Weiter so, immer weiter? ver.di Handel und die Krisen

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitWas war das im Jahre 2001 in sog. Führungsetagen der damaligen Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen für eine Hochstimmung, als auf dem HBV-Gewerkschaftstag die erforderliche Mehrheit für ein Mitmachen bei der Gründung von ver.di zu Stande gekommen war. Ein Teil der mit damals 2.850.533 Mitgliedern weltweit größten, »freien«, da regierungsunabhängigen Gewerkschaft sein – größer als die IG Metall! Und der Fachbereich Handel mit damals 440.338 Mitgliedern gar der größte Fachbereich in ver.di (2001 waren im Fachbereich Handel 15,4 Prozent aller ver.di-Mitglieder organisiert; 2010 noch 14,7 und 2018 noch 13,7 Prozent) Die Aussichten der damaligen HBV-Führungsspitze und ihre Versprechen schienen grenzenlos: »Wir werden uns eine Reihe von Unternehmen vornehmen, bei denen wir bislang zu wenig engagiert waren«, so das damals für den Handel zuständige HBV- und später ver.di-Vorstandsmitglied Franziska Wiethold laut Lebensmittelzeitung vom 12. April 2001, die den Artikel mit »ver.di nimmt sich bei Aldi und Lidl viel vor« betitelte. Die ohne relevante gewerkschaftliche Stärke und meist ohne Betriebsrat den Einzelhandel aufmischenden Großunternehmen, die jahrelang als sog. »weiße Flecken« in der Tariflandschaft galten, sollten die neue Stärke von ver.di im Handel erleben. Rosige Aussichten damals! Interne SkeptikerInnen und KritikerInnen wurden belächelt und ggf. kaltgestellt. Fehleinschätzungen angesichts der heutigen Fakten! ver.di hat 2018 gegenüber 2001 noch 1.969.043 Mitglieder, ein Verlust von 881.490. Der Fachbereich Handel stürzte um 38,8 Prozent von 440.338 Mitgliedern auf nunmehr 269.632 ab. Dieser Verlust an Mitgliedern bedeutet vor allem im Handel ein tarifpolitisches und finanzielles Desaster…“ Artikel von Anton Kobel, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 02-03/2019 – und Dokumente zur Debatte um die Neubesetzung der Bundesfachbereichsleitung Handel:

Weiter so, immer weiter?

ver.di Handel und die Krisen – Von Anton Kobel

»Man muss ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern
(Ernst Bloch)

»Wenn Du entdeckst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab
(Dakota-Indianer)

Was war das im Jahre 2001 in sog. Führungs­etagen der damaligen Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen für eine Hochstimmung, als auf dem HBV-Gewerkschaftstag die erforderliche Mehrheit für ein Mitmachen bei der Gründung von ver.di zu Stande gekommen war. Ein Teil der mit damals 2.850.533 Mitgliedern weltweit größten, »freien«, da regierungsunabhängigen Gewerkschaft sein – größer als die IG Metall! Und der Fachbereich Handel mit damals 440.338 Mitgliedern gar der größte Fachbereich in ver.di (2001 waren im Fachbereich Handel 15,4 Prozent aller ver.di-Mitglieder organisiert; 2010 noch 14,7 und 2018 noch 13,7 Prozent)[1] Die Aussichten der damaligen HBV-Führungsspitze und ihre Versprechen schienen grenzenlos: »Wir werden uns eine Reihe von Unternehmen vornehmen, bei denen wir bislang zu wenig engagiert waren«, so das damals für den Handel zuständige HBV- und später ver.di-Vorstandsmitglied Franziska Wiethold laut Lebensmittelzeitung vom 12. April 2001, die den Artikel mit »ver.di nimmt sich bei Aldi und Lidl viel vor« betitelte. Die ohne relevante gewerkschaftliche Stärke und meist ohne Betriebsrat den Einzelhandel aufmischenden Großunternehmen, die jahrelang als sog. »weiße Flecken« in der Tariflandschaft galten, sollten die neue Stärke von ver.di im Handel erleben. Rosige Aussichten damals! Interne SkeptikerInnen und KritikerInnen wurden belächelt und ggf. kaltgestellt. Fehleinschätzungen angesichts der heutigen Fakten!

