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Updated: 18.12.2012 15:51
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Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags, Platz der Republik 1, 11011 Berlin

Von Armin Kammrad, Augsburg

21.08.2006

Betrifft: Pet 4-16-11-81503-006422 (Arbeitslosengeld II)

Sehr geehrter Herr XXXXX,

vielen Dank für die Zusendung der Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 1. August 2006.

Sie fordern mich auf, mich möglichst konkret zu äußern, falls ich trotz dieser Stellungnahme noch Bedarf für eine parlamentarische Überprüfung sehe. Mein Eindruck ist, dass wohl vom Petitionsausschuss nicht allen Ernstes angenommen werden kann, dass nach dem Weiterreichen der Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sich eine eigenständige Überprüfung nach dem Petitionsgesetz zu Artikel 45c Grundgesetz erübrigen würde. Bekanntlich sichert dieses Gesetz dem Petitionsausschuss weitreichende Kompetenzen für eine eigenständige Prüfung von Beschwerdeangelegenheiten zu.

So bestehen die ersten beiden Seiten der Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nur aus der Aneinanderreihung von Allgemeinplätzen, ohne jeden Bezug zur gesellschaftlichen Realität; diese bleibt völlig ausgeblendet. Teilweise werden sogar reine Absichtserklärungen für die Zukunft abgegeben ("Das wird aber sozial ausgewogen geschehen", S.2 BMAS, "Zu dieser Anstrengung will die Bundesregierung Mut machen", S.2 BMAS, usw. usf.). Dieses Verhalten stößt besonders dann unangenehm auf, wenn - wie im Falle meiner Petition - eine Behandlung als öffentliche Petition abgelehnt wurde, weil sie ang. "zu pauschal" sei (vgl. Schreiben unter Pet 4-16-11-81503-00642), das völlig unkonkrete Gerede des BMAS vom Petitionsausschuss zu meiner Beschwerde jedoch als scheinbar völlig ausreichend empfunden wird.

Vor allem frage ich mich: Was "verkenne" ich (S.1 BMAS) eigentlich an der Politik der Bundesregierung? Das BMAS bezeichnet die Zerstörung des Sozialstaates als Anpassung "an die aktuellen Herausforderungen" (a.a.O.); das ist der einzige Unterschied, der für mich erkennbar ist. Denn nicht die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte, nicht die Verteidigung des Sozialstaates, sondern die "Veränderungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft müssen zum Ausgangspunkt genommen werden" (S.2 BMAS). Deutlicher kann man kaum sagen, dass die sog. "Arbeitsmarktpolitik" sich zuerst an den Renditeerwartungen der Wirtschaft orientiert; die Orientierung an das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes wird dem also eindeutig nachgeordnet. Ja, es gibt hier eine ziemlich konkrete Aufgabenstellung für die Parlamentarier:

Es scheint mir unabdingbar, zu untersuchen, wer hier dem BMAS eigentlich die Feder führt; wer also die Ideologie, welche in der Stellungnahme zum Ausdruckt kommt, eigentlich liefert.

So nahm Ian Davis, Weltchef von McKinsey, vor kurzem bei einem Interview mit dem Manager-Magazin (im Internet unter manager-magazin-online am 11.08.2006 zu finden) zur wachsenden Kapitalismuskritik Stellung und unterbreitete, die von McKinsey besonders für Großunternehmer ausgearbeitete Strategie für Corporate Social Responsibility (CSR). Ist die Ähnlichkeit der Argumente zwischen McKinsey und dem Bundesministeriums für Arbeit und Soziales purer Zufall? Oder bestimmen die Unternehmensberater mittlerweile komplett die Gesetzgebung und herrschende Politik in Deutschland?

Es gibt zu dieser Problematik mittlerweile auch eine umfangreiche Literatur. Jürgen Roth spricht in seiner Analyse "Der Deutschland Clan" z.B. von einem "engmachige(n) Netzwerk aus hochrangigen Politikern, führenden Konzernchefs und toleranten Justizbehörden, die systematisch und übergreifend mit kriminellen Methoden den Rechtsstaat aushöhlen"; um nur ein Buch zu nennen, was sich damit beschäftigt, wie Politik und Gesetzgebung in Deutschland derzeit gemacht werden.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der zweite Teil der Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, in der es um die von mir kritisierte Entrechtung von ALG II-Beziehern geht. Auch hier bestätigt das Bundesministerium nur meine Kritik, wenn es von der Sache her nun auch konkreter wird.

