Die Erneuerung der globalen Arbeiterklasse

Klassenkampf kennt keine GrenzenDie Arbeiterbewegung ist keineswegs tot. Vielmehr deutet der seit 2008 zu beobachtende Aufschwung von Arbeiterunruhen und Klassenkämpfen darauf hin, dass wir eine Trendwende erleben. Seit den 1980er-Jahren hat sich in den Sozialwissenschaften die Ansicht durchgesetzt, dass Arbeiterbewegungen und Klassenkämpfe ein Relikt der Vergangenheit seien. Im Allgemeinen wurde behauptet, die „Globalisierung“ habe einen verschärften Wettbewerb unter den Arbeiter_innen auf der ganzen Welt entfesselt und damit zu einer unaufhaltsamen Schwächung der Arbeitermacht und Verschlechterung der Lebensbedingungen geführt. Die Umstrukturierung der Produktion durch Fabrikschließungen, Auslagerungen, Automatisierung und den Rückgriff auf ein enormes neues Angebot an billiger Arbeitskraft würde die etablierten Arbeiterklassen der Massenproduktion in den Kernländern zersetzen und die erneute Mobilisierung der Arbeiterklasse überall auf der Welt schier unmöglich machen. Mit dieser These von einem allgemeinen Wettlauf nach unten (race to the bottom) ließ sich dann aber nicht erklären, wie es zu dem weltweiten Aufschwung von Arbeiterunruhe und Klassenkämpfen seit 2008 kommen konnte. (…) Vermutlich stehen wir sogar erst am Anfang einer neuen Welle von weltweiten Mobilisierungen der Arbeiterklassen. Um zu verstehen, was sich vor unseren Augen abspielt, benötigen wir einen Ansatz, mit dem sich begreifen lässt, wie die immer wiederkehrenden Umwälzungen der Produktionsorganisation, die kennzeichnend für die gesamte Geschichte des Kapitalismus sind, nicht nur zur Zersetzung (unmaking) etablierter Arbeiterklassen, sondern auch zur Herausbildung (making) neuer Arbeiterklassen im globalen Maßstab führen. Diejenigen, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder den Tod der Arbeiter_innenklasse und der Arbeiterbewegungen verkündeten, haben sich meistens einseitig nur auf den zersetzenden Aspekt der Klassenbildung konzentriert…“ Essay von Beverly Silver veröffentlicht am 09. Oktober 2018 bei Kritisch Lesen externer Link, wichtig im Text:

  • „… Im gegenwärtigen Aufschwung begegnen wir beiden Typen der Arbeiterunruhe: Während die Streikwelle der neuen migrantischen Arbeiterklasse in China weitestgehend dem Typus einer sich neu herausbildenden Arbeiterklasse entspricht, verkörpern die Proteste gegen die Austeritätspolitik in Europa im Wesentlichen den Typus einer etablierten Arbeiterklasse, die zersetzt wird. (…) Eine Antwort der Kapitalist_innen auf die Welle der Arbeiterunruhe in China besteht darin, die Produktion an Orten mit noch günstigeren Arbeitskräften anzusiedeln. Fabriken werden von den Küstenregionen in das provinzielle Binnenland Chinas sowie in ärmere Länder Asiens wie Vietnam, Kambodscha und Bangladesch verlagert. Aber die Berichte über Streiks an diesen neuen bevorzugten Produktionsstandorten bestätigen wiederum die These, dass wohin das Kapital auch geht, die Konflikte nachfolgen. Mehr und mehr sieht es so aus, als ständen dem Kapital keine Orte mehr zur Verfügung, an die es fliehen kann. (…) Die vollständige Entfernung der menschlichen Arbeit aus dem Produktionsprozess bleibt eine Illusion. Außerdem hat die postfordistische Reorganisation der Produktion das Störpotenzial der Arbeiter_innen in einigen Sektoren sogar verstärkt – auch wenn in der Literatur meistens ausschließlich die Frage behandelt wird, wie die Arbeitermacht durch diese Veränderungen geschwächt wurde. (…) Ebenso hat die Globalisierung von Handel und Produktion die Verhandlungsmacht der Arbeiter_innen im Transport- und Kommunikationssektor erhöht, da Streiks in diesen Sektoren das Gespenst einer Störung ganzer regionaler und nationaler Ökonomien oder der globalen Lieferketten heraufbeschwören. (…) Auch wenn es also ein Fehler wäre, die gegenwärtige und zukünftige Rolle der Arbeiterkämpfe in der Produktion zu unterschätzen, dürfen wir die Bedeutung der Kämpfe auf der Straße keineswegs ignorieren. Die Verflechtung dieser beiden Seiten des Kampfes lässt sich sogar aus dem ersten Band des „Kapital“ ableiten. (…) So betrachtet, ist der historische Kapitalismus nicht nur durch einen zyklischen Prozess kreativer Zerstörung gekennzeichnet, sondern auch durch die langfristige Tendenz, bestehende Lebensgrundlagen schneller zu zerstören, als neue zu schaffen. Das verweist auf die Notwendigkeit, neben dem Protest von Arbeiterklassen, die herausgebildet (marxscher Typ) oder zersetzt (polanyischer Typ) werden, eine dritte Art von Arbeiterunruhe zu konzipieren. Diese dritte Art (für die ich keinen Namen habe) ist der Protest derjenigen Arbeiter_innen, die vom Kapital im Wesentlichen links liegen gelassen oder ausgeschlossen werden: jene Mitglieder der Arbeiterklasse, die über nichts als ihre Arbeitskraft verfügen, aber kaum die Chance haben, sie jemals in ihrem Leben verkaufen zu können. Alle drei Arten der Arbeiterunruhe ergeben sich aus unterschiedlichen Ausdrucksformen der gleichen Prozesse kapitalistischer Entwicklung. Alle drei sind im gegenwärtigen weltweiten Aufschwung von Unruhen der Arbeiterklassen erkennbar – die Proteste einer großen Zahl arbeitsloser Jugendlicher auf der ganzen Welt sind ein Paradebeispiel für unseren dritten Typ. Und das Schicksal aller drei Arten von Kämpfen ist eng miteinander verwoben. (…) Historisch betrachtet entwickelte sich der Kapitalismus jedoch Hand in Hand mit Kolonialismus, Rassismus und Patriarchat. Er spaltete die Arbeiterklasse entlang von Statuslinien (wie Staatsbürgerschaft, Ethnizität und Geschlecht) und blockierte damit ihre Fähigkeit, eine emanzipatorische Perspektive für die Klasse als Ganze zu entwerfen. Heute deutet einiges darauf hin, dass sich diese Spaltungen verfestigen – zunehmende Ressentiments gegen Fremde und Einwander_innen und Bemühungen, Migration einzuschränken und die mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Privilegien zu stärken. Aber es gibt auch Anzeichen dafür, dass diese Spaltungen in mancher Hinsicht nicht mehr funktionieren oder sogar überwunden werden könnten. Das würde Mobilisierungen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene möglich machen, in denen die Akteur_innen aller drei Arten von Arbeiterunruhe auf solidarische Weise zusammenkommen und Projekte einer transformativen Emanzipation für das 21. Jahrhundert entwickeln könnten.“
  • Der Artikel erschien zuerst in englischer Sprache im ROAR Magazine externer Link. Übersetzung: Christian Frings.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=142405
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