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Die Krise in Italien ist vorbei. Zum x-ten Mal…

Krisengespenster in Italien auch 2016 nicht zu verscheuchenZahlreiche Regierungen hat Italien seit Ausbruch erst der Weltwirtschafts- und dann der Eurokrise 2007 / 2008 erlebt. Doch egal ob der Ministerpräsident Silvio Berlusconi, Mario Monti, Enrico Letta oder Matteo Renzi hieß, eines verband sie alle: die regelmäßige Mitteilung, die Krise sei vorbei. Dumm nur, dass sich die Wirklichkeit diesem Zweckoptimismus partout nicht anpassen wollte. Nach wie vor steckt das größte und wichtigste der als „PIGS“ geschmähten Länder Portugal, Italien, Griechenland und Spanien nämlich tief im Krisensumpf“ – so beginnt der Beitrag „Die Krise wegreden“ von Raoul Rigault, ursprünglich in kürzerer Fassung erschienen am 30. Dezember 2015 in der jungen Welt, hier in der vollständigen Fassung, wofür wir dem Autor danken!

Die Krise wegreden

„Italien ist zurück“, verkündet Regierungschef Matteo Renzi stolz. Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Und viele Wähler wenden sich ab.

Raoul Rigault

Zahlreiche Regierungen hat Italien seit Ausbruch erst der Weltwirtschafts- und dann der Eurokrise 2007 / 2008 erlebt. Doch egal ob der Ministerpräsident Silvio Berlusconi, Mario Monti, Enrico Letta oder Matteo Renzi hieß, eines verband sie alle: die regelmäßige Mitteilung, die Krise sei vorbei. Dumm nur, dass sich die Wirklichkeit diesem Zweckoptimismus partout nicht anpassen wollte. Nach wie vor steckt das größte und wichtigste der als „PIGS“ geschmähten Länder Portugal, Italien, Griechenland und Spanien nämlich tief im Krisensumpf.

Nun aber soll es endlich so weit sein. Roms Wirtschafts- und Finanzminister Pier Carlo Padoan ließ daran Ende Oktober keinen Zweifel: „Die jüngsten Ergebnisse in punkto Wirtschaftswachstum übertreffen alle Erwartungen. Die Beschäftigung ist gut, mit besseren Arbeitsverträgen.“ Geschuldet sei der Aufschwung der Binnennachfrage von Unternehmen und Konsumenten, dank des zurückgekehrten Vertrauens. „Italien steht unter den europäischen Staaten beim von Brüssel verbreiteten Vertrauensindex an erster Stelle.“ Es sei wieder „ein Land, wo es attraktiv ist, zu investieren“, weil „finanzielle und institutionelle Stabilität herrscht“.

Diese Sichtweise erschien selbst der Tageszeitung des Industriellenverbandes Il Sole – 24 Ore „rosarot“, auch wenn Confindustria-Präsident Giorgio Squinzi Anfang November „ein insgesamt positives Urteil“ fällte und meinte: „In Kürze wird Italien aus dem Tunnel sein.“

Tatsächlich scheint die jahrelange Rezession nach einem beispiellosen Schrumpfungsprozess fürs Erste überwunden. Zur Euphorie geben die Wachstumsprognosen allerdings keinen Anlass. Im abgelaufenen Jahr erwartet das Nationale Amt für Statistik ISTAT ein Plus von gerademal 0,7%. Drei Zehntel weniger als die Annahme der Regierung. 2016 und 2017 sollen es laut OECD jeweils magere 1,4% werden. Eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt wird daher bestenfalls im Schneckentempo stattfinden. Die EU-Kommission erwartet nur einen Rückgang der Arbeitslosenquote von 12,7% in 2014 über 12,2% in 2015 auf 11,6% in 2017.

Zu verdanken ist dies nicht zuletzt einer deutlichen Zunahme der Inaktiven. Die „stille Reserve“ schwoll im Jahresvergleich um 196.000 Personen bzw. 1,4% an. 2014 galten 783.000 Menschen als unterbeschäftigt, weitere 2,3 Millionen litten unter unfreiwilliger Teilzeitarbeit und die Zahl der Kurzarbeit Null entsprach 250.000 Vollzeitstellen. Traditionell hat Italien innerhalb der EU eine stark unterdurchschnittliche Erwerbsquote von Frauen. Obendrein betrug die Jugendarbeitslosigkeit im November immer noch 39,8%. Eine staatliche Beschäftigungsförderung findet so gut wie nicht statt. Für Qualifizierungsmaßnahmen und Arbeitsvermittlung gab Italien, ISTAT-Präsident Giovanni Aleva zufolge, 2013 nur 0,03% seines Bruttoinlandsproduktes aus. In Deutschland waren es 0,36% und in Frankreich 0,25%. Pro Erwerbslosen wurden in der Bundesrepublik staatlicherseits 2.800 Euro, in Frankreich 1.500 und in Italien kümmerliche 84 Euro aufgewendet. Im zweiten Quartal 2015 sagten in einer Umfrage des Instituts 88,9% der Befragten (und damit 2,3% mehr als 2014) sie suchten Arbeit vor allem auf informellen Wegen über Freunde, Bekannte und Verwandte.