So stimmt es, dass nach Art. 34 Grundgesetz eine verfassungsrechtliche Amtshaftung des Staates festgeschrieben ist. Doch was nützt dieser Grundsatz den Betroffenen, wenn der Gesetzgeber den daraus abzuleitenden Auftrag nicht wahrnimmt? Das gesamte SGB II enthält (mit Ausnahme vielleicht der Eingliederungsvereinbarung als öffentlich-rechtlicher Vertrag) nichts, auf dessen Grundlage der durch rechtswidrige Verstöße Betroffene sein Recht durchsetzen könnte. Schlimmer noch: Obwohl dem Bundesministerium nach § 47 SGB II die Fachaufsicht über die Agenturen obliegt, ist mir bisher kein Fall bekannt, in dem sie bei den massenhaften Rechtsverstößen der Agenturen jemals aktiv geworden ist. Rechtsverstöße beseitigten die Gerichte in allen mir bekannten Fällen ohne Aktivitäten der Regierung. Faktisch sind die Sozialgerichte heute gegen einen Gesetzgeber tätig, der aus politischer Motivation (vgl. allgemeinen Teil der Stellungnahme des BMAS) als Große Koalition für die Steigerung der Rendite auf Kosten des Sozialen den Sozialstaat soweit wie möglich zerstört.

Die Amtshaftung nach § 839 BGB ist nicht nur kompliziert gegen den Pflichtverletzenden zu realisieren und ohne gute anwaltliche Vertretung überhaupt nicht umzusetzen, deren Realisierung schließt das SGB II auch explizit aus. So fehlt im Regelsatz ein Posten für Rechtsdurchsetzung. Und zivil- und verwaltungsrechtliche Ansprüche werden vom SGB II her auch nicht als außerordentlicher Mehraufwand akzeptiert. Dies wäre von Seiten des Gesetzgebers allerdings zu gewährleisten, soll der Betroffene überhaupt eine Chance haben, sein Recht nach § 839 BGB zu bekommen. Was im Sinne der Amtshaftung nach § 839 BGB als "vorsätzlich" und "fahrlässig" einzustufen ist, lässt sich rechtsrelevant sowie so nur gerichtlich eindeutig klären. Dies verhindert der Gesetzgeber, in dem er Recht hier zu einer Frage des Geldes macht: Da der von Prozesskostenhilfe Abhängige stets auf den für den Staat kostengünstigen Weg verwiesen wird, entfällt für alle, die nichts haben, um teure Zivil- und Verwaltungsprozesse zu führen, die Klage nach § 839 BGB.

Ebenso verfehlt der Hinweis auf die Möglichkeit einer Dienstaufsichtsbeschwerde den erforderlichen Rechtsschutz von ALG II-Beziehern gegen Amtsmissbrauch, da es sich hier nur um eine rechtlich unverbindliche Verwaltungspetition an die nächsthöhere Stelle handelt. Diese könnte zwar über ein Disziplinarverfahren entscheiden, muss dies jedoch nicht tun, besonders dann nicht, wenn die nächsthöhere Stellung den Amtsmissbrauch decken will oder sogar die beanstandete Anweisung selbst gab. Zur Stärkung der Rechte der von Amtsmissbrauch Betroffenen, hilft keine Individualisierung des "eigentlich" Schuldigen in den "unteren Etagen" der Verwaltung, sondern nur eine Gesetzgebung, die definitiv ALG II-Abhängigen Rechte einräumt. Daran fehlt es völlig.

