Sozialverbände: Hilfstruppen des Neoliberalismus

Artikel von Albrecht Goeschel vom 8.6.2015

1. EU-Kürzungsdiktat macht die Bittsteller-Politik der Sozialverbände unerträglich

Die Euro-Krise und das EU-Spardiktat haben die bisherigen nationalen Sozialpolitiken außer Kraft gesetzt und europaweit in ihr Gegenteil verwandelt: Die Sozialstaaten werden nunmehr auf Druck und nach dem Vorbild Deutschlands dazu benutzt, die Bevölkerungen ärmer zu machen und eine europaeinheitliche Klassengesellschaft der billigen Arbeit zu schaffen. Gerade ausgebaute Sozialsysteme bieten beste Voraussetzungen, um die Reallöhne der Arbeitnehmer möglichst unbemerkt drastisch zu senken. Dies erfordert einen grundsätzlichen Politikwechsel bei den Sozialverbänden. Ihre bisherige Politik eines sogenannten „Pragmatismus“, eines als „Lobbyismus“ schöngeredeten Bittstellertums hat keine Zukunft mehr: Die Strategieformel „Jammern, Kümmern, Fordern“ hat ausgedient.

Derzeit sind die dominierenden deutschen Sozialverbände, Sozialverband Deutschland – SoVD und Sozialverband VdK Deutschland ,keine eigenständige Kraft in der Sozialpolitik. Sie werden allenfalls als Diskussionskulisse für längst gefallene Entscheidungen instrumentalisiert – auch und gerade, weil sie seit Jahrzehnten auf jede eigenständige und grundlegende Analyse der wirtschaftlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Grundlagen, Rahmenbedingungen und Wirkungsweisen von Sozialpolitik im Kapitalismus, kapitalistischem Sozialstaat und Sozialbudget in der kapitalistischen Ökonomie verzichten. Sie sind daher auch gar nicht in der Lage, andere als die sattsam bekannten sozialpopulistischen Themen wie „Armut als solche“ in der Öffentlichkeit breit zu treten. Daran ändern die lange Jahre durchaus gehaltvollen Sozialforen des VdK Bayern in Schloss Tutzing und des VdK Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf nichts. Sie haben zwar wertvolle Überlegungen und Untersuchungen für die Fachöffentlichkeit bereit gestellt, für die Politikgestaltung der Sozialverbände sind sie aber ohne jede Wirkung geblieben.

Vielmehr haben der davon unberührte konzeptionslose Lobbyismus und die populistischen Kampagnen der Verbände des Sozialen (und der Wohlfahrt) die von ihnen oberflächlich kritisierten Verhältnisse noch verfestigt: Insbesondere das vom VdK-Sozialverband (und vom DPWV-Wohlfahrtsverband) jahrelang betriebene penetrante „Armuts“- Lamento hat niemals auch nur aufzuklären versucht und vermittelt, warum Armut im Finanz- und Exportkapitalismus geradezu gebraucht wird und wo und wie sie mit Hilfe des Sozialstaats hergestellt und verwaltet wird. Das Ergebnis war die Förderung einer  Einstellung bei der besser verdienenden Bevölkerung nach dem Motto: „Arm sind andere – und das soll so bleiben“. Die Große Koalition ohne Opposition und ein Parlament der Besserverdienenden sind das Resultat auch dieser Pseudopolitik der Verbände.

 2. Für „Kaffee und Kuchen“ den EU-Süden und die Ausgegrenzten verraten

Der Ausgang der Europa-Wahlen mit einer Stärkung nationalistischer Parteien ist umgekehrt die Antwort der europäischen Nachbarbevölkerungen auf das Spar- und Verarmungsdiktat des deutschen Machtkartells als Speerspitze der sogenannten europäischen Eliten. Zu diesem Verarmungsdiktat vor allem gegenüber dem EU-Süden haben die Sozialverbände lautstark geschwiegen und keinerlei Solidarität gezeigt. Gleichzeitig sind aber die Satzungen dieser Verbände mit Sozial- und Europageschwätz vollgepfropft.

