Intermezzo: Bildung und Individualismus – Oder: Wie wir uns Tag für Tag selbst an der Nase herumführen

Matthias Burchardt: Wider die neoliberale Zurichtung des Menschen„Bildung. Ein großes Wort. Oft wird sie gefordert. Wir haben Bildungspolitiker, Bildungsaufträge, etwas altmodisch anmutend auch Bildungsanstalten, so wie es früher einmal Badeanstalten gab. Aber was heißt Bildung? Wofür brauchen wir sie? (…) Im heutigen Gesetz für die Hochschulen findet sich immerhin Artikel 1.3, in dessen fünften Absatz es heißt: „Die Universitäten, … Hochschulen und die Offene Universität schenken auch der persönlichen Entfaltung und der Förderung des persönlichen Verantwortungsgefühls Aufmerksamkeit.“ Wobei das mit dem „heutigen Gesetz“ nicht ganz stimmt. Dies war die Version vom 1. September 2010. Seit 1. Februar 2018 ist dieser Teil vorübergehend außer Kraft gesetzt. In der in Zukunft in Kraft tretenden Fassung des Artikel 1.3 wird ausgeführt, was es mit dem „persönlichen Verantwortungsgefühl“ auf sich hat: „Die Förderung des persönlichen Verantwortungsgefühls beinhaltet zumindest, dass die Bildungseinrichtungen, einschließlich ihrer Repräsentanten, sich diskriminierender Verhaltensweisen und Äußerungen enthalten.“ Aha. Dadurch, dass Menschen etwas nicht tun, fördern sie das Verantwortungsgefühl der Studierenden?! Aufschlussreicher als der Gesetzestext sind in der Regel aber die Gesetzesbegründungen. Und in dem immerhin mehr als 300-seitigen Begründungstext aus dem Jahr 2006 heißt es, dass den Verpflichtungen aus Artikel 1.3 zumindest auch im Unterricht nachgekommen werden muss. Denn, jetzt kommt es: „Die Studenten müssen die Möglichkeit bekommen, sich so zu entwickeln, dass sie nach dem Abschluss ihrer Ausbildung für den Arbeitsmarkt bereit sind“ (S. 315). (…) Damit sehen wir auch den ganzen Haken an der Sache: Unsere heutige Gesellschaft braucht für ihr ökonomisch-ideologisches Rückgrat vor allem Menschen, die ökonomisch, am Arbeitsplatz, in der Familie und in der Schule funktionieren. Alles ist vom Pragmatismus beherrscht, der eigentlich blanker Opportunismus ist. Bildung und damit kritisches Nachfragen steht dem nur im Wege. (…) Dennoch sagt man, alles drehe sich ums Individuum. Das möge man ja einmal probieren, mit seinen ganz eigenen Werten und Vorstellungen zu leben – und damit bei anderen anzuecken. Die werden das wohl eher nicht als Ausdruck von Freiheit willkommen heißen, sondern vielmehr als störende Extrawurst geißeln. „Individualismus“ heißt bei uns heute, sich mit dem Erwerb von Konsumgütern einschließlich Nahrung und Reisen so zu inszenieren, dass alle sehen, dass man zum wohlhabenden Teil der Gesellschaft gehört. Wären wir wirklich gebildet, dann wüssten wir mit den antiken Philosophen, dass Konsum und Besitz unserem Leben keinen höheren Sinn verleihen. Dann würden wir auch nicht so viel für den Erwerb von Statussymbolen arbeiten. Dann würden wir auch nicht einfach so hinnehmen, dass in dieser Gesellschaft das Prinzip „Arbeit muss sich lohnen“ durch Steuerschlupflöcher und ein sozial ungerechtes Erbrecht krass verzerrt wird: Wer hat, dem wird gegeben…“ Beitrag von Stephan Schleim vom 16. Februar 2019 bei Telepolis externer Link

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