Arbeiterklasse und NSDAP

2. Mai 1933: Zerschlagung der GewerkschaftenEin ungeschminkter Auszug: Die auffälligen und dramatischen Veränderungen bei den Wahlergebnissen schienen darauf hinzudeuten, dass sich die Wähler innerhalb der jeweiligen politischen Lager neu orientierten, dass also auf der Linken allmählich immer mehr Wähler von der SPD zur KPD wechselten und dass die NSDAP ihren Zuwachs dem Wählerreservoir der bürgerlich-protestantischen Parteien verdankte. Ein Austausch zwischen den verschiedenen Blöcken schien so gut wie gar nicht stattgefunden zu haben. Wechselwähler aus dem „linken“ oder aus dem „katholischen“ Lager zur NSDAP waren demnach extreme Ausnahmen. Die hier umrissene These von der mittelständisch geprägten sozialen und parteipolitischen Herkunft der nationalsozialistischen Massengefolgschaft wurde zur herrschenden Lehre, die bis heute Eingang in Gesamtdarstellungen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus gefunden hat…“ Zusammenfassung von Reinhold Schramm vom 12.10.2016 aus dem Buch von Peter Borowsky: Wer wählte Hitler und warum? Ein Bericht über neuere Analysen der Wahlergebnisse 1928 bis 1933:

Arbeiterklasse und NSDAP

Ein ungeschminkter Auszug:

Die auffälligen und dramatischen Veränderungen bei den Wahlergebnissen schienen darauf hinzudeuten, dass sich die Wähler innerhalb der jeweiligen politischen Lager neu orientierten, dass also auf der Linken allmählich immer mehr Wähler von der SPD zur KPD wechselten und dass die NSDAP ihren Zuwachs dem Wählerreservoir der bürgerlich-protestantischen Parteien verdankte. Ein Austausch zwischen den verschiedenen Blöcken schien so gut wie gar nicht stattgefunden zu haben. Wechselwähler aus dem „linken“ oder aus dem „katholischen“ Lager zur NSDAP waren demnach extreme Ausnahmen.

Die hier umrissene These von der mittelständisch geprägten sozialen und parteipolitischen Herkunft der nationalsozialistischen Massengefolgschaft wurde zur herrschenden Lehre, die bis heute Eingang in Gesamtdarstellungen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus gefunden hat.

Der amerikanische Wahlforscher Samuel Pratt wiederum entdeckte, dass die Tendenz von Arbeitern, ihre Stimme der KPD oder der NSDAP zu geben, stark von der Betriebsstruktur abhängig war. Für die Großstädte des Deutschen Reiches errechnete Pratt eine eindeutig negative Korrelation zwischen dem Prozentsatz der Beschäftigten in Großbetrieben und dem NSDAP-Stimmenanteil. Umgekehrt proportional dazu verhielt sich der KPD-Stimmenanteil. Positiv hingegen war der Zusammenhang zwischen dem Anteil der Beschäftigten in staatlichen und kommunalen Versorgungs und Dienstleistungsunternehmen und dem Anteil der NSDAP-Stimmen.

Aus seiner eigenen und verschiedenen anderen Regionalstudien zog der amerikanische Wahlsoziologe Waldmann 1973 den Schluss, dass die NSDAP „auch die Unterstützung eines nicht unbeträchtlichen Anteils der Arbeiterklasse genoss“. Diese Ansicht Waldmanns und anderer neuer Untersuchungen über die NSDAP-Wähler findet in den Resultaten neuerer Detail-Analysen über die Mitgliedschaft der NSDAP und ihrer Untergliederungen, wie SA und SS, Unterstützung.

Sie ergeben alle und übereinstimmend eine wesentlich höhere Anfälligkeit von Arbeitern gegenüber der NSDAP, als lange Jahre angenommen worden war. So betrug der Arbeiteranteil unter den neu eintretenden NSDAP-Mitgliedern zwischen 1925 und 1930 rund 40 und zwischen 1930 und 1933 rund 36 Prozent. Unter den SA-Mitgliedern lag er zwischen 1929 und 1933 über 60 Prozent. In die gleiche Richtung scheint auch die soeben erschienene Studie von Michael Ruck über die Anfänge der NSDAP zu gehen. Danach bestand die Mitgliedschaft der NSDAP 1923 zu einem Drittel aus (Hand-)Arbeitern.

