Menschen ohne Krankenversicherung: Durchs Raster gefallen

Medizin und ÖkonomieHunderttausende Menschen in Deutschland sind laut Schätzungen nicht krankenversichert. Dabei gibt es eine Versicherungspflicht. Mit einer Kundgebung will der Verein „Ärzte der Welt“ darauf hinweisen. (…) Schätzungen zufolge sind zwischen 80.000 und mehreren Hunderttausend Menschen in Deutschland ohne zureichenden Krankenversicherungsschutz. Die Zahlen sind schwer zu verifizieren, die Dunkelziffer dürfte noch viel höher sein. Dabei gibt es seit 2007 in Deutschland eine Krankenversicherungspflicht. Betroffen sind beispielsweise zahlreiche Solo-Selbstständige, weil sie sich selbst in der Gesetzlichen Krankenversicherung den Beitrag nicht leisten können. Viele kommen mit ihrem Einkommen gerade so über die Runden, der Mindestbeitrag in der GKV von über 300 Euro ist da nicht mehr drin. Die Folge sind Beitragsschulden und ein nur sehr eingeschränkter Versicherungsschutz. (…) Eine weitere Gruppe von Betroffenen sind Menschen ohne Papiere, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben. Auch solche mit abgelehntem Asylbescheid fallen darunter. (…) Und auch EU-Bürger, die wegen der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland auf Arbeitssuche sind, haben keinen Anspruch mehr auf ausreichende Krankenversorgung…“ Beitrag von Sandra Stalinski vom 20. März 2018 bei Tagesschau.de externer Link. Siehe dazu:

  • Ohne Krankenversicherung – in einem Wohlfahrtsstaat wie unserem? Mehr als 60.000 Deutsche sind betroffen. Wenn sie erkranken, gibt es spezialisierte Anlaufstellen New
    „Erst wenn es gar nicht mehr anders geht, sagt Koordinatorin Carola Wlodarski, kämen die Menschen zu ihr und ihrem Team in die Sprechstunde: wenn es irgendwo wehtut, blutet oder juckt. Zuvor sei die Scham ihrer Patienten einfach zu groß. Und auch die Angst vorm Auffliegen hindere viele daran, durch die Eingangstür des blau gekachelten Ärztehauses Mitte in Jena zu gehen. Den Schildern folgend, vorbei an Physiotherapie, Allgemeinmedizin und Gastroenterologie. Jenem Gesundheitsmikrokosmos, den es so oder so ähnlich in Ärztehäusern im ganzen Land gibt. Doch deren Behandlungen meiden die Patienten von Wlodarskis Team lieber. Im schlimmsten Fall so lange, bis es keine Heilungschancen mehr für sie gibt. Es ist Donnerstag, 10 Uhr und Beginn der Sprechstunde beim Verein AKST – dem Anonymen Krankenschein Thüringen. Rote Polsterstühle und bunte Flyer auf Arabisch bis Türkisch schmücken das sonst noch karge Wartezimmer. Der Verein ist erst vor Kurzem aus den Kellerräumen der Augenklinik ausgezogen und hat im dritten Stock des Jenaer Ärztehauses ein neues Zuhause gefunden. (…) Damit soll das Anliegen des AKST mehr ins geographische und gesellschaftliche Zentrum rücken: die medizinische Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung. Laut Zahlen des Statistischen Bundesamtes betraf das im Jahr 2019 etwa 61.000 Personen in Deutschland. Die Dunkelziffer ist groß, manche Schätzungen gehen von 500.000 Betroffenen aus. Es sind Zahlen, die es in einem Wohlfahrtsstaat mit Solidarprinzip und allgemeiner Versicherungspflicht nicht geben sollte. Und doch dürfte die Anzahl von Betroffenen wegen der Corona-Krise wohl eher gestiegen sein. (…) Aber ist es wirklich so einfach, in Deutschland durch alle Raster zu fallen? „Wir unterscheiden unsere Patientinnen und Patienten nach Herkunft“, sagt Wlodarski. Das heißt: deutsche Staatsangehörige, EU-Bürger und Drittstaatler. Alle drei Gruppen hätten in Sachen Gesundheitsversorgung ihre spezifischen Probleme. „Trotzdem lässt sich das größte gemeinsame Risiko zusammenfassen“, sagt die Koordinatorin: „Armut.