Mitgliederschwund im Handel

ver.di hat 2018 gegenüber 2001 noch 1.969.043 Mitglieder, ein Verlust von 881.490. Der Fachbereich Handel stürzte um 38,8 Prozent von 440.338 Mitgliedern auf nunmehr 269.632 ab. Dieser Verlust an Mitgliedern bedeutet vor allem im Handel ein tarifpolitisches und finanzielles Desaster. Die gesunkenen Beitragseinnahmen hatten und haben einen vor Ort deutlich spürbaren Abbau von GewerkschaftssekretärInnen zur Folge. Die verminderte gewerkschaftliche Stärke macht sich in den Tarifrunden mehrfach bemerkbar. Die Tarifrunden dauern lange: ein Tarifabschluss nach drei bis vier Monaten ist kurz im Verhältnis zu den 18-monatigen Tarifauseinandersetzungen 2007/8 bzw. acht Monaten 2013, und sie bedeuten für die Aktiven in den Betrieben große Anstrengungen. Die Kraft kommt auch und gerade bei ver.di-Handel von den Wurzeln, um an ein Buch aus dem Jahre 1990 von Martin Kempe, dem späteren ver.di-PUBLIK-Chefredakteur, zu erinnern.

Seit 2001 hat ver.di im Handel fast 40 Prozent weniger Mitglieder. Während von 2001 bis 2010 der Rückgang ca. 30 Prozent betrug, waren es seit 2010 immer noch rund 13 Prozent. Im Jahr 2018 verlor ver.di im Handel 2,1 Prozent, während der Rückgang bei ver.di sich auf insgesamt 0,9 Prozent belief. Der Fachbereich Handel ist damit ver.di-intern seit Jahren ein Spitzenreiter. Warum kein Sorgenkind, um das sich die ver.di-»Familie« kümmert? Soll jetzt wirklich – so die Planungen der ver.di-Spitze für eine Reform der Organisation – die Zusammenlegung der stark schwächelnden Fachbereiche Handel und Logistik eine Lösung der offensichtlichen Probleme bringen? Soll das jahrelange Vermeiden von Eingriffen in die beschworene Autonomie der Fachbereiche nun mit deren Ende besiegelt werden?

Der Rückgang an Mitgliedern ist 2018 im Einzelhandel mit minus 34,6 Prozent gegenüber 2002 und im Großhandel mit 35,4 Prozent nur leicht unterschiedlich. Bedeutsamer, auch für einen gewerkschaftlichen Umgang mit dieser Krise, sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Landesbezirken. So hat Bayern gegenüber 2002 ein Minus von 19,6 und gegenüber 2010 von 6,6 Prozent, während ver.di im Stadtstaat Hamburg gegenüber 2002 46,6 und gegenüber 2010 23,8 Prozent weniger Mitglieder hat. Solche Unterschiede – zumal in einem Flächen- und Stadtstaat – sind eine Analyse wert. Eine klassische Aufgabe für Führungskräfte in Land und Bund! Teil dieser Aufgabe wäre auch die Produktion von Ideen zum Umgang mit diesen Entwicklungen. Auch die ehemals mitgliederstarken Landesbezirke müssten zur Analyse und zum Handeln motivieren: Gegenüber 2010 verlor Baden-Württemberg 10,2 , Niedersachsen 12,4 und Nordrhein-Westfalen 13,8 Prozent. Die Landesbezirke Rheinland-Pfalz und Saar wurden angesichts der Krise gleich ganz zusammengelegt; d.h. die Anzahl der GewerkschaftssekretärInnen wurde verringert und deren Arbeit erweitert und intensiviert. Ein wenig wirksames Mittel zur Krisenbewältigung, wie die Umsatzrückgänge und der Personalabbau in den Läden des Einzelhandels zeigen.

Obwohl die Anzahl der Beschäftigten in den letzten Jahren im Einzelhandel auf inzwischen 3.178.000 (Stand: 30. Juni 2018) gewachsen ist, konnte ver.di dies nicht in gewerkschaftliche Stärke umsetzen. Durch die genannten. Mitgliederverluste beträgt der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Handel mit 269.632 Mitgliedern noch ganze sieben Prozent. Beim Fortgang dieser Krise entwickelt sich ver.di eher zu einem Tarifnotar, der den Arbeitgeberwillen unterzeichnet, als zu einer Tarifmacht. Auch die permanenten Hinweise auf den Online-Handel und die Änderung der Beschäftigtenstruktur sind auf Dauer keine befriedigenden Erklärungen. Der Anteil der Vollzeitkräfte von nur noch 33,6 Prozent (2010 waren es noch über 40 Prozent) und der Anteil der sozialversicherungspflichtigen Teil­zeitkräfte mit 36,8 und der geringfügig Beschäftigten mit 26,2 Prozent haben natürlich Auswirkungen auf die Höhe der Beitragsannahmen, aber erfahrungsgemäß nicht auf die Organisierbarkeit der Menschen. Auch dass der Handel ein Niedriglohnsektor für (alleinerziehende) Frauen, Migranten, Ungelernte, RentnerInnen in Altersarmut ist, ist sicherlich kein Hindernis. Für eine gesellschaftlich wirksame Öffentlichkeitsarbeit sind diese Aspekte sogar von Vorteil.

