Eine Revolution gegen das „Kapital“? Zur welthistorischen Bedeutung der Oktoberrevolution von 1917

lunapark38Artikel von Thomas Kuczynski, erschienen in der LunaPark21 – Heft 38 vom Juni 2017

Kurz nach Ausbruch der Revolution schrieb Antonio Gramsci am 24. November 1917 in der Zeitung Avanti!: „Die Revolution der Bolschewiki […] ist die Revolution gegen das Kapital von Karl Marx.“ Diese Aussage wird vor allem von jenen gern zitiert, die mit Kautsky und Plechanov und gegen Lenin meinen, Russland sei „noch nicht reif für die sozialistische Revolution“ gewesen. Aber genau dies war nicht seiner Rede Sinn, denn Gramsci fuhr fort: „Die Tatsachen haben die kritischen Schemata zersprengt, innerhalb derer die Geschichte Russlands nach den Grundprinzipien des historischen Materialismus hätte ablaufen müssen. Die Bolschewiki ignorieren Karl Marx; sie bestätigen mit der vollendeten Aktion […], dass die Grundprinzipien des historischen Materialismus nicht so ehern sind, wie man denken könnte und gedacht hat […] und wenn die Bolschewiki einige Sätze des Kapitals leugnen, so leugnen sie doch nicht sein immanentes, belebendes Denken. Sie sind eben keine ‚Marxisten‘, das ist alles; sie haben auf dem Werk des Meisters keine oberflächliche Lehre aus dogmatischen und undiskutierbaren Behauptungen errichtet. Sie leben das marxistische Denken…“[1]

Das ist das glatte Gegenteil der Gramsci-Interpretation derer, für die es 1917 in Russland nur eine Revolution gab, die Februarrevolution, und die die Oktoberrevolution zum „Oktoberumsturz“, gar zu einer „putschistischen Aktion“ Lenins degradieren. Darüber hinaus stellt Gramsci in seinem Zeitungsartikel die Revolution in einen völlig anders gearteten historischen Kontext: „Warum sollte das russische Volk darauf warten, dass sich die Geschichte Englands in Russland wiederhole, dass sich in Russland eine Bourgeoisie bilde, dass der Klassenkampf ausbreche, damit das Klassenbewusstsein entstehe und endlich die Katastrophe der kapitalistischen Welt eintrete? Das russische Volk hat diese Erfahrungen mit dem Denken gemacht […] (und es) bedient sich ihrer, um sich jetzt zu behaupten, wie es sich der Erfahrungen des westlichen Kapitalismus bedienen wird, um sich binnen kurzem auf das Produktionsniveau der westlichen Welt emporzuarbeiten. Nordamerika ist kapitalistisch fortgeschrittener als England, weil in Nordamerika die Angelsachsen sofort in einem Stadium begonnen haben, das England erst nach einer langen Entwicklung erreichte. Das sozialistisch erzogene russische Proletariat wird seine Geschichte auf der höchsten Produktionsstufe beginnen, dort, wo England heute angelangt ist; es beginnt selbstverständlich dort, wo andere bereits eine Perfektion erreichten und von dieser Perfektion wird es den Impuls erhalten, mit dem es jene ökonomische Reife erlangt, die, laut Marx, notwendige Bedingung des Kollektivismus ist. Die Revolutionäre schaffen selbst die notwendigen Bedingungen für die vollständige Verwirklichung ihres Ideals. Sie werden es schneller erreichen als der Kapitalismus.“

Zu den Bedingungen des „Kollektivismus“ ist bei Marx, gerade mit dem Blick auf Russland, eine interessante Entwicklung zu beobachten. Stellte er im Vorwort zur Erstausgabe des Kapitals lapidar fest: „Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft“, so schränkte er diese Aussage in der französischen Ausgabe des Kapitals ein auf die „minder entwickelten, die ihm auf der industriellen Stufenleiter folgen“.[2] Wer nun fragt, was Marx zufolge in den Ländern passieren könnte, die den entwickelten nicht auf der industriellen Stufenleiter folgen, sei auf die von Engels und ihm zehn Jahre später verfasste Vorrede zur russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifests von 1882 verwiesen. Dort stellten sie die Frage: „Kann die russische Obschtschina, eine […] Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehn? Oder muss sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozess durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht?“ Und sie gaben die ihrer Meinung nach „einzige Antwort darauf, die heutzutage möglich […]: Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.“ (MEW, Bd. 19, S. 296)

