[Buch] „Weg vom Zwang zur Arbeit“: Die Zukunft erfinden, Postkapitalismus und eine Welt ohne Arbeit.

[Buch von Nick Srnicek und Alex Williams] Die Zukunft erfinden, Postkapitalismus und eine Welt ohne Arbeit.Nick Srnicek und Alex Williams, Verfasser des von ihnen im Mai 2013 online publizierten „Manifest für eine akzelerationistische Politik“, das später auch auf Deutsch in dem von Armen Avanessian herausgegebenen Buch »#Akzeleration« externer Link (Merve) erschien und viele Diskussionen über die Linke hinaus ausgelöst hat, versuchen in ihrem jüngsten Buch „Die Zukunft erfinden – Postkapitalismus und eine Welt ohne Arbeit.“ ihren Ideen, den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen und seinen Zusammenbruch herbeizuführen, eine theoretische Grundlage zu verleihen. In unserem umfangreichen Beitrag zum Buch im Verlag Klaus Bittermann/Edition Tiamat finden sich – neben den üblichen Grundinformationen zum Buch – eine Buchempfehlung von Ulrich Leicht und eine exklusive Leseprobe aus den Kapiteln 2, 5 und 6 mit einem Plädoyer für ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“:

  • Im Ankündiungstext des Verlages heißt es: „‘Die Zukunft erfinden ist ein Manifest für das Leben nach dem Kapitalismus. Gegen die Konfusion, die politisch links wie rechts herrscht, wenn es darum geht, unsere High-Tech-Welt zu verstehen, stellt sich das Buch der Aufgabe, das emanzipatorische und zukunftsorientierte Potential der heutigen Gesellschaften zurückzuerobern. Statt einer komplizierten Zukunft auszuweichen, zielen Nick Srnicek und Alex Williams auf eine postkapitalistische Ökonomie, die es erlaubt, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, die Arbeit abzuschaffen und Technologien zu entwickeln, die unsere Freiheiten erweitern
  • Der vor kurzem im Alter von 48 Jahren verstorbene auch hierzulande bekannte britsche Kulturjournalist und Kapitalismuskritiker Mark Fisher (Autor von Kapitalistischer Realismus und Gespenster meines Lebens) würdigte dieses Buch: Die Zukunft erfinden kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Wohlüberlegt und sorgfältig entwirft das Buch ein klares und stringentes Bild einer postkapitalistischen Gesellschaft. Und es umreißt, gleichermaßen wichtig, ein überzeugendes Programm, um das endlose kapitalistische Elend hinter uns zu lassen und eine von Arbeit befreite Welt zu schaffen.“
  • Und Paul Mason, (Autor von Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie) schrieb: „Ein überzeugendes Buch: Es zeigt nicht nur, wie die postkapitalistische Welt mit ihren ständigen technologischen Innovationen Voraussetzungen schafft, uns zu befreien, sondern auch, wie wir uns organisieren können, um dorthin zu gelangen. Eine Pflichtlektüre.“

Im Folgenden eine Buchempfehlung von Ulrich Leicht und eine exklusive Leseprobe aus den Kapiteln 2, 5 und 6 mit einem Plädoyer für ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“

(Zu diesem Thema findet heute (30.1.2017) auch eine Veranstaltung mit der Redakteurin von LabourNet – Mag Wompel – in Dortmund statt externer Link)

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Buchempfehlung von Ulrich Leicht

Seit seinem Erscheinen in englischer Originalsprache 2015 erntete das Buch der beiden jungen Briten Nick Srnicek und Alex Williams neben viel Lob durchaus auch herbe Kritik. Unter anderem hieß es, „weltfremde Akademiker“, gössen mit ihrer „Beschleunigungsthese“ (der weltweiten Technologisierung – „linke Modernität“) eher Wasser auf die Mühlen eines Neoliberalismus, als einer antikapitalistische Perspektive den Weg zu bahnen. Ein näherer Blick in die jetzt erschienene deutsche Ausgabe bei der „Edition Tiamat“ durch Klaus Bittermann kann eine solche Einschätzung nicht bestätigen.