Tarifmacht im Schwinden

Die Länge von Tarifrunden, regelmäßig magere Tariferhöhungen und die seit über 20 Jahren andauernde Erfolglosigkeit bei der Durchsetzung von berechtigten, vor allem sog. qualitativen Forderungen zeigen den Machtverfall von ver.di im Handel. Während der Einzelhandel noch immer eine Goldgrube für Eigentümer, Aktionäre und Immobilienbesitzer ist, rangieren die Beschäftigten bei den tariflichen Entgelten im hinteren Bereich aller Branchen.

Allerdings gelten die Tarifverträge für immer weniger Betriebe und Beschäftigte. Hier spielt die neoliberale Wende der Arbeitgeberverbände eine wichtige Rolle. Seit dem Jahr 2000 haben sie ihren Mitgliedsfirmen eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung ermöglicht; zusätzlich verweigern sie seitdem ihre nach dem Tarifvertragsgesetz noch immer notwendige Zustimmung zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Damit ist ein Teil der Flucht aus den Tarifverträgen erklärbar. So sind 2017 im westdeutschen Einzelhandel knapp 40 Prozent der Beschäftigten gegenüber 70 Prozent im Jahr 2001 tarifgebunden; im Osten sind es 29 Prozent. In der gesamtdeutschen Wirtschaft gelten für ca. 55 Prozent der Beschäftigten Tarifverträge. Der Anteil der im Einzelhandel tarifgebundenen Unternehmen liegt deutlich unter 30 Prozent. Der durchschnittliche Organisationsgrad beträgt in Deutschland 17, im Handel sieben Prozent.

Beachtenswert, wenn auch bisher erfolglos, sind die Bemühungen, z.B. bei Amazon die Gültigkeit der Tarifverträge des Einzelhandels durchzusetzen. Die seit Jahren andauernde Bereitschaft und Kreativität der dortigen ver.di-Mitglieder stehen im krassen Gegensatz zur (Un-)Fähigkeit der ver.di-Verantwortlichen, für diese immer wieder kämpfenden KollegInnen bundesweite gewerkschaftliche und gesellschaftliche Solidarität zu organisieren. Außer hie und da vor Ort findet keine spürbare Einbindung in laufende Tarifauseinandersetzungen im Handel und in anderen ver.di-Bereichen statt. Solidarische Tarifpolitik scheint ebenso ein Fremdwort aus dem letzten Jahrhundert zu sein wie Unterstützung durch außergewerkschaftliche UnterstützerInnen. Hoffentlich teilen die bei Amazon Aktiven nicht das Schicksal der anfangs der 2000er Jahre in der Lidl-Kampagne Aktiven. Diese scheiterten am Widerstand von Lidl, aber auch am Unwillen und der Unfähigkeit in ver.di, diese Kampagne bundesweit mit gewerkschaftlichen Mitteln öffentlich zu gestalten und durchzuhalten.

Wir setzen auf unsere Kraft! Und vergebliche Mühen?

Und was dann, wenn es diese nicht mehr gibt!? Hier kann der Fachbereich Handel einige beachtenswerte Beispiele liefern.

Seit 1999 beschäftigt sich ver.di-Handel mit dem Versuch, neue Entgeltstrukturen für die Tarifverträge mit den Arbeitgebern zu verhandeln. In den Tarifverhandlungen 1999 für den Einzelhandel in Bayern verpflichteten sich HBV und die DAG, »für neue Entgeltstruk­turen einzutreten. Ziel ist es, die tariflichen Strukturen zu überarbeiten, um den gewandelten Bedingungen im Einzelhandel, den Anforderungen der Unternehmer und den Erwartungen der Arbeitnehmer gerecht zu werden«. Ursprünglich beharrten die Arbeitgeber darauf, diese Themen in den »normalen« Entgeltverhandlungen zu regeln. Nachdem sich dies als unmöglich erwiesen hatte, wurde das Projekt »Entgeltstruktur« geschaffen. Ab 2002 beschäftigten sich damit GewerkschaftssekretärInnen und Arbeitgeber zusammen mit WissenschaftlerInnen des SOFI in Göttingen sowie vom Bereich ABO der Uni Trier unter dem Namen »Innovative Tarifpolitik – Modellinitiative Einzelhandel«[2]. Finanziert wurde das Ganze bis 2006 von der Bertelsmann Stiftung und der Hans Böckler Stiftung. Von Mitte 2006 bis 2008 übernahm die Hans Böckler Stiftung allein die Kosten. Seit 2008 teilen sich bis heute ver.di-Handel und die Arbeitgeber entstehende Sachkosten. Über die dadurch seitdem und noch immer entstehenden ver.di-internen Personalkosten gibt es noch keine zuverlässigen Zahlen. KennerInnen sprechen unter Einbeziehung aller Kosten – das sind Gewerkschaftssekretäre, Kosten für Tagungen, Tarifverhandlungen usw. – von über einer Million Euro, die auf ver.di entfallen.

