Zwangserspartes Gnadenbrot: Die Rentenversicherung wird 130 – ein Grund zum Feiern? Bilanz einer »sozialen Errungenschaft«

DGB-Rentenkampagne 2017„Am 24. Mai 1889 verabschiedete der deutsche Reichstag mit knapper Mehrheit die Einführung einer Alters- und Invaliditätsversicherung. Auch wenn es noch zwei Jahre dauerte, bis die gesetzliche Rentenversicherung in Kraft trat, kennzeichnet dieses Datum die Geburtsstunde der Rente für die lohnabhängig Beschäftigten in Deutschland. Was die Rentner 130 Jahre später davon haben und wie sie damit über die Runden kommen (oder auch nicht) ist Lesern dieser Zeitung hinlänglich bekannt. Anlass genug für eine kritische Bilanz. (…) 1881 kündigte Kaiser Wilhelm in einer »Kaiserlichen Botschaft« ein grundsätzliches Umdenken in der Politik des neuen deutschen Reichs an: »Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.« (…) Diese Schäden sind so umfassend und von einer Art, dass sie »allein durch Unterdrückung« nicht aus der Welt zu schaffen sind – ein bemerkenswert offenes Wort des Kaisers! Es verrät, was zunächst einmal das staatliche Allheilmittel war und ist: Verbote von Störungen und bei Zuwiderhandlung gewaltsames Niederschlagen. Weil das nicht mehr ausreicht, weil die eingetretene Lage nach Einschätzung des Reichs »ausschließlich(!) im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen« nicht mehr zu bewältigen ist, sahen sich Kaiser und Regierung zu einem neuen Umgang genötigt: Eine »positive Förderung des Wohles der Arbeiter« sollte und musste zur Repression hinzutreten. Ohne eine sozialdemokratische Partei, die sich mit ihren Protesten störend bemerkbar machte, hätte der nun beginnende Aufbau einer Sozialversicherung also weiter auf sich warten lassen – auch das ist der kaiserlichen Botschaft zu entnehmen. (…) Nicht richtig wiederum ist der Umkehrschluss, den Gewerkschaften und Sozialdemokratie im nachhinein gerne vorbringen: Dass die nun einsetzende Sozialpolitik, nur weil sie gegen einen widerwilligen Staat zu einem Gutteil erzwungen wurde, auch schon im Sinne der Lohnabhängigen sei. Die konstruktive Wendung – »die positive Förderung des Wohles der Arbeiter« – gibt es, weil und soweit sie der Staatsführung für ihre Zwecke einleuchtet, soweit sie also volkswirtschaftlich und staatlich nützlich ist. An den Regelungen der gesetzlichen Rentenversicherung zeigt sich geradezu exemplarisch, dass die sozialpolitische Betreuung lohnabhängig Beschäftigter in Notlagen etwas anderes ist als die Überwindung ihrer Probleme…“ Beitrag von Renate Dillmann und Arian Schiffer-Nasserie in der jungen Welt vom 24. Mai 2019 externer Link

  • Im vergangenen Oktober erschien von ihnen im Hamburger VSA-Verlag „Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung. Ökonomische Grundlagen – Politische Maßnahmen – Historische Etappen“, 304 Seiten, 19,80 Euro
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=149344
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