Gerne haben sich die Sozialverbände von der Großen Koalition der Besserverdienenden, aus deren „Volksparteien“ ja auch ihre „Präsident(inn)en kommen, mit Sozialgeschenken wie der „Mütter-Maut“ und der „Männer-Rente“ weiter korrumpieren lassen. Und ohne Zweifel ist die vor einigen Monaten allseits beklagte Wortmeldung der Ausgegrenzten: Altkonservative wie Prekäre, beispielsweise in den „Pegida“-Protesten auch ein Ergebnis der von Anbiederei, Eitelkeit und Vorteilsschnapperei bis hin zum Verkauf von Mitgliederadressen an Versicherungskonzerne geprägten „Politik“ der Sozialverbände. „Kaffee und Kuchen“- Nachmittage sind nicht das Mittel der Wahl, um Nichtmehrwählern bei ihrer Interessenartikulation zu assistieren. Und Mittelmeer-Kreuzfahrten für „Rente Gold“ sind kein Solidaritätsbeitrag für die nicht mehr behandelten Kranken in den griechischen Krankenhäusern oder für die Überlebenden der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer.

Monoton verbreiten die Sozialverbände zwei Botschaften: Gegenüber der Politik heben sie ihre hohen und wachsenden Mitgliederzahlen hervor. Gegenüber den Mitgliedern verweisen sie auf ihre zahlreichen Gespräche mit der Politik. Die tatsächliche Wirkung: Eher lächerlich. Bevorzugt: Wichtigtuerische Gruppenfotos mehrheitlich aus der Form geratener Mitglieder des Politikbetriebes zusammen mit teilweise noch mehr aus der Form geratenen Mitgliedern des Verbandsbetriebes. Sicherlich zu Recht sehen kritische Beobachter die Sozialverbände in einer heißersehnten Rolle als Nutznießer der Politik einerseits und als Hilfswillige der Politik andererseits.

Bei internen Tagungen wird durchaus angesprochen, dass der von den Sozialverbänden verfolgte „Lobbyismus“, d.h. das Vortragen irgendwelcher Anregungen und Vorschläge und die ganz späten Stellungnahmen zu irgendwelchen Gesetzesvorhaben bei der Politik überhaupt nur auf Gehör stößt, weil sich die Verbände als eine Art „Horchposten“ gegenüber ihren Mitgliedern und der Bevölkerung betätigen und die gewonnenen Erkenntnisse für die Politik verfügbar machen. Oberste Notwendigkeit sei daher eine „Konsensorientierung“ der Verbände im Verhältnis zur Politik.

3. Neue Milieus und verschärftes Spardiktat werden den Byzantinismus der Sozialverbände erledigen – hoffentlich

So wie es für den scheinbar nie zu erschütternden und ewig erfolgreichen ADAC ganz schnell sehr eng geworden ist, kann es durchaus auch für die Sozialverbände, allen voran den vor Selbstweihrauch kaum mehr sichtbaren Sozialverband VdK schneller als gedacht eng werden. Es hat ja auch nur noch der Ukraine-Hetze bedurft, um das Ansehen der deutschen sogenannten Leit-Medien ins Bodenlose stürzen zu lassen.

Solche Umbrüche und Abstürze werden meist von unterirdischen, tektonischen Verschiebungen getragen und begleitet: Die fragwürdigen Geschäftspraktiken des ADAC haben diesem erst dann wirklich geschadet, als das allherrschende Mobilitätsleitbild „Motorisierter Individualverkehr“ gerade bei den Jüngeren immer weniger Anerkennung und Bewunderung fand. Und die Sozialverbände, geführt von ausgemustertem Politikpersonal, pensionierten Krankenkassenchefs etc. und rekrutiert aus den Traditionsmilieus der deutschen Normalfamilie bzw. deutschen Normalhinterbliebenen sind Lichtjahre entfernt von den modernen Milieus der sogenannten „Wissensgesellschaft“ oder den prekären Milieus der Zuwanderungs- und Langzeitarbeitslosengesellschaft. Die fragwürdigen Geschäfte der Sozialverbände mit diversen Versicherungskonzernen, die lächerlich-peinlichen Fernreiseangebote der Sozialverbände und die unfreiwillig hochsatirischen Mitglieder-Zeitungen der Sozialverbände sorgen von sich aus dafür, dass sich diese Verbände sehr bald „demografisch“ erledigen werden – so wie das die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) seit einigen Jahren vorbildlich praktiziert. Das hindert letztere allerdings gerade nicht daran, noch schnell als Mehrheitsbeschafferin bei der Privatisierung des bisherigen Sozialstaats zur Hand zu gehen.