In den acht Kapiteln, einer Einleitung und Schlußbetrachtung ihres Buches „Die Zukunft erfinden“:

– 1. Unser politischer Common Sense: Folk-Politik – 2. Eine Kritik der Linken heute – 3. Die Machart neoliberaler Hegemonie – 4. Linke Moderne – 5. Die Zukunft arbeitet nicht – 6. Nach der Arbeitsgesellschaft – 7. Ein neuer Common Sense – 8. Macht aufbauen

plädieren Srnicek und Williams für eine neue linke Politik, eine „populistische Linke“ als Antwort auf eine von ihnen diagnostizierte zu kritisierende „Folklorepolitik“, worunter sie die Fetischisierung von Unmittelbarkeit als Lösung politischer Probleme verstehen, das Bedürfnis, Politik auf lokaler Ebene zu betreiben und das Spontane über das Strategische zu stellen – etwa in Bewegungen wie Occupy. Diese „sei“ wie sie in einem TAZ-Interview unterstreichen, „natürlich wichtig, aber in den letzten Jahren haben Teile der Linken in der Unmittelbarkeit den einzigen politischen Horizont gesehen. Statt die Gesellschaft als Ganzes in den Blick zu nehmen, hat das nur marginale Communitys am Rand der Gesellschaft geschaffen und defensive Bunker, um dem Kapitalismus zu widerstehen. Die Defensive ist oft wichtig, aber sie ist ineffizient.“ Die Autoren sind deshalb aber nicht so weltfremd als z.B. angesichts eines erzkonservativen „Zukunft-Projekts“ wie dem unter Trump in den USA, beispielsweise dortige Initiativen wie „Standing Rock“ zur erfolgreichen Verhinderung einer Pipeline in Dakota, oder das Knüpfen solidarischer Netzwerke wie „Black lives Matter“ und generell den Einsatz für Rechte von Minderheiten und Migranten als wichtige unmittelbare Überlebens-Aktivitäten gut zu heissen.