Bisherige Ergebnisse sind zahllose Papiere, Beratungen und Verhandlungen sowie eine tiefe Spaltung in ver.di-Handel. Aus der ursprünglichen Vereinbarung, »die tariflichen Strukturen zu überarbeiten« entwickelte sich der Versuch, einen komplett neuen, bundesweiten Entgelt-Rahmentarifvertrag auf Basis einer analytischen Arbeitsplatzbewertung zu entwickeln. Angesichts der (Klein-)Betriebsstrukturen und der filialisierten Unternehmen sowie der damit verbundenen zahlenmäßig kleinen Betriebsräte eine für die meisten Betriebsräte nicht lösbare Aufgabe bei der Einhaltung und Überwachung der Tarifverträge.

Trotz aller Kritik und Zurückhaltung der ehrenamtlich Aktiven halten die im Handel hauptamtlichen Führungskräfte an diesem Projekt fest. Nachdem der Großteil der WissenschaftlerInnen das Projekt verlassen hat, bilden derzeit drei ehemalige Gewerkschafts­sekretäre und ein verrenteter Professor auf Honorarbasis das inhaltliche Rückgrat des Projektes. Vielleicht wären doch die Dakota-Indianer mit ihrer Weisheit, von einem toten Pferd abzusteigen, die besseren Ratgeber. Zumal eine entscheidende Bewährungsprobe für alle ver.di-Verantwortlichen noch bevorsteht. Die »Anforderungen der Unternehmer« lassen sich wie folgt zusammenfassen: Absenkung der Gehälter für die KassiererInnen und ungelernten Verkaufskräfte, Einschränkung der Nachtzuschläge sowie flexible Gestaltung der Eingruppierungen durch entsprechende Umgestaltung der Arbeitsplätze.

Im Bewusstsein der mangelhaften Tarifmacht von ver.di im Handel sind dies keine guten Perspektiven. Sinnvoll wäre eine Aufgabe dieses Projektes – ähnliches gilt für den Umgang mit dem von ver.di-Handel geforderten Tarifvertrag »Demographie«. Angesichts der ebenso wie die Bevölkerung auch alternden Belegschaften ließ ver.di einen – wohlwollend formuliert – gutgemeinten Entwurf für einen diesbezüglichen Tarifvertrag in Fremdvergabe erstellen. Gut gemeint, weil er eine sicherlich notwendige und erstrebenswerte Ausweitung der Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte zum Ziel hatte. Ob dabei vergessen wurde, dass genau Letzteres seit Mitte der 1970er Jahre im Tabu-Katalog der deutschen Arbeitgeber steht? Offensichtlich ist dieses Projekt inzwischen abgeheftet worden.

Genug Kraft gegen Tarifflucht von real und Kaufhof/Karstadt?

Mit der Fusion von Karstadt und Kaufhof ist nach der Tarifflucht der Metro-Tochter real aus den Flächen-Tarifverträgen des Einzelhandels in einen Billigtarif des DHV jetzt mit Kaufhof eine weitere, bisher gewerkschaftlich relativ gut organisierte Belegschaft ins Blick- und Aufgabenfeld von ver.di-Handel geraten. Bei real warten die Aktiven noch immer auf die im Sommer 2018 zugesagten Ideen für eine Kampagne, um den real-Arbeitgeber wieder in eine Tarifbindung mit ver.di zu zwingen. Dieses monatelange Warten und Zögern stärkt derzeit kaum die Kampfbereitschaft der real-Belegschaften, müssen sie sich doch täglich mit Meldungen über den Verkauf ihres Unternehmens bzw. ihrer Filialen auseinandersetzen. Bei den real-Aktiven steigt der Frust über ver.di. Eine Rolle spielt dabei auch die mangelhafte Informationspolitik der Bundesebene. So mussten aktionsbereite Belegschaften aus der Presse erfahren, dass am 26. November 2018 in Düsseldorf ein real-Streiktag war und dass vor Weihnachten am 21./22. Dezember in Goslar, Helmstedt und Braunschweig sowie am 22. Dezember 2018 in Darmstadt, Groß-Zimmern und Groß-Gerau (auch noch am 24. Dezember) gestreikt wurde.