Seit Anfang der achtziger Jahre haben vor allem die Arbeiten von Jürgen W. Falter die Aufmerksamkeit auf die Arbeiterwähler der NSDAP gelenkt und der Erforschung der Wählerströme in der Weimarer Republik insgesamt neue Impulse gegeben. Falters Analysen beschränken sich nicht mehr auf einzelne Regionen Deutschlands, sondern versuchen das gesamte Reichsgebiet abzudecken. Sie beruhen auf einem Datensatz, der im Rahmen eines von der VW-Stiftung finanzierten Forschungsprojekts erstellt worden ist. Er enthält Informationen auf der Ebene von über 1000 Stadt und Landkreisen des Deutschen Reiches, die wegen der verschiedenen Verwaltungs- und Gebietsreformen zu 831 zwischen 1920 und 1933 geographisch und bevölkerungsmäßig stabilen Kreiseinheiten zusammengefasst worden sind.

Falters Bemühungen kreisen um die Frage, welchen Anteil die Arbeiter an den Wahlerfolgen der NSDAP gehabt haben.

Was aber heißt hier Arbeiter?

Als Arbeiter wurde in der deutschen Statistik gezählt, wer seine Sozialversicherungsbeiträge bei der Invalidenversicherung und nicht bei der Angestellten-Versicherung zu entrichten hatte: also nicht, wer sich selbst als Arbeiter bezeichnete oder wer nach soziologischen Gesichtspunkten zur Klasse oder Schicht der Arbeiter gerechnet wurde. Daher zählte zu den Arbeitern der ostpreußische oder pommersche Landarbeiter, der in der Stunde 10 Pfennig verdiente, der Vorarbeiter, der seit 30 Jahren im selben Familienbetrieb beschäftigt war, der jugendliche Hilfsarbeiter in einer oberschlesischen Eisenhütte, der Heimarbeiter aus dem Erzgebirge und der sogenannte Tagelöhner auf eigene Rechnung.

Manche dieser Arbeiter standen in täglichem Kontakt mit „ihrer“ Gewerkschaft oder Partei, andere hatten von diesen kaum etwas gehört und richteten ihre politische Willensbildung nach den Empfehlungen des Gutsbesitzers oder -verwalters oder nach den Vorstellungen des mittelständischen Betriebsinhabers, mit dem sie in engem Kontakt lebten.

Ebensowenig wie die beiden mittelständischen Teilgruppen bildeten also die Arbeiter eine sozial homogene Schicht oder gar Klasse, die sich durch gemeinsame Lebensumstände und/oder Mentalität ausgezeichnet hätte. Und es erscheint daher unrealistisch, dass „die Arbeiter“ ein homogenes Wahlverhalten an den Tag gelegt hätten.

Tatsächlich erreichten die beiden klassischen Arbeiterparteien – SPD und KPD – mit Ausnahme der Wahlen zur Nationalversammlung 1919 gemeinsam in der Regel nur rund 30 Prozent (1933: 27 Prozent) der Wahlberechtigten. Das bedeutet, dass mindestens ein Drittel der wahlberechtigten Arbeiter regelmäßig für andere Parteien gestimmt haben muss. In Wirklichkeit dürften es noch mehr gewesen sein, denn zumindest die SPD ist nicht nur von Arbeitern, sondern auch von Angehörigen der unteren Mittelschichten gewählt worden.

Der Zusammenhang zwischen NSDAP-Erfolgen und dem Prozentsatz der Arbeiter in der Stahl- und Eisenindustrie, die vorwiegend in Großbetrieben organisiert waren, ist deutlich negativ.

Dagegen korreliert der NSDAP-Stimmenanteil 1932 und 1933 leicht positiv mit dem Anteil der Arbeiter in den eher mittelständisch strukturierten metallverarbeitenden Betrieben.

Ähnliches gilt für den Anteil von Arbeitern in Handwerksbetrieben und – wie schon gesagt – für den Anteil von Arbeitern in kommunalen Versorgungsunternehmen.

Für die Arbeiter ergibt sich folgendes Bild:

Während Landarbeiter relativ oft die NSDAP gewählt zu haben scheinen, erwiesen sich die Arbeiter in Industrie und Gewerbe in den hier analysierten vier Wahlen als weitgehend resistent gegenüber dem Nationalsozialismus. Das gleiche gilt aber auch für erwerbslose Arbeiter! Eine Erklärung könnte sein, dass für die erwerbslosen Arbeiter die Attraktivität der KPD gegenüber der SPD stieg.

Umgekehrt sind vermutlich in erster Linie erwerbstätige Arbeiter und Angehörige der Neuen Mittelschicht von der SPD zur NSDAP abgewandert.