Der Nachweis schuldhafter Pflichtwidrigkeit scheitert besonders dann, wenn die gesetzgeberische Politik selbst rechtswidriges Verhalten propagiert (vgl. z.B. den sog. "Clement-Report" vom letzten Jahr) und wenn von Gericht und Öffentlichkeit aufgedeckte Gesetzesverstöße (wie z.B. die vom Bundesrechnungshof jüngst beanstandete rechtswidrige Vergabe von 1-Euro-Jobs) nicht zum Anlass genommen wird, solche Gesetzverstöße der ARGEN durch entsprechende Gesetze möglichst effektiv auszuschließen. Auch die Antwort des BMAS auf meine Forderung nach mehr Rechtssicherheit für Arbeitslose beweist doch, wie wenig die Verantwortlichen an der Beseitigung von Amtsmissbrauch interessiert sind.

Die Entrechtung von ALG II-Abhängigen betrifft vor allem die von mir kritisierten Beseitigung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch nach § 39 SGB II. Dadurch wird der Amtsmissbrauch entscheidend gefördert. Dienstaufsichtsbeschwerde und Klagen nach § 839 BGB werden so für die Betroffenen nämlich auch zur existenziellen Frage. Denn wer tatsächlich von Amts wegen vorsätzlich pflichtwidrig handelt, bekommt mit der Regelung von § 39 SGB II vom Gesetzgeber ein gutes Mittel an die Hand, durch Sanktionsandrohung sein Gegenüber davon abzuhalten gegen ihn rechtliche Schritte einzuleiten. Denn es ist nicht anzunehmen, dass derjenige, der gegen ALG II-Abhängige vorsätzlich rechtswidrig vorgeht, nicht die Chance nutzt, dies durch weitere rechtswidrige Kürzungen, Streichungen bzw. extremer "Verfolgungsbetreuung" fortzusetzen. Die Erfahrungen von Erwerbsloseninitiativen bestätigen dies immer wieder: Wer zu selbstbewusst gegen die Verantwortlichen der ARGEN auftritt, wird ohne Federlesen als Quertreiber eingestuft, der "sicher nicht arbeiten will" - und irgendeine Zumutung ist schnell gefunden, um Unterstützung streichen zu können.

§ 39 SGB II fördert und unterstützt nicht nur Amtsmissbrauch, sondern setzt für Arbeitslose unmittelbar die grundgesetzliche Rechtswegsgarantie weitreichend außer Kraft. Der vom BMAS am Schluss erwähnte einstweilige Rechtsschutz nach § 86b SGG, stellt demgegenüber keinen wirksamen Rechtsschutz für die Betroffenen dar, weil der verantwortliche Gesetzgeber sich in seiner ureigensten Verantwortung für Gleichheit vor dem Gesetz zu sorgen, völlig zurücknimmt und nur noch (bestenfalls als Antwort auf Kritik) auf eine Art verfassungsrechtlichen Minimalschutz verweist (vgl. S.3-4 BMAS).

Die Sonderbehandlung von Arbeitslosen durch deren Ausschluss von der Regelung nach § 86a SGG, welche im SGB II noch gegenüber SGB III verschärft wurde, stößt auch von maßgeblicher juristischer Seite auf Kritik. So schreiben Eicher und Spellbrink (beides Richter am Bundessozialgericht) in ihrem Kommentar zu §39 SGB II: "Unter Gleichheitsgesichtspunkten (Art 3 Abs 1 GG) ist dies problematisch" (Rdnr.3). Sie fordern deshalb eine "großzügige Aussetzung der Vollziehung" (a.a.O.). Statt dieser Forderung nachzukommen, macht der Gesetzgeber ALG II-Abhängige auch weiterhin zum weitgehend schutzlosen Objekt von Schikane und verfassungswidrigen Verhalten durch die ARGEN.

Diese rechtliche Sonderbehandlung für ALG II-Bezieher soll noch dazu weiter verschärft werden. Geplant ist eine Art "Eintrittsgeld" zum Sozialgericht, was die Betroffenen zahlen sollen, bevor das Gericht überhaupt einen Finger rührt. Ferner soll die Anspruchnahme der Prozesskostenhilfe erheblich erschwert werden.