Eine Streikbewegung und eine Kampagne gehen anders!

Und jetzt noch Kaufhof und Karstadt! Offensichtlich wollen sich die Belegschaften und Betriebsräte von Kaufhof nicht einfach den noch bis 2021 geltenden Sanierungs-Tarifvertrag (genannt »Zukunftstarifvertrag«) für die Karstadt-Warenhäuser aufdrücken lassen. Danach verdienen z.B. gelernte Verkaufskräfte in der Endstufe 304 Euro monatlich weniger als die derzeit beim Kaufhof zu zahlenden 2.579 Euro brutto (nach dem Entgelttarifvertrag Baden-Württemberg). Die Kaufhof-Betriebsräte fordern ein Konzept für ein Innenstadt-Kaufhaus der Zukunft. Stefanie Nutzenberger, für den Handel zuständiges ver.di-BuVo-Mitglied, propagierte nun Ende Februar diese Forderung. Vielleicht ein bisschen spät in Anbetracht der seit Jahren existenten Kaufhaus-Krisen. Ungeplanter Weise könnte sich dabei jedoch ein interessanter Diskussionspartner ergeben. Vertreter des Städtetages machen sich ebenfalls öffentlich Sorgen um die Entwicklung der Innenstädte.

Verweigern und Negieren der Realität

Zu den elementaren Eigenschaften für Aktivitäten in ver.di-Handel gehören offensichtlich Negieren der Realität und das Verweigern von gewerkschaftsstiftenden Aktivitäten. So war die Analyse der Streikstatistiken nach 2013 eher von Verschweigen und Geheimhaltung begleitet. Die klar erkennbare Ungleichverteilung von Streiks und Tarifaktionen führte nicht zu erkennbaren Überlegungen und Ak­tivitäten, diesen Zustand produktiv zu überwinden. Erfahrungs- und Ideenwerkstätten gehören nicht zur Aus- und Fortbildung von Aktiven und GewerkschaftssekretärInnen. Angestrebt werden eher immer mehr Tarifkonferenzen, in denen »rote Linien« festgezurrt werden sollen. Absprachen, Strategie und Taktik müssen in Einklang gebracht werden mit der innergewerkschaftlichen Demokratie und den Rechten der Tarifkommissionen. Dass dabei Konflikte entstehen, gehört zum gewerkschaftlichen Alltag. Die Vorstellung, dass aber am Arbeitskampf gar nicht Beteiligten gleiches Gewicht zukommen soll wie denen, die ggf. seit Wochen streiken, produziert eigenwillige Vorstellungen von den Rechten einer Tarifkommission und der Streikenden.

Wo bleiben Konzeptionen für den Aufbau und Erhalt von Tarifmacht?

Nach der Insolvenz der gut organisierten Drogeriekette Schlecker 2012 schrieb Stefanie Nutzenberger im Vorwort zu »Der Fall Schlecker« (Neumann 2012): »Trotz widrigster Umstände, gegen despotisches, willkürliches, respektloses und auch würdeloses Verhalten ihrer ›Führungskräfte‹, haben sie betriebsrätliche Strukturen aufgebaut, haben sich zu tausenden in ihrer Gewerkschaft organisiert, waren solidarisch und kampfstark in allen Auseinandersetzungen, betrieblich und ebenso tarifpolitisch (…) Was können wir von den Schlecker-Frauen lernen?« (S. 9) Und Frank Bsirske im Nachwort, S. 141: «Schlecker hat auch gezeigt, was ver.di bewirken kann, wenn wir bundesweit koordiniert, strategisch mit kluger, sys­tematischer Öffentlichkeitsarbeit als Gegenmacht handeln und Gestaltungskraft beweisen

Kluge, vorwärts weisende Worte! Aber wo blieben die entsprechenden Taten von ver.di im Handel? Organisierungskampagnen in den anderen Drogerie-Unternehmen? Den Baumärkten? EDEKA? Usw. usf.

