Wer Armut definiert, hat Macht. Die Vermessung der Armut dient auch der Kontrolle

[Buch] Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen MythenDie Methoden zur Erhebung der Armut sind umkämpft. Wer sich durchsetzt, gewinnt an Definitionsmacht über andere. Und von den verfassten Armutsstatistiken hängt oftmals ab, wer Zugang zu Wohlfahrtshilfen erhält und wer nicht. Das zeigt: Den Armutsberichten ist ein Herrschaftsverhältnis eingeschrieben. (…) Die Vermessung sozialer Wirklichkeit schien schon früh die Grundlagen technologischer Verfügung und Kontrolle zu versprechen. Gern wird darüber die Frage in den Hintergrund gedrängt, was die Zahlen eigentlich aussagen und wie sie zustande kommen. (…) Da die Armutsforschung eines der ersten Betätigungsfelder der empirischen Sozialforschung war, reichen auch die Debatten über die Definition und damit auch das Messen der Armut gut anderthalb Jahrhunderte zurück. Dabei zeigte und zeigt sich immer wieder die Schwierigkeit, die auch in aktuellen Datensammlungen präsent ist: Objektive Maßzahlen lassen sich nicht konstruieren. Wo die »Poverty Datum Line«, die Armutsgrenze, verläuft und wie viele Menschen unterhalb dieser Grenzziehung verortet werden, war und ist daher immer auch eine politische Frage...“ Artikel von Reinhart Kößler in iz3w 336 zum Thema „In weiter Ferne – das Ende der Armut“ externer Link. Siehe zum Thema:

  • Warum die Armutsdefinition den Blick auf die Realität verzerrt. Elend in der viertgrößten Industrienation: Ausnahme oder Normalzustand? New
    „… Die Unterscheidung von absoluter Armut und relativer Armut hat es (…) in sich. Schließlich beruht die Definition der absoluten Armut auf der Bestimmung wirtschaftlicher und sozialer Grundbedürfnisse. Da stellt sich doch gleich die Frage, was die sind und worin sie bestehen. Man kann die Frage auch zuspitzen und so stellen: Mit wie wenig kommt ein Mensch aus, ohne zu sterben? (…) Die Mehrzahl der Menschen in diesem Lande muss sich also vieles versagen; was man gerne hätte und was einem durch die Werbung nahegebracht wird, kann nur in vorsichtiger Dosierung und bei strenger Einteilung erworben werden. Von daher müsste man sagen: Armut ist in dieser Gesellschaft ein weit verbreitetes, alltägliches Phänomen. Doch diesen Schluss will hierzulande keiner gelten lassen. Relative Armut wird daher anders gefasst (…) Die Bestimmung von Armut erfolgt in einer Demokratie, die nichts auf sich kommen lassen will, keineswegs nach den Maßstäben der Wissenschaft, sondern so, dass sie kein schlechtes Bild auf die politisch betreute Wohlstandsgesellschaft wirft. Während gerade in der Pandemie immer wieder auf die Fakten verwiesen wird, die angeblich die Grundlage für politische Entscheidungen bilden, werden hier die Fakten durch politische Festlegungen oder Entscheidungen geschaffen. Was als „relativ arm“ gelten soll und was nicht, sagen die Behörden! Mit der Aussage, dass Armut relativ ist, soll sie aber nicht nur ins Verhältnis zum vorhandenen Reichtum gesetzt werden. Hier wird vielmehr die Objektivität von Armut bestritten. (…) Wobei noch zwischen Armut und „Armutsgefährdung“ unterschieden wird. (…) Von Armut betroffen oder arm zu sein macht für die offizielle Statistik offenbar einen wichtigen Unterschied! Für Letzteres gilt die 60-Prozent-Grenze, für Ersteres die 50-Prozent-Grenze. (…) Weil Familien unterschiedlich groß sein können, wird das Ganze dann wieder pro Kopf umgerechnet, wobei nicht für jedes Mitglied des Haushalts der gleiche Bedarf angenommen wird. Es findet vielmehr eine Gewichtung statt, nach der Logik, dass die Politik bestimmt, was einem Kind oder Erwachsenen zusteht. Das wird dann ins Verhältnis gesetzt zum Bundesmedian. (…) Die Trennung der Kinderarmut von der (sachlich vorausgesetzten) Armut der Eltern kommt einer Schuldzuschreibung gleich: Um die Kinder muss man sich kümmern, weil sie unschuldig in Armut geraten sind, während die Eltern wohl dafür Verantwortung tragen, da sie dem Nachwuchs diese Armutslage bereitet haben. Das braucht dann nur noch von der Boulevardpresse als Vernachlässigung der Erziehungspflichten in der „Unterschicht“ mit grellen Berichten aufbereitet zu werden. (…) Es ist schon grotesk: All diese zahlreichen Maßnahmen sollen immer nur eins belegen, dass der betreffende Fall eine Ausnahme darstellt. Eine Ausnahme von dem Sachverhalt, dass es den Menschen in Deutschland gut geht. Unter Fakenews fällt das, was das Zusammenspiel von Politik, Expertentum und interessierter Öffentlichkeit hier zustande bringt, allerdings nicht!“ Beitrag von Suitbert Cechura vom 2. Februar 2022 bei Telepolis externer Link
  • Armut wird oft nur durch die technokratische Brille wahrgenommen
    “… Wenn Medien in der Öffentlichkeit das Thema Armut in den Fokus rücken, passiert nahezu immer Folgendes: Innerhalb von kürzester Zeit kommen Experten zu Wort, die versuchen, in Zahlen auszudrücken, ob es Armut in Deutschland gibt, wie viele Menschen davon betroffen oder nicht betroffen sind, ob sich die Situation verbessert oder verschlechtert hat. Da ist dann von einer „relativen“ und von einer „echten“ Armut die Rede, rasch fallen Begriffe wie „Armutsquote“, „Armutsrisikoquote“ oder „Gini-Koeffizient“, mit dem man soziale Ungleichheit messen will. Das ist durchaus legitim. Schließlich geht doch nichts über eine solide Datenbasis, die die realen Verhältnisse sichtbar macht. Doch so einfach ist es bei diesem Thema nicht. Kaum sind die unterschiedlichen Messmethoden ins Feld geführt, überschlägt sich die Diskussion auf Ebene der Zahlen. Armut ist dann oft nur noch eine Größe, die durch die technokratische Brille wahrgenommen wird. Und damit passiert genau das, was nicht passieren sollte: Die Schicksale der Menschen, die in Armut leben oder von Armut bedroht sind, werden unsichtbar. Das Leid, das Armut auch in einem reichen Land erzeugt, geht unter in einem Armutsdiskurs, der doch zum größten Teil von jenen Akteuren geprägt wird, deren Jahresgehalt so viel mit Armut zu tun hat wie die Einrichtung einer Luxusyacht mit der einer Sozialwohnung: nichts…” Beitrag von Marcus Klöckner vom 30. August 2017 bei den NachDenkSeiten externer Link
  • Siehe auch:
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=33607
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