Die russische Revolution vom Oktober 1917 wurde fünfunddreißig Jahre später keineswegs zu dem von ihnen erhofften „Signal einer proletarischen Revolution im Westen“, und auch die Voraussagen Gramscis erfüllten sich nicht. Die Frage, warum die Revolution nicht auf „den Westen“ übergriff, hat Rosa Luxemburg unglaublich hellsichtig und mit ungeheurer Klarheit beantwortet, übrigens auch schon am 24. November 1917, also nur wenige Tage nach dem Sieg der Bolschewiki, als sie in einem Brief an Luise Kautsky konstatierte: „Natürlich werden sie [die Bolschewiki] sich in diesem Hexensabbat nicht halten können – nicht weil die Statistik eine so rückständige ökonomische Entwicklung in Russland aufweist, wie Dein gescheiter Gatte [Karl Kautsky] ausgerechnet hat, sondern weil die Sozialdemokratie in dem hochentwickelten Westen aus hundsjämmerlichen Feiglingen besteht und die Russen, ruhig zusehend, sich werden verbluten lassen. Aber“, so fuhr sie fort, „ein solcher Untergang ist besser als ‚leben bleiben für das Vaterland‘, es ist eine weltgeschichtliche Tat, deren Spur in Äonen nicht untergehen wird.“ (Briefe, Bd. 5, S. 329)

Rosa Luxemburg formulierte hier eine gesellschaftliche Prognose jener Art, die von dem Astrophysiker Hans-Jürgen Treder eine teleskopische genannt worden ist: So wie weit entfernte Himmelskörper, durch das Teleskop betrachtet, ganz nah erscheinen, so erscheinen in weiter Zukunft liegende Ereignisse in der teleskopischen Prognose als unmittelbar bevorstehende. Denn es war nicht der von Rosa Luxemburg gemeinte Hexensabbat, in dem die Bolschewiki sich nicht halten konnten; der tatsächlich stattgefundene begann erst fünf Jahre nach ihrem Tod und zog sich über viele Jahre hin (gemeinhin wird er mit dem ziemlich nichtssagenden Etikett „Stalinismus“ versehen).

Als führender Akteur in der russischen Revolution hatte Lenin selbstverständlich eine andere Perspektive vor Augen als Luxemburg. Für ihn war Mitte Dezember 1917 „die in Russland ausgebrochene sozialistische Revolution nur der Anfang zur sozialistischen Weltrevolution“ (Werke, Bd. 26, S. 387/88). Ganz im Sinne Gramscis formulierte er im Januar 1918: „Die Dinge sind anders gekommen, als es Marx und Engels erwartet haben. Uns […] ist die ehrenvolle Rolle des Vortrupps der internationalen sozialistischen Revolution zugefallen. […] Der Russe hat begonnen, der Deutsche, der Franzose, der Engländer werden vollenden, und der Sozialismus wird siegen.“ (S. 472) Auch nach einem Jahr, im November 1918, meinte er, dass „der volle Sieg der sozialistischen Revolution in einem Lande unmöglich ist, weil er die aktivste Zusammenarbeit mindestens einiger fortgeschrittener Länder erfordert, zu denen wir Russland nicht zählen können.“ (Bd. 28, S. 145) Und noch in seiner letzten Arbeit, Lieber weniger, aber besser (erschienen am 4. März 1923) fragte er: „Wird es uns gelingen, angesichts […] der Zerrüttung unserer Wirtschaft so lange durchzuhalten, bis die westeuropäischen kapitalistischen Länder ihre Entwicklung zum Sozialismus vollenden werden?“ Und er meinte: „Aber sie vollenden diese Entwicklung nicht so, wie wir es früher erwartet haben.“ (Bd. 33, S. 487)

In der Tat haben sie es nicht vermocht, diesen Weg erfolgreich zu beschreiten. Statt dass, wie Lenin hoffte, „die ganze Welt… in eine Bewegung ein(trat), die die sozialistische Weltrevolution zur Folge haben muss“, hat der Weltkapitalismus im „Jahrhundert der Katastrophen“ (Theodor Bergmann) die Oberhand behalten, und letztlich ist daran auch die Oktoberrevolution gescheitert. Was bleibt, ist die von Rosa Luxemburg genannte „weltgeschichtliche Tat, deren Spur in Äonen nicht untergehen wird.“

Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin.  Im Herbst 2017 soll seine neue Textausgabe  von Marx‘ „Kapital“, Bd. I, erscheinen.

Anmerkungen:

1) Antonio Gramsci: Scritti politici. Bd. I, Rom 1973, S. 130/31. Vgl. auch die Übersetzungen von Christian Riechers (Gramsci: Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Frankfurt a. M. 1967, S. 23/24) und Harald Neubert (Gramsci – vergessener Humanist? Eine Anthologie. Berlin 1991, S. 31/32).

2) Vgl. MEW, Bd. 23, S. 12, bzw. MEGA2, Bd. II/7, S. 12.

Das gerade erschienene Heft 38 vom Juni 2017 von LunaPark21 – zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie – hat den Schwerpunkt “Prima Profitklima” – siehe weitere Infos und Bestellung auf der Homepage der Zeitschrift externer Link

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