Statt Organizing: Papiere und Projekte für Tagungen

Nach der hehren Ankündigung, gewerkschaftlich »weiße Flecken« zu bearbeiten, lohnt es sich, einen Rückblick zu riskieren. Dabei gibt es viel zu sehen. Während 2007 in ver.di eine Kampagne »Chance 2011« verabredet wurde, gab es 2008 nach der ersten Welle von Mitgliederverlusten Papiere zur zukünftigen Betreuungsarbeit von Betriebs- und Gesamtbetriebsräten im Einzelhandel. Formuliertes Ziel war, »die jeweils zehn größten Unternehmen einer Teilbranche zu betreuen und gleichzeitig weiße Flecken anzugehen.« Neben den Zuständigkeiten von GewerkschaftssekretärInnen ging es dann in einer »Vision 2015« darum: »Im Handel(n) stärker werden: Für gute Arbeit – für gutes Leben«. Themen waren »Gesundheit«, »gute Arbeit«, »Weiterbildung«, »Gestaltung der Arbeitszeit«, »Neue Techno­logien«, »Fairer Handel«, »Tarifbindung«, »Lohndumping«, »Mitbestimmung«. Mit diesem Strauß von Themen sollte bis 2015 »der Organisationsgrad (…) in den großen bzw. für die ver.di-Politik wichtigen Handelsunternehmen auf über 50 Prozent gestiegen« sein. Eigentlich war diese »Vision« eher eine Selbst­verpflichtung eines internen Kreises auf Bundesebene als ein gemeinsames Arbeitsvorhaben von ver.di-Handel. Und so war auch das Ergebnis. Ohne erkennbare, positive Ergebnisse wurde die Diskussion 2012 fortgeführt. Nach außen wurde der seit 2010/11 reduzierte Verlust an Mitgliedern als Erfolg dieser Kampagne kommuniziert.

ver.di-Handel beschäftigte sich und einen relevanten Teil der Aktiven mit den intern umstrittenen Tarifideen »Entgeltstruktur« und »Demographie«. Sicherlich haben die beiden extrem langen Tarifrunden 2007/8 und 2013 mehr zur Mitgliedergewinnung und Gewerkschaftsbildung beigetragen als zahlreiche Papiere, die zu zahlreichen Treffen und Tagungen geführt haben.

Auffallend bleibt, dass in dieser Zeit, in der überall über gewerkschaftliches Organizing diskutiert und dies auch ausprobiert wurde, im Fachbereich Handel bundesweit mit Ausnahme von Amazon kein vereinbartes Organizing-Projekt initiiert wurde. Mitglieder- und Einnahmenrückgang, große weiße Flecken in Teilbranchen usw. hatten keine Organizing-Projekte zur Folge. Warum? Dieses Manko geht zu Lasten von sog. »Führungskräften«, die sich wohl an Mark Twain orientierten: »Nachdem wir die Orientierung verloren hatten, verstärkten wir unsere Bemühungen

Weiter so – aber wie und mit wem?

ver.di verliert, wenn die negative Entwicklung der letzten 18 Jahre weiter geht, im Fachbereich Handel ihre Funktion als Gewerkschaft. Natürlich wird es hie und da im Handel, voraussichtlich auch in wenigen Unternehmen ver.di als Gewerkschaft geben. Aber flächendeckend, gar bundesweit ist dies nicht sicher.

Der Rückgang an Mitgliedern und Beiträgen wird zu einer weiteren Ausdünnung der gewerkschaftlichen Präsenz vor Ort führen. Wenn ver.di sich nicht insgesamt als eine Gewerkschaft versteht, werden die unterschiedlichen Interessen einzelner Fachbereiche und Menschen den weiteren Rückgang gewerkschaftlicher Kraft im Handel bedeuten. Auch die vielleicht gut gemeinte, von einer Beratungsfirma avisierte Idee, die Zuständigkeit für die Betriebe und das einzelne Mitglied in unterschiedliche ver.di-Strukturen zu verlagern (s. express 1/2019, S. 4), wird ziemlich sicher eher negative Folgen haben. Erfahrungsgemäß kann auch aus der Beratung eines einzelnen Mitgliedes der Prozess einer Gewerkschaftsbildung entstehen. So geschehen im Frühsommer 1994 in Mannheim. Eine Folge war dann ab November 1994 die Schlecker-Kampagne.

Eher problematische Folgen wird auch eine Zusammenlegung der beiden Fachbereiche Handel und Logistik haben. Als Branchen sind beide gewerkschaftlich eher unterentwickelt und daher mit wenig GewerkschaftssekretärInnen ausgestattet. Auch aufgrund ihrer Betriebsstrukturen stellen sie ein hartes Pflaster für Organizing-Projekte dar. Insofern verspricht die Zusammenlegung nicht automatisch Synergie- und Produktivitätseffekte. Wenn in Zukunft ein und dieselbe Gewerkschaftssekretärin mehrere zusätzliche Tarifwerke und deren Zustandekommen handhaben muss, dann wird das nicht das erhoffte Ergebnis bringen.