Das Argument ist immer gleich: Die Gerichte sollen entlastet werden, indem man den entrechteten ALG II-Abhängigen es immer mehr erschwert, Recht zu bekommen; die Entlastung besteht dann darin, dass die hilflosen, ängstlichen, durch Wirtschaft und Staat Eingeschüchterten, nicht das Recht bekommen, was sie erhalten würden, nähme der Gesetzgeber sein Sozialstaatsgebot und den Art. 1 Grundgesetz, d.h. den staatlichen Schutz dieser hilfsbedürftigen Menschen, tatsächlich ernst.

Dabei stellt sich immer eindeutiger heraus, dass es die für die Betroffenen extrem nachteilige Gesetzeslage ist, die rechtswidriges Verhalten erst im großen Umfang erleichtert und damit die Sozialgerichte über Gebühren belasten. So stiegen 2005 die Anträge auf Einstweiligen Rechtsschutz bei den Sozialgerichten durch die Hartzgesetzgebung auf das Rekordniveau von 70.000. Die verfassungsrechtlich gebotene Beseitigung der Sonderregelung von § 39 SGB II würde die Gerichte allein schon deshalb entlasten, weil Amtsmissbrauch durch die ARGEN nicht mehr diese existenzbedrohende Wirkung entfalten könnte und sich deshalb nicht mehr so lohnen würde wie bisher.

Als reinen "Scherz" kann ich nur den Hinweis des BMAS verstehen, dass der von Kürzungen und Streichungen Betroffene die Möglichkeit hätte, "einen Antrag auf Stundung zu stellen". Ja, das kann er zwar machen, aber wo sind im Gesetz die Voraussetzungen geregelt, wann der Betroffene auf Stundung einen Rechtsanspruch hätte? Viel mehr ermöglicht bereits das § 331 SGB III (worauf sich § 40 SGB II ausdrücklich bezieht), eine vorläufige Zahlungseinstellung für zwei Monate, z.B. nach (realen oder erfundenen) Angaben irgendeines Nachbarn, dem die Nase des Arbeitslosen nicht gefällt. Der Betroffene darf sich dann zu den gegen ihn vorgetragenen Kürzungsgründen "äußern" (§ 331 SGB III). Für eine Klage wegen fehlender Sorgfaltspflicht und sachlich unbegründeter Entscheidung nach § 839 BGB, fehlt jedoch das nötige Geld. Außerdem wird man bei der Hetze gegen Arbeitslose gegenwärtig bestimmt irgendeinen Nachbar finden, der bestätigt, dass er gemeint hat, dass seiner Meinung nach beim Arbeitslosen X, was nicht stimmen kann. Warum? Na, wer weiß das schon so genau.

Die Stellungnahme des BMAS widerlegt also nicht meine Behauptung von einem Zwei-Klassen-Recht, sondern bestätigt sie. Ändern will man daran sowie so nichts. Die ganze sog. "Fortentwicklung von SGB II" baut darauf auf, dass rechtwidriges Verhalten nur bei den ALG II-Bezieher anzunehmen sei, was allein schon ein verfassungswidriges Vorgehen darstellt. Denn die Rechtsbrüche der staatlichen Stellen selbst werden völlig ignoriert, sind eben für den Gesetzgeber "nicht existent".

Die Betroffenen werden auch dadurch völlig hilflos gestellt, dass sie Unterstützung - wenn überhaupt - nur noch außerhalb der regierenden Politik erhalten können. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass die Bundesregierung zugunsten einer neoliberalen Wirtschaftsideologie das Sozialstaatsgebot aufgegeben, den Sozialstaat "reformiert", konkret: ausschließlich an Renditeinteressen angepasst hat. Dies führt zu Angst und Ohnmacht bei den Opfern, welche sich immer häufiger sogar in solch makabren Verhalten darstellt, wie tätliche Angriffe auf Sachbearbeiter oder - wie jüngst in Frankfurt/Oder - durch Selbstmord eines ALG II-Abhängigen. Fehlende Sozialstaatspolitik ist gleichbedeutend mit fehlendem staatlichem Schutz vor Existenzerstörung, macht die Gesellschaft krank.

Mit freundlichen Grüßen
(Armin Kammrad)


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