Vor allem aber liquidiert die vom deutschen Machtkartell diktierte und von den Sozialverbänden wohlwollend beschwiegene Zerstörung der europäischen Sozialordnungen die alltägliche Geschäftsbasis der Sozialverbände selbst: Die Sozialrechtsberatung. Wenn erst der EU-Fiskalpakt, die Berliner Schuldenbremse, die Reform des Länderfinanzausgleichs und nun auch noch das weitere EU-USA Geheimabkommen TISA ihre volle Wirkung entfalten, wird der Kürzungsterror neue Dimensionen erreichen. Nicht nur werden dann die Sozialphrasen der Verbände offenkundig werden. Auch ihre Sozialrechtsberatung wird dann leerlaufen. Wo soziale Rechte abgeschafft werden oder ihr finanzieller Inhalt ausgehöhlt wird, erübrigt sich auch bald eine Sozialrechtsberatung.

Vielleicht werden wir so „Sozialverbände“ endlich los, die eine Mitschuldige an der „Riester-Rente“ und eine Mitbetreiberin der „Mütter-Maut“ mit nordkoreanischen 99 Prozent erneut als „Präsidentin“ gewählt haben: Frau Parlamentarische Staatssekretärin a.D. Ulrike Mascher (SPD).

4. Sozialverbände im Neoliberalen Sozialstaat: Warum gibt es dort keine Opposition?

Damit es dazu aber nicht nur „zufällig“ oder „beiläufig“ kommt und dann alles mit oder unter anderen Namen so weitergeht, im Parteien- und Parlamentstrieb finden sich dafür inzwischen genug Beispiele, bedarf es einer gründlichen ökonomischen, soziologischen und organisationswissenschaftlichen Analyse. Diese muss zunächst die vulgärökonomische Schaumschlägerei der Verbände zum Thema „Armut als solche“ sezieren. Der Hauptbeitrag der Sozialverbände zur Neoliberalisierung Deutschlands und Europas liegt exakt in der fortgesetzten Veranstaltung von „Folgenlosigkeit“. Prof. Seibel (1992) bezeichnet es als die eigentliche systemstabilisierende Funktion solcher Verbände, ihren eigentlichen „Erfolg“ und damit ihre Beliebtheit bei der Politik, genau eben nichts zu bewirken. Der „Dilettantismus“ und die „Mittelmäßigkeit“ des Spitzenpersonals dieser Verbände sei, so Seibel, daher kein Mangel, sondern ein Vorzug für das bestehende System und dessen Verbände.

Das schlimmste, was diesen Verbänden passieren kann, seien interne oder externe Fachleute, die das Sozialgeschwätz der Verbände beim Wort nehmen und Effizienz anstelle von Personenkult einfordern. In den Verbänden gibt es genug Potential für eine bislang noch fehlende Opposition. Und diese Opposition in den Sozialverbänden fehlt, weil diese „Vereine“ bisher von der Wissenschaft noch nicht auf den Prüfstand gestellt worden sind – auch natürlich wegen der ihnen eigenen „Miefigkeit“. Auch das beschreibt Seibel schon vor über zwei Jahrzehnten: „Miefigkeit“, Kumpanei, Seilschaften usw. als gut funktionierende Abschirmungsstrategie gegen Effizienz, Innovation, Opposition etc.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=81579
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