[Buch] 1917 | 2017. Revolution und Gegenrevolution

[Buch] 1917 | 2017. Revolution und GegenrevolutionDer Autor stellt die Oktoberrevolution in den Zusammenhang des langen Revolutionszyklus, der mit der Französischen Revolution im Jahr 1789 eröffnet wurde und mit dem Sieg der Bolschewiki 1917 (schließlich auch mit der chinesischen Revolution) immer wieder die Frage nach der Bedeutung der »Großen Revolutionen« bzw. der »Leitrevolutionen« für die Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aufgeworfen hat. Der Zyklus des Aufstiegs und Niedergangs der Sowjetunion wird im Kontext der großen weltpolitischen und weltgeschichtlichen Widerspruchskonstellationen des 20. Jahrhunderts untersucht. Was Revolution in den Ländern des entwickelten Kapitalismus heute heißen kann, ist Gegenstand des abschließenden Kapitels.“ Umschlagtext zum gerade erschienen Buch von Frank Deppe im VSA-Verlag (256 Seiten, 2017, EUR 19.80, ISBN 978-3-89965-754-8). Siehe zum Buch weitere Infos bei Verlag und eine Leseprobe – wir danken unserem Vereins-Gründungsmitglied!

  • Interregnum: wenn »das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann«
    Kapitel 4, 11. (S. 238ff) aus dem Buch als Leseprobe im LabourNet Germany:

Interregnum: wenn »das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann«

Dieses knappe Resümee von Strängen in der gegenwärtigen Debatte über die Krise und das mögliche Ende des Kapitalismus kann und will keine gründliche kritische Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen leisten. [31]

Der Hinweis darauf soll die These untermauern, dass der Kapitalismus nach dem Ende des Kalten Krieges und des »realen Sozialismus« – vor allem aber nach der Großen Krise von 2008 – in eine Periode krisenhafter Stagnation und extrem ungleicher Entwicklung eingetreten ist, die auf der Ebene der intellektuellen und wissenschaftlich-theoretischen Refl exion dieser Widersprüche nicht nur negative Utopien verschiedenster Art (Katastrophenszenarios), sondern auch Varianten einer postkapitalistischen Perspektive hervorgebracht hat. Nach Antonio Gramsci (1991ff.: 354) zeichnet sich ein »Interregnum« als eine krisenhafte Übergangsperiode aus, in der »das Alte stirbt und das Neue nicht zu Welt kommen kann«. [32]

Im Blick auf das »Zeitalter der Katastrophen« sprach er von einer »Autoritätskrise «. »Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, d.h. nicht mehr führend, sondern einzig herrschend ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den  traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. … in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen«. An anderer Stelle bezeichnet Gramsci die Autoritätskrise (»organische Krise«) als »Hegemoniekrise oder Krise des Staates in seiner Gesamtheit«. Angesichts der »tödlichen Gefahr« (das wäre die proletarische Revolution) schließen sich alle Parteien und Gruppen des (alten) herrschenden Blocks »unter einer einzigen Führung« zusammen, »die als einzige für fähig gehalten wird, ein existentiell dominantes Problem zu lösen und eine tödliche Gefahr anzuwenden« (ebd.: 1578). An Gramscis Begriff des Interregnums wird in der gegenwärtigen Debatte immer wieder erinnert. Allerdings war Gramsci davon überzeugt, dass das Interregnum schließlich durch den Sieg der proletarischen Kräfte, durch den Übergang zum Sozialismus beendet wird. Diese Zuversicht fehlt heute und daraus erklärt sich zum Teil auch der eher pessimistische Unterton der Zeitdiagnosen. Streeck z.B. (2016: 68) bezeichnet das »postkapitalistische Interregnum … als eine verlängerte Periode der sozialen Entropie, der radikalen Ungewissheit und Unbestimmtheit, in der die Gesellschaft unregierbar wird und – angesichts eines sich desintegrierenden Staatensystems – eine neue Weltordnung nicht erkennbar ist«.

Der 2015 verstorbene Schriftsteller Günter Grass forderte 2013 in einer Rede vor Journalisten radikale Antworten: »Das Auseinanderdriften in eine Klassengesellschaft mit verarmender Mehrheit und sich absondernder reicher Oberschicht, der Schuldenberg, dessen Gipfel mittlerweile von einer Wolke aus Nullen verhüllt ist, die Unfähigkeit und dargestellte Ohnmacht freigewählter Parlamentarier gegenüber der geballten Macht der Interessenverbände und nicht zuletzt der Würgegriff der Banken machen aus meiner Sicht die Notwendigkeit vordringlich, etwas bislang Unaussprechliches zu tun, nämlich die Systemfrage zu stellen.« Schnell fügte er hinzu, dass er seine Zuhörer auf keinen Fall zur Revolution, sondern zum Stellen kritischer Fragen auffordern wolle.

