. Es ist einer der wenigen Orte in der Wüstenstadt mit offiziell gegen 140 000 Einwohner:innen, an denen es auch mittags kühl bleibt. Und wo Menkam Linou fernab des Geflüchtetenlagers ungestört sprechen kann. Ihre jüngere Tochter Mami liegt fest in ein buntes Tuch gewickelt auf ihrem Schoss. Mit der kleinen Mütze auf dem Kopf hat sie ein fast so rundes, glattes Gesicht wie ihre Mutter. Seit einem Jahr wartet Linou mit ihren beiden Töchtern auf den Entscheid über ihren Asylantrag durch die nigrischen Behörden. Eigentlich heisst sie anders. Aus Kamerun, wo es seit 2016 immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommt, ist sie 2020 geflohen – einige Monate nachdem eine Miliz ihr Haus überfallen hatte. Ihr Mann wurde dabei getötet. (…) Im Jahr 2015 – auf dem Höhepunkt von Europas sogenannter Flüchtlingskrise – erliess die nigrische Regierung mit Unterstützung der EU ein neues Gesetz, das es fortan verbot, Migrant:innen nördlich von Agadez zu transportieren oder sie in der Stadt zu beherbergen. Im folgenden Jahr begannen die Behörden, die Wüstenrouten sukzessive dicht zu machen. Fahrer, die Menschen nun illegal durch die Wüste transportierten, wurden verhaftet, ihre Pick-ups beschlagnahmt. Bei Verstössen gegen das Gesetz 036 drohen bis zu zehn Jahre Haft oder Geldbussen über mehrere Tausend Euro. (…) Neben der internationalen Migration, auf die es abzielte, beeinträchtigte das Gesetz laut zahlreichen Studien fortan auch die Bewegungsfreiheit der nigrischen Bevölkerung. Und es schränkte die jahrzehntealte zirkuläre Arbeitsmigration in der ganzen Region massiv ein. Derweil wurde der Niger, das drittärmste Land der Welt, zu einem «Schlüsselpartner» der EU. Im Gegenzug für die Implementierung des Gesetzes 036 ist das Land zu einem der grössten Empfänger humanitärer Hilfe und von Entwicklungsgeldern aus Europa geworden: Über eine Milliarde Euro sind in den vergangenen acht Jahren für Hilfsprojekte ins Land geflossen. Millionen davon auch in die «Migrationssteuerung» und in die Bekämpfung von «kriminellen Schleusernetzwerken». Zwischen 2015 und 2022 sollen dreizehn von neunzehn EU-finanzierten Projekten im Niger ausschliesslich der Grenzkontrolle und dem Strafvollzug gedient haben, heisst es in einem Bericht der katholischen Hilfsorganisation Misereor. Die entsprechenden Projektvolumen belaufen sich demnach auf fast 400 Millionen Euro. Die britische Menschenrechtsorganisation Privacy International kommt in einer Studie zum Schluss, dass der Niger zu einer «externalisierten europäischen Grenze» geworden sei. (…) Wiederholt kam es in den vergangenen Jahren zu Protesten im Lager. Vor einem Jahr spitzte sich die Situation erneut zu, nachdem gemäss UNHCR ein Mann aus dem Sudan während einer Auseinandersetzung zwischen den Bewohner:innen und der Polizei erschossen wurde. Die Tat ist bis heute nicht aufgearbeitet worden. Einer der Gründe für die aufflammenden Proteste seien die langen Wartezeiten für die Asylanträge, erzählen einige Bewohner:innen. (…) Aus EU-Sicht ist die Partnerschaft mit dem Niger indes ein Erfolgsmodell, das auch auf andere afrikanische Länder ausgeweitet werden soll: Als «Migrationschampion» hat Ugochi Daniels, eine ranghohe IOM-Funktionärin, das Land bezeichnet. (…) Für die Migrant:innen, deren Weiterreise verhindert wurde, gibt es bloss noch einen offiziellen Weg raus aus Agadez: jenen der IOM. Die Uno-Organisation betreibt im Niger neben anderen Hilfsprojekten auch das weltweit grösste Rückkehrprogramm. Finanziert wird es von der EU mit insgesamt rund 180 Millionen Euro. 2022 sind in dessen Rahmen über 15 000 Menschen vom Niger in ihre Heimatländer geflogen worden…“ Reportage von Franziska Grillmeier (Text) und Vincent Haiges (Fotos) aus WOZ Nr. 24 vom 15. Juni 2023 externer Link
