Kassenmedizin-Atlas für Deutschland

Nach sieben Jahren Finanz-, Real- und Budgetkrise zeigt sich deutlich, dass das Austeritykonzept der Krisenbewältigung, also Kürzen des Sozialkonsums und Aufbrauch des Sozialkapitals insbesondere in den Gesundheitssystemen der Länder der EU praktiziert wird. Selbst in so wirtschaftsstarken Regionen wie der Autonomen Provinz Bozen – Alto Adige soll nun auf massiven Druck der Regierung in Rom die geografisch erforderliche dezentrale Ambulant- und Stationärversorgung dezimiert und zentralisiert, d.h. ökonomisiert werden. Insbesondere in Deutschland wird in den nächsten Jahren durch den EUFiskalpakt, die Schuldenbremse und die Finanzausgleichsreform die notorisch unterfinanzierte Krankenhausversorgung noch weiter unter Druck geraten. Gleichzeitig verschlechtert sich die bevölkerungsnahe Allgemeinarztversorgung aus Demografie- und aus Gendergründen dramatisch. Dabei gibt es große Abstände zwischen gesundheitlich unterversorgten Regionen und gesundheitlich überversorgten Regionen. Die komplexen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Wirtschaftsentwicklung, Finanzpolitik, Sozial- und Gesundheitspolitik und Regionalsituation könnten mit Hilfe der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialkartografie für die Öffentlichkeit transparenter gemacht werden…“ Studie von Markus Steinmetz von 2014  in der Reihe Gesamtwirtschaft, Raumordnung und Sozialsicherung der Akademie und Institut für Sozialforschung Verona

  • Aus dem Text: „…Die vor zwei Jahrzehnten von der damaligen christlich-liberalen Bundesregierung gesetzlich verankerte Beitragsdeckelung in der Gesetzlichen Krankenversicherung und die ihr vorausgegangenen bzw. sie begleitenden Leistungskürzungen in der Gesundheitsversorgung, bezeichnet als „Kostendämpfung“, waren ein zentrales Element der Politik der Lohnquotensenkung. Diese sollte, so wurde argumentiert, durch direkte Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer und durch politische Neben- Lohndeckelung durch den Gesetzgeber die Weltmarktposition der deutschen Exportbranchen auch im Bereich der Kosten und Preise weiter stärken. Das mit diesem Konzept verbundene schwache Inlandswachstum und Zurückbleiben der Massensteuern wie Lohnsteuer und Mehrwertsteuer wurde noch durch die mit den wachsenden Exportüberschüssen verbundenen Mehrwertsteuerausfälle verstärkt. Die Zweckentfremdung von erheblichen Anteilen der ihrerseits gedeckelten Beitragsaufkommen der Gesetzlichen Krankenversicherung für Aufgaben der Allgemeinpolitik und des Staatshaushaltes durch Verschiebebahnhöfe und Versicherungsfremdleistungen sind neben der Instrumentalisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung zur Lohnquotensenkung die andere entscheidende Funktionalisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung für die Förderung des Geschäftsmodells Deutschland – diesmal als „Gegenfinanzierung“ für eine jahrzehntelange Politik der Steuersenkung für Unternehmen, Hocheinkommen und Vermögen. Umgekehrt ist die seit Jahrzehnten insbesondere im Bereich der stationären Versorgung, d.h. der Akutkrankenhaus-, Rehaklinik- und Pflegeheimversorgung betriebene Desinvestitionspolitik und Budgetierung wegen der hohen Beschäftigtenzahlen und Lohnquoten in diesem Bereich ein entscheidender Beitrag zur Schwächung der Inlandsnachfrage. Gleichzeitig dient die forcierte Privatisierung und Kommerzialisierung der Erschließung neuer oder zusätzlicher Steuerquellen für den Staatshaushalt…“
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