Darin reflektiert sich noch das Bewusstsein, dass wir uns in der Epoche eines krisenhaften »Interregnums«, in der über das Ende des Kapitalismus bzw. über den Postkapitalismus diskutiert wird, noch ganz am Anfang befi nden. Die historische Eigenart dieses Interregnums besteht ja gerade darin, dass ihm bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eine säkulare Niederlage der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung vorausging, die entweder die russische Oktoberrevolution und die Entwicklung der Sowjetunion oder die Erfolge der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften bei der Ausgestaltung eines »demokratischen Kapitalismus« (Streeck) in West- und Nordeuropa zum Vorbild hatte. Der Optimismus der Sozialisten war immer auch von der Überzeugung getragen, dass die historische Tendenz der Kapitalakkumulation eine Wechselwirkung von sozialökonomischen Vergesellschaftungs- und Krisenprozessen sowie von Veränderungen der politischen Kräfteverhältnisse durch den Klassenkampf hervorbringt, die dann ihrerseits die Frage der Machtübernahme und einer postkapitalistischen Zukunft auf die Tagesordnung der Geschichte setzen wird. Der Sieg des Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts hat nicht nur diesen Bewegungen, sondern auch den Überzeugungen, die sie getragen haben, einen schweren Schlag versetzt.

Lenins Begriffsbestimmung einer revolutionären Situation erinnert daran, wie weit die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften den Staaten der Gegenwart davon entfernt sind, dass die alte Ordnung und ihr Staat zusammengebrochen sind und »von unten« Massenbewegungen der Arbeiter, Bauern und Soldaten schon dabei sind, die alten Verhältnisse umzuwälzen und Strukturen der Selbstverwaltung (Räte) aufzubauen. Lenin sprach noch davon, dass die herrschende Klasse (von oben) nicht mehr kann und will, während das Proletariat von unten die alte Herrschaft durch Massenaktionen infrage stellt und gleichzeitig über eine strategisch kluge politische Führung verfügt. Auch hier erinnert die Gegenwartserfahrung daran, dass die Modelle der Revolutionen zwischen 1789 und 1917 nicht ins 21. Jahrhundert übertragen werden können. Diese Revolutionen fanden in Staaten der Peripherie mit überwiegender bäuerlicher Bevölkerung statt; das Bündnis von Arbeitern und Bauern war Bedingung für eine erfolgreiche Revolution. Der Zusammenbruch der Alten Regime am Ende des Ersten Weltkrieges – vor allem in den Staaten, deren Armeen den Krieg verloren hatten (Deutschland, Österreich, Russland) – wiederholte sich am Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde aber schon im Rahmen der neuen Kräfteverhältnisse in der Welt in andere Bahnen gelenkt.

Die Oktoberrevolution wirkte auf die antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungsbewegungen, die meist – an der Peripherie des Weltsystems – in unterentwickelten Agrargesellschaften Erfolg hatten. Doch das ist längst Geschichte geworden. Massenelend und »gescheiterte Staaten« (failed states) in den Regionen der Peripherie erzeugen Bürgerkriege und religiösen Fanatismus, aber keine revolutionären Bewegungen, die sich auf das Vorbild des Jahres 1917 beziehen.

Die neueren sozialistischen Bewegungen und Regierungen in Lateinamerika haben den parlamentarischen, d.h. legalen Weg zur Macht beschritten und bekannten sich eher zum Modell einer sozialdemokratischen Transformationsstrategie. Inzwischen sind einige dieser Regierungen gescheitert; die antisozialistische Rechte ist an die Macht zurückgekehrt. Die Linke – vor allem die revolutionäre Linke, die sich auf das Vorbild der Oktoberrevolution bezieht – befi ndet sich in der Defensive. Das Bewusstsein vom Eintritt in eine Periode des Interregnums, die durch den Niedergang der alten Ordnung bestimmt ist, verbindet sich nicht mit der Erfahrung des Aufschwungs neuer revolutionärer Bewegungen, die sich als sozialistisch oder kommunistisch bezeichnen. In den Elendsregionen der Weltgesellschaft brechen Staaten zusammen, Bürgerkriege und militärische Interventionen von außen verwüsten das Land und religiöser Fanatismus breitet sich aus. Kurzum: Alle diese Konstellationen sind weit entfernt von den revolutionären Erfahrungen, die mit der Oktoberrevolution verbunden sind, aber auch von den Widersprüchen und Perspektiven, über die in der Debatte über Interregnum und Postkapitalismus gesprochen wird.

Anmerkungen

31) Vgl. dazu u.a. die ausführliche Kritik von Christian Fuchs (2016) an Mason, der mit seinen Thesen immerhin weltweite Aufmerksamkeit erzielte. Fuchs kritisiert den problematischen Bezug auf die Marx’sche Theorie der kapitalistischen Entwicklung und die Theorie der »Langen Wellen« (Kondratieff) als auch dessen These über das Verschwinden der lebendigen Arbeit aus dem kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozess.

32) Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1952: 15f.) hat in der Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes« (1807) die Zeiterfahrung als »Epochenschwelle« folgendermaßen formuliert: »Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, dass unsre Zeit eine Periode der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern immer in fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht – ein qualitativer Sprung, – und jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baus seiner vorhergehenden Welt nach dem anderen auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, dass etwas anderes im Anzuge ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht verändert, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.«

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=119501
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