Wie sich angesichts dessen das Vertrauen der Konsumenten entwickelt, bleibt abzuwarten. Die positiven Umfragen auf die sich der im Rahmen des „Marsches durch die Institutionen“ auf dem Ministersessel angekommene Alt-68er Pier Carlo Padoan bezog, profitieren allesamt von den um 0,4% gesunkenen Preisen und stammen aus der Zeit vor den Pariser Anschlägen vom 13.November 2015. Doch selbst darin überwiegen unter den Privatpersonen die Pessimisten die Optimisten um satte 20 Prozentpunkte. Bei den Unternehmern hellte sich die Stimmung infolge der wenig berauschenden Auftragslage nur minimal auf.

Besonders wenig erwartet der Handel und das ist nachvollziehbar, denn laut dem größten Gewerkschaftsbund CGIL haben, trotz rückläufiger Kurzarbeit, die in der Cassa Integrazione geparkten Arbeitskräfte 2015 zwei Milliarden Euro an Einkommen verloren. Im zweiten Quartal sanken die Löhne um 0,2% während sie im EU-Durchschnitt um 2,1% stiegen. 38% der abhängig Beschäftigten warten weiterhin auf eine Erneuerung ihrer Tarifverträge – im Durchschnitt seit 56,3 Monaten, also mehr als vier Jahre, darunter auch die Angestellten des Öffentlichen Dienstes. 2014 verfügten 22,3% der Italiener nur über ein geringes Einkommen, das heißt weniger als 9.600 Euro im Jahr. Acht Jahre zuvor waren es erst 19,6%. Der Armenanteil beträgt, dem ISTAT zufolge, sogar 28,3%, womit die drittgrößte Industrienation der EU, gleichauf mit Spanien, Kroatien und Portugal, hinter Rumänien (40,2%), Bulgarien (40,1%), Griechenland (36,0%), Lettland und Ungarn, an sechstletzter Stelle rangiert.

Am mangelnden Reichtum liegt es nicht, vielmehr an dessen Verteilung. Laut der Banca d’Italia besaßen die 5% Superreichen 2014 30% des gesamten Vermögens, die ärmsten 30% hingegen weniger als ein Prozent. Deshalb stieg der Anteil jener, die mit Mietzahlungen, Krediten oder Strom-, Gas- und Wasserrechnungen im Verzug sind, auf 14,3% – ein neuer Rekord. Die Zahl der Kündigungen bzw. Zwangsräumungen aus diesem Grund nahm um 5% zu. In den letzten zehn Jahren gaben die Familien 36,9% weniger für Transport, 30% weniger für Kleidung und 18,3% weniger für Freizeitvergnügen aus. Jeder Zweite es sich nicht mehr leisten, in Urlaub zu fahren. Und die Zahl derjenigen, die für medizinische Leistungen, insbesondere Zahnbehandlungen, wohltätige Organisationen aufsuchen müssen, wächst rasant, nicht nur im Süden, sondern auch in wohlhabenden Städten wie Mailand. Viele sehen keine Perspektive mehr. 131 Menschen begingen im ersten Halbjahr aus ökonomischen Gründen Selbstmord.

Während die soziale Misere der breiten Masse also anhält oder sich noch verschlimmert, kämpfen Staat und Wirtschaft mit strukturellen Lasten und ungelösten Problemen enormen Ausmaßes. Der öffentliche Schuldenberg wuchs im Oktober um weitere 19,8 Milliarden auf 2.211,8 Milliarden Euro und lag damit nur knapp unter dem historischen Höchststand vom vergangenen Mai. Von 2007 bis 2015 stieg die Staatsverschuldung von 100 auf 133% des Bruttoinlandsproduktes. Die Maastrichter Konvergenzkriterien der Europäischen Währungsunion sehen 60% als Obergrenze vor. Das Haushaltsdefizitziel fürs laufende Jahr wurde von der Regierung Renzi schrittweise von 1,8 auf 2,4% heraufgesetzt. Zuletzt mussten gar „Zusatzausgaben zur Terrorabwehr“ als Begründung herhalten.