  • EU-Asylpolitik im Niger: »Die Menschen sitzen hier fest« 
    Im Interview von Ulrike Wagener vom 3. Oktober 2022 in neues Deutschland online externer Link berichtet Azizou Chehou von Alarmphone Sahara „über die EU-Grenze in Westafrika und die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe: [Niger gilt seit 2015 als »Grenzwächter Europas«. Im Juli hat die EU ihre Zusammenarbeit mit dem westafrikanischen Staat durch eine sogenannte Anti-Schmuggel-Partnerschaft intensiviert. Der Sahelstaat soll Migrant*innen davon abhalten, die Fluchtroute über die Sahara und Libyen zum Mittelmeer zu erreichen. Sie leben in Agadez, einem wichtigen Knotenpunkt. Wie ist die Lage vor Ort?] Die EU hat ihre Grenzen nicht nur an der Mittelmeerküste, sondern bis in die Mitte Nigers ausgelagert. Agadez liegt rund 1000 Kilometer entfernt von der Grenze zu Libyen. Die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM) hat hier 2010 angefangen, »Transitzentren« für Migranten zu bauen, bezahlt von EU-Staaten. Von hier sollen aus Libyen oder Algerien zurückgeschobene Menschen in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden. Doch die Zentren sind überfüllt, viele Migranten (Original: People on the Move) leben auf der Straße, Frauen prostituieren sich, Kinder betteln, die Menschen haben keinen Ort, wo sie sich oder ihre Kleidung waschen können. Lokale Politiker gehen davon aus, dass sich die Bevölkerung der Stadt durch die People on the Move verdoppelt oder sogar verdreifacht hat. Die Menschen sitzen hier fest. Viele warten mehr als sechs Monate auf die Rückkehr in ihr Herkunftsland. (…) Sie haben keine andere Wahl. Wenn sie aus Algerien oder Libyen zurückgeschoben werden, haben sie kein Geld, keine Dokumente, keine Kleidung. Ihnen bleibt nur, zu ihren Familien zurückzukehren. Viele schämen sich dafür, dass sie nach jahrelanger Abwesenheit von ihrer Familie mit leeren Händen zurückzukommen. (…) Offiziell soll das Gesetz 036 Menschenhandel bekämpfen. Aber das ist ein vages Konzept. Wenn jemand seine Familie im Ausland kontaktieren will und ich ihm oder ihr mein Telefon gebe, bin ich ein Krimineller. Wenn ich jemandem Unterschlupf gewähre, bin ich ein Krimineller. Wenn ich einem Hungrigen zu essen gebe, bin ich ein Krimineller. Alle NGOs fallen unter dieses Gesetz. Unsere Arbeit ist eingeschränkt, einer unserer Mitarbeiter sitzt seit letztem Februar im Gefängnis. (…) Wir haben eine offizielle Beschwerde gegen die nigrische Regierung wegen des Gesetzes 036 eingelegt. Zusammen mit Organisationen aus Mali, Nigeria und Italien haben wir Zeugenaussagen von Menschen gesammelt, deren Rechte auf ihrem Weg verletzt wurden. In den meisten Fällen handelt es sich um körperliche Misshandlungen, Vergewaltigungen durch Uniformierte, Erpressung und die Vernichtung von Dokumenten. Die Regierung hat nun einen Monat Zeit, darauf zu reagieren. Ende September haben wir auf Veranstaltungen in Strasburg und Rom darüber informiert. Wir sind nur ein kleines Netzwerk und sind auf die Unterstützung europäischer Organisationen und Medien angewiesen.“
  • Niger: Deutschland finanziert Patrouille gegen Terroristen und Migranten 