Bei den Arbeiterwählern der NSDAP handelte es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eher bürgerlich oder nationalistisch orientierte Arbeiter, die früher für Parteien des bürgerlich-protestantischen Lagers gestimmt hatten oder gar nicht zur Wahl gegangen waren.

Daß es sich bei den NSDAP-Wählern aus der Arbeiterschaft um „atypische Arbeiter“ (Heinrich August Winkler) gehandelt haben dürfte – also Landarbeiter, Beschäftigte in mittelständischen Unternehmen und kommunalen Versorgungsbetrieben oder auch Heimarbeiter wie in Sachsen und Thüringen –, ändert nichts daran, dass die lange geltende These von der NSDAP als einer reinen Mittelstandspartei modifiziert werden muss.

Hatte die Resistenzhypothese angenommen, dass zwischen dem sozialistischen Lager und der NSDAP so gut wie keine Wählerwanderung stattgefunden habe und der Wählerzuwachs der NSDAP fast ausschließlich aus dem bürgerlich-protestantischen Lager gekommen sei, so behaupten Falter/Hänisch, dass mit Ausnahme der Novemberwahlen von 1932, wo der Stimmenanteil der NSDAP ja um rund 4 Prozentpunkte zurückging, die NSDAP sowohl von der KPD und SPD als auch vom Zentrum und von der BVP relativ mehr Stimmen gewinnen konnte, als sie an diese Parteien verlor. Dabei sind die relativen, d. h. auf die eigene Ausgangsstärke bezogenen, Verluste der SPD an die NSDAP sehr viel stärker als die der KPD.

Im Vergleich zum bürgerlich-protestantischen und zum Nichtwählerlager allerdings sind die relativen Verluste sowohl des sozialistischen als auch des katholischen Lagers eher gering. Und zwischen 1930 und Juli 1932 verlor die NSDAP auch wieder jeweils 4 Prozent ihrer Wähler an das katholische und an das sozialistische Lager.

Von den im Saldo knapp 17 Millionen neuen Stimmen der NSDAP nach 1928 kamen nach Schätzungen von Falter/Hänisch gut 2,5 Millionen aus dem sozialistischen Lager, 7,4 Millionen aus dem bürgerlichprotestantischen Lager, und 6 Millionen waren frühere Nichtwähler.

Insgesamt wird also Burnhams Resistenzhypothese durch diese Ergebnisse bestätigt, wenn auch der Anteil des sozialistischen Lagers am Netto-Gesamtgewinn der NSDAP mit 16,4 Prozent durchaus eine nennenswerte Größe darstellt.

Falters Fazit ist daher, dass die NSDAP 1932 tendenziell den Charakter einer rechtsradikalen Volkspartei annahm, die zwar immer noch erheblich stärker von Mittelschichtsangehörigen als von Arbeitern gewählt wurde, die aber immerhin auch rund 5 Millionen Arbeiter für ihre Ziele zu mobilisieren vermochte.

Folgt man den Erkenntnissen der neuesten Wahlforschung, dass die Wählerschaft der NSDAP erheblich heterogener zusammengesetzt war, als die Mittelstands-These behauptete, dass vor allem bestimmte Arbeitergruppen ihre Stimme für die NSDAP abgegeben haben, dann lässt das Rückschlüsse auf die Massenbasis des Nationalsozialismus nicht nur als Bewegung, sondern auch als System zu.

Diese Befunde sind geeignet, die These von Gunther Mai, die Arbeiterschaft habe Hitler auch nach 1933 an der Macht gehalten, zu unterstützen.

Die von Mai betonten Erfolge des nationalsozialistischen Herrschaftssystems und der Deutschen Arbeitsfront (DAF) bei der Integration der Arbeiter waren demnach bereits vor 1933 angelegt. Die DAF brauchte nach Zerschlagung der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Kapitulation des politischen Katholizismus nur noch an das vorhandene Integrationsbedürfnis anzuknüpfen.«

[Ein ungeschminkter Auszug, vgl.]

Quelle: Peter Borowsky: Wer wählte Hitler und warum? Ein Bericht über neuere Analysen der Wahlergebnisse 1928 bis 1933. Aus: Peter Borowsky: Schlaglichter historischer Forschung. Studien zur deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Aus dem Nachlass herausgegeben von Rainer Hering und Rainer Nicolaysen. S. 235-253 externer Link [- ein Auszug. – R.S.]

12.10.2016, Reinhold Schramm

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