“ (…) Sowohl der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als auch der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau haben Deutschland dazu aufgefordert, das Aufenthaltsgesetz so zu verändern, dass Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus angstfrei zum Arzt gehen können. (…) Angst, entdeckt zu werden, kennt Ahmed allzu gut. Deutschland ist nicht seine erste Station in Europa, seit er sein Geburtsland Marokko verlassen hat. Eine Zukunft für sich habe er dort genauso wenig gesehen wie eine legale Möglichkeit zur Migration. Wie schafft man es, in all den Jahren unentdeckt zu bleiben? „Ich verhalte mich unauffällig“, sagt Ahmed. Größere Menschenmengen wie Demonstrationen oder Feste, bei denen ihn die Polizei kontrollieren könnte, meidet er. An Geld kommt er durch Aushilfsjobs, direkt auf die Hand. Und ein Dach über dem Kopf, so erzählt er, finde er bei Freunden. Ohne Hilfe von außen geht es nicht. (…) Wlodarski sieht den Staat in der Pflicht. Gesundheitsversorgung sei schließlich ein Menschen- und Grundrecht. Egal, aus welchem Grund Personen keine Versicherung haben oder wie ihr Aufenthaltsstatus lautet. Belege, dass kostenlose und geschützte Behandlungen Anreize zur Illegalität liefern, sind ihr nicht bekannt. „Die Leute sind schon da“, sagt Wlodarski: „Durch uns werden sie nur sichtbar.“ Recherche von Anna-Theresa Bachmann vom 8. März 2022 in der FAZ online externer Link
  • Unterlassene Hilfe: Trotz gesetzlicher Pflicht steigt Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung rasant. Betroffen sind vor allem Migranten und deren Kinder 
    „Seit 2007 muss sich jeder Nichtselbständige in der Bundesrepublik gesetzlich krankenversichern. Zwei Jahre später führte der Bundestag eine allgemeine Versicherungspflicht ein. Doch die Zahl der Menschen, die keinen Schutz im Krankheitsfall haben, steigt trotzdem rasant. Binnen vier Jahren hat sie sich fast verdoppelt. Das geht aus dem aktuellen Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes für 2019 hervor. Zu den Ergebnissen hatte Sabine Zimmermann, Sozialexpertin der Partei Die Linke im Bundestag, eine kleine Anfrage gestellt. Waren demnach im Jahr 2015 noch knapp 80.000 Personen betroffen, waren 2019 bereits rund 143.000 Menschen nicht bei einer Kasse gegen Krankheit abgesichert – Tendenz steigend. Damit nahm die Zahl der Nichtversicherten um fast 80 Prozent zu. In zwei Dritteln aller Fälle betraf es männliche Personen. Auch 13.000 Kinder und 7.000 Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren gehörten dazu, das sind 14 Prozent. Außerdem waren nach Hochrechnung des Bundesamtes im vergangenen Jahr rund 15.000 Soloselbständige und 27.000 Minijobber nicht krankenversichert. Das wachsende soziale Problem macht die strukturelle rassistische Ausgrenzung sichtbar. 66.000 nicht Versicherte, also fast die Hälfte, führen die Statistiker unter der Rubrik »Ausländer«. Dabei dürfte es sich vor allem um arbeitssuchende EU-Bürger, oft Sinti und Roma, handeln. Hintergrund ist ihr fehlender Anspruch auf Grundsicherung jeder Art, was eine Sozialversicherung mit sich brächte. Mit dem »EU-Bürger-Ausschlussgesetz« hatte die Bundesregierung ihre Lage 2016 wesentlich verschärft. (…) Kein Geheimnis ist, dass auch lange in der Bundesrepublik lebende Menschen mit Migrationshintergrund besonders oft arm sind und schlechtere Chancen haben. Mit rund 81.000 Betroffenen stellen sie auch den überwiegenden Teil der nicht Versicherten. Alle 13.000 betroffenen Kinder unter 15 Jahren oder ihre Eltern haben den Daten zufolge ausländische Wurzeln…“ Artikel von Susan Bonath in der jungen Welt vom 15. August 2020 externer Link
  • Siehe auch im LabourNet Germany:
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=129687
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