Dabei werden nicht nur den Staatsbediensteten seit Jahren reale Lohnkürzungen zugemutet, sondern auch das öffentliche Gesundheitssystem systematisch kaputt gespart. Deren Betriebe haben Verluste von 33,7 Milliarden Euro angehäuft. Drei Viertel aller Geräte sind veraltet. Pro Einwohner werden im Jahr nur 60 Euro in diesem Bereich investiert. Gleichzeitig spült der Ausverkauf des verbliebenen Staatseigentums weniger Geld in die Kassen als erhofft. So erbrachte die Teilprivatisierung der Post nur 3,1 statt der geplanten 3,7 Milliarden Euro. Ähnlich dürfte es demnächst bei der Eisenbahn werden. Für die Aufrüstung ist allerdings genug Geld da. 13 Milliarden Euro werden für die Anschaffung von 90 US-Jagdbombern des Typs F-35 ausgegeben. Und bei Entwicklung von Kampfdrohnen liegt Italien in der NATO, nach den USA und Großbritannien, an dritter Stelle.

Bei den eher zivilen Großunternehmen steht dagegen eine weitere brutale Umstrukturierungswelle und teilweise Abwanderung auf dem Programm. Der Energiekonzern ENI will binnen drei Jahren 8.800 Stellen abbauen und sich mehr auf Auslandsaktivitäten konzentrieren. Die Telecom streicht 1.700 Jobs. ENEL will unter dem Strich 4.700 Mitarbeiter loswerden, um die operativen Kosten um eine Milliarde Euro zu senken, obwohl der Gewinn sich in diesem Jahr bereits auf drei Milliarden Euro versechsfacht. Die größte Privatbank Unicredit plant in den kommenden drei Jahren die Schließung von 800 Filialen und die Entlassung von 18.200 Leuten, 6.900 davon in Italien, aufgrund eines Kapitaldefizits von 7 Mrd. und „enttäuschenden Renditen“. Laut einer Untersuchung der Mediobanca hat der Umfang der „zweifelhaften Kredite“ in den letzten neun Jahren um 222% zugenommen. Diese schwierig oder unmöglich zurückzuzahlenden Darlehen belaufen sich inzwischen auf insgesamt 191,8 Mrd. Euro. Durch staatliche Intervention konnten in den letzten Wochen die Banca Marche, die Volksbank von Etruria und Lazio sowie die Sparkassen von Ferrara und Chieti unter „Blut und Tränen“ mit Mühe vor dem Zusammenbruch bewahrt werden.

Dem schwindenden Rückhalt in der Bevölkerung versucht der einst mit vielen Vorschusslorbeeren gestartete Matteo Renzi mit Steuersenkungen und etwas geringeren Kürzungsmaßnahmen entgegenzuarbeiten. Unter anderem soll die unpopuläre Immobiliensteuer IMU abgeschafft werden, die rund 80% aller Italiener zahlen müssen. Die Einsparungen werden auf sechs Mrd. Euro begrenzt. Ob das die Leute überzeugt, ist höchst fraglich.

Politisch schlägt sich der Frust bislang vor allem zugunsten der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) des ehemals linken Komikers Beppe Grillo nieder, der mit einer Mixtur aus Attacken gegen die Politikerkaste, linken sozialen Forderungen und rechten Ressentiments gegen Migranten auf Stimmenfang geht. Den Umfragen des Forschungsinstituts IPSOS für den bürgerlichen Corriere della Sera zufolge konnte M5S von Januar bis Dezember von 20,9% auf 29,1% zulegen, während Renzis Demokratische Partei (PD) von 34,3 auf 31,2% sank. Die rechtsradikale Lega Nord verbesserte sich leicht von 13,5 auf 14,3% und überflügelte damit Silvio Berlusconis Forza Italia, die von 14,3 auf 10,8% absackte. Das Vertrauen in die Regierung sank um vier Prozent, das persönliche Vertrauen in Renzi parallel dazu um 9% von 47 auf 38%. Auf der Linken kommt die neu gegründete Sinistra Italiana nur auf 3,4% und Rifondazione Comunista auf 1,0%.

In Stichwahlen zwischen PD und M5S würde Grillos Movimento demnach mit fünf Prozentpunkten Vorsprung gewinnen, da viele Lega-Anhänger und ein Drittel der FI-Wähler in diesem Fall dort ihr Kreuz machen wollen. Bei einem Duell PD gegen Rechte, wäre Erstere in der Regel erfolgreich, da sich dann 40% der M5S-Basis enthielten, 35% für die Demokraten stimmten und nur ein Viertel für die Rechte votierten. Eine gute Momentaufnahme von Bewusstseinsstand und Orientierung des aktuellen Protestpotentials in Italien.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=91700
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