Und das zukünftige Führungspersonal?

Stefanie Nutzenberger, die bis zum Frühjahr 2010 Landesfachbereichsleiterin Handel im inzwischen mangels Mitgliedern fusionierten Saarland war und danach wesentliche Entwicklungen im Fachbereich Handel als Nummer 1 auf Bundesebene mit zu verantworten hat, tritt erneut an. Diesmal hat sie mit Arno Peukes einen ver.di-internen Konkurrenten. Ob seine Stärken zu diesem Job in dieser desaströsen Situation passen? Immerhin war er von 2010 bis 2015 Landesfachbereichsleiter Handel in Hamburg. Die Mitgliederrückgänge zu dieser Zeit im Stadtstaat zeugen nicht von gewerkschaftlichen Erfolgen. Auch seine anschließende Tätigkeit als Bundessekretär Handel von 2015 bis 2017 hinterließ wenig sichtbare Spuren. Von eher kämpferisch orientierten Aktiven wird seine Rolle bei den Verhandlungen zum Zukunftstarifvertrag bei Karstadt, in dessen Aufsichtsrat er von 2012-2017 war, kritisiert.

Vielleicht kürt der Bundeskongress im September angesichts dieser (Aus-)Wahl eine andere Kollegin oder einen anderen Mann. Eine Vorauswahl wird wohl die Bundeskonferenz für den Fachbereich Handel Ende März treffen. Verbindlich für die Delegierten des Bundeskongresses ist diese nicht.

Artikel von Anton Kobel, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 02-03/2019

Literaturhinweis: Achim Neumann (Hg.): Der Fall Schlecker. VSA-Verlag. Hamburg 2014.

Anmerkungen:

1    Alle Zahlen – teilweise von A.K. errechnet – aus Veröffentlichungen von ver.di, WSI und WABE-Institut, Berlin 2019.

2    In der damals als links geltenden HBV wurde darüber nur verschämt als Projekt des ansonsten kritisierten Bündnisses für Arbeit gesprochen.

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Dokumente zur Debatte um die Neubesetzung der Bundesfachbereichsleitung Handel

In dem Artikel von Anton Kobel heißt es abschließend: „… Und das zukünftige Führungspersonal?
Stefanie Nutzenberger, die bis zum Frühjahr 2010 Landesfachbereichsleiterin Handel im inzwischen mangels Mitgliedern fusionierten Saarland war und danach wesentliche Entwicklungen im Fachbereich Handel als Nummer 1 auf Bundesebene mit zu verantworten hat, tritt erneut an. Diesmal hat sie mit Arno Peukes einen ver.di-internen Konkurrenten. Ob seine Stärken zu diesem Job in dieser desaströsen Situation passen? Immerhin war er von 2010 bis 2015 Landesfachbereichsleiter Handel in Hamburg. Die Mitgliederrückgänge zu dieser Zeit im Stadtstaat zeugen nicht von gewerkschaftlichen Erfolgen. Auch seine anschließende Tätigkeit als Bundessekretär Handel von 2015 bis 2017 hinterließ wenig sichtbare Spuren. Von eher kämpferisch orientierten Aktiven wird seine Rolle bei den Verhandlungen zum Zukunftstarifvertrag bei Karstadt, in dessen Aufsichtsrat er von 2012-2017 war, kritisiert. Vielleicht kürt der Bundeskongress im September angesichts dieser (Aus-)Wahl eine andere Kollegin oder einen anderen Mann. Eine Vorauswahl wird wohl die Bundeskonferenz für den Fachbereich Handel Ende März treffen. Verbindlich für die Delegierten des Bundeskongresses ist diese nicht
.“