    In Niger fördert Deutschland die Ausbildung verschiedener Polizeieinheiten. Eine mobile Grenzeinheit soll helfen, Terrorgruppen, kriminelle Banden und Migranten abzuwehren. Hilfsorganisationen werfen den Einheiten Verbrechen vor. Die Europäische Union hat die Ausbildung der rund 250 nigrischen Sicherheitskräfte organisiert. Von den zehn Millionen Euro für den Aufbau der Einheit zahlte Deutschland sechs Millionen, die Niederlande übernahmen den Rest. (…) Die Sicherheitslage in Niger hat sich in den vergangenen Jahren drastisch verschlechtert. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) haben Terroristen im Westen seit Januar mehr als 420 Zivilisten getötet und zehntausende aus ihren Dörfern vertrieben. (…) Die EU-Mission wurde 2012 im Kampf gegen den Terrorismus gestartet und hat das Ziel, die Ausbildung der verschiedenen Polizeieinheiten Polizei, Nationalgarde und Gendarmerie zu unterstützen. 2015 wurde das Mandat ausgeweitet auf die Abwehr von ausländischen Migranten ohne Papiere. (…) Human Rights Watch wirft den nigrischen Sicherheitskräften vor, in ihrem „Kampf gegen den Terrorismus“ ihrerseits Verbrechen zu begehen. Von 2019 bis 2020 wurden demnach mehr als 150 Menschen von ihnen getötet oder verschleppt…“ Beitrag von Bettina Rühl am 13.09.2021 im Migazin externer Link
  • „Im Wartesaal Europas“ von Christian Jakob am 25. April 2019 in der taz online externer Link zum „Festungsvorbau“ Niger und den Verhältnissen, in die Flüchtlinge dort gezwungen werden, sowie zu den ersten Protesten im März 2019 unter anderem: „… Abiys Vater sei Mitglied der Oromo Liberation Front gewesen, einer Unabhängigkeitsbewegung in Äthiopien, und habe deshalb 19 Jahre im Gefängnis verbracht, sagt er. Das Regime habe auch Abiy selbst verdächtigt, Anhänger der Separatisten zu sein und ihn neun Jahre ins Gefängnis gesteckt. Schließlich hätten Soldaten seinen Bruder getötet. Abiy entschloss sich, das Land zu verlassen, er flog nach Khartum und von dort weiter nach Tripolis und wollte, wie so viele, nach Europa. Doch noch am Flughafen habe ihm die Polizei die 3.500 Dollar abgenommen, die er gespart hatte und ihn in ein Lager gesteckt. Im Juli 2017 war das. (…) Mit den Erinnerungen an die Misshandlungen ist er sich selbst überlassen. Psychologische Betreuung gibt es nicht. Zwei Monate nach seiner Inhaftierung erscheinen zum ersten Mal Mitarbeiter der UN. „Sie haben uns untersucht und Hoffnung gemacht“, sagt Abiy. Irgendwann sprachen sie davon, dass sie ihn herausholen könnten. „Nächste Woche kommst du vielleicht in die Freiheit“, hätten sie gesagt. Doch erst nach einem halben Jahr, am 27. Januar 2018, hat das UN-Flüchtlingswerk UNHCR Abiy aus dem Lager Triq Al Sekka in Tripolis befreit. Insgesamt 523 Menschen wurden an jenem Tag mit Bussen zum Flughafen gefahren, auf drei Boeings verteilt und ausgeflogen. Es gibt ein Bild aus jener Nacht, das der UNHCR veröffentlicht hat. Im Dämmerlicht der Flughafenhalle zeigt es einen Mann, der einen der UN-Mitarbeiter umarmt, voller Dankbarkeit, dass dieser ihn aus der Gefangenschaft geholt hat. (…) „Ihr seid hier nur im Transit. Drei Monate“, sagt er. „Das haben die UN-Leute uns damals gesagt. So lange müssten wir in Niger bleiben. Dann würden wir in ein Land gebracht, das uns aufnimmt.“ Abiy wurde registriert, acht Wochen nach seiner Ankunft, am 23. Februar 2018 habe ein kamerunischer UNHCR-Mitarbeiter ihn befragt, drei Stunden lang, auch nach seinen Foltererfahrungen in Libyen. Ein Dolmetscher für die Sprache Amharisch sei dabei gewesen. „Sie haben uns Hoffnung gemacht, aber wir haben nie erfahren, wie es weitergeht.“ Immer wieder sei er zu einem „General“ gegangen, sagt Abiy, und habe gefragt, was mit ihm geschehen soll. „Nie gab es eine Antwort.“ Denn die Zahl der Aufnahmeplätze ist begrenzt, die Asylverfahren oft langwierig. Abiy und andere fürchten nun, bald vertrieben zu werden. Also haben sie demonstriert, am 5. März war das, vor der französischen Botschaft. Sie wollten, was ihnen versprochen wurde: dass sie ausreisen dürfen. Was sie bekamen, war Tränengas…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=160295
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