Geschichte einer Vereinnahmung: Wer hätte sich denken können, dass aus den Versprechen von 1968 das Materiallager des heutigen Kapitalismus würde?

68er JahreAutonomie, Selbstverwirklichung und Solidarität waren die Ideale der 68er-Bewegung. Sie führten in eine neoliberale Gegenwart, die von Ich-AGs und einer globalen Ungleichheit geprägt ist. Wenn es sie nicht gegeben hätte, man hätte sie erfinden müssen. Denn keinem historischen Ereignis der jüngeren Geschichte wird eine solch umfassende Schuldenlast aufgebürdet wie der 68er-Bewegung. Wofür soll sie nicht alles verantwortlich sein! (…) Der Rechtswissenschaftler George Turner wiederum macht die StudentInnenrevolte dafür verantwortlich, dass die «Universität als europäische Bildungsanstalt auf der Strecke» geblieben ist, während Didier Eribon, gewiss kein Rechter, aber ebenfalls Totengräber von 1968, die Rechtswende der französischen Arbeiterklasse darauf zurückführt, dass linke Intellektuelle deren Anliegen aus dem Blick verloren hätten. Das ist umso frappierender, als der Mai 1968 gerade in Frankreich den – wenn auch kurzen – Schulterschluss zwischen StudentInnen- und ArbeiterInnenschaft vorführte. Er zeigte, dass man zwar an unterschiedlichen Orten kämpfen, mit der Forderung nach Selbstverwaltung (autogestion) jedoch dasselbe Ziel verfolgen kann. Zur gleichen Zeit stellten die italienischen ArbeiterInnen die Machtfrage in den Fabriken und entwickelten ein Konzept von Autonomie (operaismo), das weit über die nationalen Grenzen ausstrahlte. Viele Linke verliessen nach 1968 die Universitäten und gingen in die Betriebe, weil sie in der arbeitenden Klasse das «revolutionäre Subjekt» erkannten. Auch wenn die erträumte Revolution ausblieb, war dies doch ein gelebtes Stück Solidarität – so wie die sich nach 1968 entwickelnde Frauenbewegung anfangs keineswegs nur dem akademischen Feminismus frönte oder den Aufstieg in die Chefetagen betrieb, sondern sich mit Gewerkschaftsfrauen und Betriebsrätinnen verbündete, um für gleichen Lohn und eine gerechtere Arbeitsverteilung zwischen den Geschlechtern zu streiten, und so wie in den USA die StudentInnen mit der Black-Panther-Bewegung gemeinsam auf die Strasse gingen, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Warum also fordert der allseits inkriminierte «Wertewandel» von 1968 derart heraus, dass selbst ehemalige ProtagonistInnen den hohen Ton der Abwehr anschlagen?…“ Beitrag von Ulrike Baureithel vom 28. Juni 2018 bei der WOZ Nr. 26/2018 externer Link

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