Am 26./27. März findet in Bad Neuenahr die Bundesfachbereichskonferenz Handel statt, dort wird auch eine „Vorauswahl“ für die Vertretung des Fachbereichs 12, Handel, im verdi-Bundesvorstand stattfinden. Die amtierende Stefanie Nutzenberger ist intern heftig umstritten. Dies führte zu mehreren und angenommenen Anträgen gegen die Nominierung von Stefanie Nutzenberger und für Gegenkandidaten: „… Die Nominierung von Stefanie Nutzenberger ist zwar mit deutlicher Mehrheit erfolgt, trotzdem ist in den Diskussionen im Vorfeld der Entscheidung deutlich geworden, dass es nach wie vor erhebliche Kritik an der Person, der Arbeit und den Ergebnissen der derzeitigen BFB-Leiterin gibt. Daran hat sich nach ihrem unbefriedigenden Wahlergebnis bei der letzten BFB-Konferenz auch nach ihrer zweiten Amtszeit nichts geändert. Deshalb haben wir es grundsätzlich begrüßt, dass weitere KandidatInnen ins Rennen gehen. Wir haben darin die Chance gesehen, dass den Delegierten der nächsten BFB-Konferenz nach einer ausführlichen Diskussion über die Zukunft unserer Gewerkschaftsarbeit im Fachbereich Handel bei der Wahl der künftigen BFB-Leitung, die den Fachbereich auch im Bundesvorstand vertritt, personelle Alternativen angeboten werden. Nachdem Katharina Wesenick ihre Bewerbung nach dem Votum des BFB-Vorstandes ihre Bewerbung zurückgezogen hat – eine Entscheidung, die wir selbstverständlich mit großem Respekt zur Kenntnis nehmen – würden wir es deshalb sehr begrüßen, wenn es dabei bliebe, dass mehrere Kandidat nnen antreten und Arno Peukes seine Kandidatur aufrechterhält. Wir halten es für dringend erforderlich, dass über die schwierige Situation unseres Fachbereiches, über die gewerkschaftlichen und tarifpolitischen Herausforderungen, vor denen wir stehen und über notwendige Veränderungen unserer Arbeit sowie die sich daraus ergebenden Anforderungen an unsere hauptamtliche Führung eine breite und intensive Diskussion geführt wird. Dazu sollten die verbleibenden Monate bis zur BFB-Konferenz in Bad Neuenahr im gesamten Fachbereich intensiv genutzt werden. Ein einfaches Weiterso, wie es im Votum des BFB-Vorstandes zum Ausdruck kommt, kann es aus unserer Sicht nicht geben…“ So der Landesfachbereichsvorstand Handel Baden-Württemberg, einstimmig beschlossen am 06.11.2018 – wir dokumentieren diesen Antrag stellvertretend für die gleichlautenden Beschlüsse für die Aufrechterhaltung der Kandidatur von Arno Peukes der Landesbezirksfachbereichskonferenzen Handel Niedersachsen-Bremen, Hamburg sowie Berlin-Brandenburg und Hessen (aus Datenschutz-Gründen)

Konstruktiv für die Versachlichung der offenbar allseits erwünschten Debatte um die Neubesetzung der Bundesfachbereichsleitung haben die Fachgruppenvorstände Einzel- sowie Groß- und Außenhandel im ver.di Bezirk Südhessen einen Antrag an den Landesfachbareichsvorstand Handel Hessen gestellt, dass „alle Kandidatinnen für die Bundesfachbereichsleitung Handel sich im Vorfeld einer persönlichen Vorstellung im Landesfachbereichsvorstand Handel Hessen und gegenüber den aus dem Fachbereich Handel Hessen zur Bundesfachbereichskonferenz delegierten Kolleginnen zu folgenden Fragen schriftlich äußern [sollten]: Was lief in den vergangenen Jahren gut oder richtig, schlecht oder falsch in den Politikfeldern des Fachbereichs? Worin siehst Du dafür die Ursachen? Welchen Einfluss muss die Bundesfachbereichsleitung auf die Entwicklung des Fachbereichs nehmen, was wurde bisher getan, versäumt oder unterlassen? Welche gewerkschafts-, tarif- und sozialpolitischen wie organisations- und personalpolitischen Veränderungen betrachtest Du als absolut vordringlich, mittelfristig erreichbar und langfristig orientierungsfähig?...“
Wir dokumentieren diesen Antrag samt den Antwortschreiben der Kollegin Nutzenberger sowie des Kollegen Peukes

Die Antworten der beiden KandidatInnen enthalten neben vielen Worten wenig Substanzielles, um den seit Jahren anhaltenden Mitgliederverlust von ver.di im Handel und die Tarifflucht von Handelsunternehmen zu stoppen. „Bleibendes Verdienst des Kandidaten Peukes ist, dass er schriftlich ziemlich schonungslos einige, vielen bekannte Defizite von Kollegin Nutzenberger aufzeigt.“ So der Kommentar eines im Handel aktiven Kollegen.

Ob das zu einer Abwahl reicht? Beim letzten Bundeskongress erhielt Stefanie Nutzenberger ohne Gegenkandidaten 65,5 Prozent, nämlich 591 von 902 abgegebenen Stimmen. In ver.di wurde dies dann schöngerechnet auf 71,5 Prozent, nämlich 591 von 826 gültigen Stimmen. Gegen sie hatten 235 Delegierte gestimmt; 76 hatten sich enthalten…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=146157
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