Im Weiteren lassen wir die Autoren weitgehend selber zu Wort kommen, um ihr Anliegen und ihre durchaus diskussionswürdigen Positionen darzulegen:
Wo ist die Zukunft geblieben? Beinahe das gesamte 20. Jahrhundert hindurch waren unsere Phantasien von ihr beherrscht: Emanzipatorische Entwürfe aller Art bil­deten den politischen Horizont der Linken, und oft ver­band sich in ihnen die Vorstellung demokratischer politi­scher Macht mit Visionen vom befreienden Potential der Technologie. Von den Verheißungen einer Welt der Mu­ße bis zum sowjetischen kosmischen Kommunismus, vom afrofuturistischen Zelebrieren des synthetischen und diasporischen Charakters schwarzer Kultur bis zu den Post-Gender-Entwürfen des radikalen Feminismus ima­ginierten die in der Linken populären Erzählungen gesell­schaftliche Verhältnisse, die alles, was wir heute erträu­men, in den Schatten stellen.
Eine öffentliche politische Kontrolle neuer Technolo­gien sollte die Welt zum Besseren wenden. Heute nun er­scheint die Verwirklichung solcher Träume tatsächlich in greifbare Nähe gerückt. Die technologische Infrastruktur des 21. Jahrhunderts stellt Ressourcen bereit, mit denen sich grundlegend andere politische und ökonomische Verhältnisse realisieren ließen. Maschinen erledigen Aufgaben, deren Automatisierung noch vor einem Jahr­zehnt undenkbar erschien. Das Internet und die sozialen Medien geben Milliarden Menschen eine Stimme, die bislang zu schweigen gezwungen waren, und bringen so die Möglichkeit einer globalen partizipatorischen Demo­kratie näher denn je. Open Source-Design, auf Copyleft bauende Kreativität und neue Technologien wie der 3D­Druck lassen eine Welt erahnen, in der die Knappheit vieler Güter überwindbar würde. Avancierte Methoden der Computersimulation könnten der Wirtschaftsplanung neue Perspektiven eröffnen und uns in die Lage verset­zen, ökonomische Prozesse in einem bislang nicht ge­kannten Maß rational zu lenken. Die neueste Welle der Automation schafft die Möglichkeit, ganze Sparten öder und erniedrigender Arbeiten dauerhaft abzuschaffen. Auf erneuerbaren Energieträgern beruhende Technologien ermöglichen eine praktisch unbegrenzte und ökologisch nachhaltige Energieerzeugung. Und Neuerungen in der Medizin erlauben nicht nur ein längeres und gesünderes Leben, sondern eröffnen auch neue Möglichkeiten, mit Genderkategorien und sexuellen Identitäten zu experi­mentieren. Viele klassische linke Forderungen – die For­derung nach weniger Arbeit, das Streben danach, dem Mangel ein Ende zu setzen und gesellschaftlich nützliche Güter zu produzieren, und nicht zuletzt das Ziel, die Menschheit zu befreien – sind heute materiell viel eher erfüllbar als je zuvor in der Geschichte.
Und dennoch umgeben uns, trotz des makellos scheinenden Glanzes unseres Technologiezeitalters, weiterhin überkommene und antiquierte gesellschaftliche Verhältnisse Glanzes unseres Technologiezeitalters, weiterhin überkommene und antiquierte gesellschaftliche Verhält­nisse
. (…)
Im Weltmaßstab betrachtet, sehen die Dinge noch düsterer aus. Der globale Klimawandel geht unvermindert weiter, und inmitten der anhaltenden Wirtschaftskrise setzen Regierungen unbeirrt auf die lähmende Abwärtsspirale der Austeritätspolitik. Von kaum greifbaren, abstrakten Mächten bedrängt, fühlen wir uns außerstande, dem Mahlstrom ökonomischer, sozialer oder ökologischer Erschütterungen zu entgehen oder ihn gar zu kontrollieren. Doch wie ließe sich das ändern? Rund um uns scheinen die in den vergangenen hundert Jahren tonangebenden politischen Zusammenhänge, gesellschaftlichen Bewegungen und Strömungen nicht länger in der Lage, Transformationsprozesse und echte Veränderungen in Gang zu setzen. Stattdessen zwingen sie uns ständig zurück ins Hamsterrad unseres Elends. Der Verfall der repräsentativen Demokratie ist frappierend. Mitte-links-Parteien sind ausgelaugt und stehen ohne jegliche breitere Zustimmung aus der Bevölkerung da. Einzig ihre toten Hüllen taumeln weiter und bieten karrieristischen Ambitionen ein Vehikel. Radikale politische Bewegungen blühen vielversprechend auf, doch Erschöpfung und Repression nehmen ihnen alsbald den Atem. Die Gewerkschaften haben erleben müssen, wie ihre Macht systematisch demontiert wurde, und die verbliebenen sklerotischen Strukturen bringen kaum mehr als eine schwache Gegenwehr zustande. Doch ungeachtet dieses ganzen Dilemmas mangelt es politisch heute hartnäckig an neuen Ideen. Seit Jahrzehnten herrscht der Neoliberalismus, und die Sozialdemokratie existiert im Wesentlichen nur noch als Objekt nostalgischer Anwandlungen. Während die Krisen heftiger werden und immer mehr Fahrt aufnehmen, welkt Politik dahin und zieht sich zurück. (Anm. 2: Einen Überblick über verschiedene Ansätze, das Entstehen des Kapitalismus zu erklären, bietet Ellen Meiksins Wood, Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche, übers. von Harald Etzbach, Hamburg: Laika, 2015, Kap. 1–3.)

Dieses Buch handelt davon, wie wir an diesen Punkt gelangten und wohin es demnächst gehen könnte. Betrachten wir, was wir »Folk-Politik« nennen, lässt sich sagen, wie und warum uns die Fähigkeit abhandenkam, uns eine bessere Zukunft zu bauen. Unter der Dominanz eines folkloristisch-politischen Denkens führte der jüngste Zyklus von Kämpfen – in der globalisierungskritischen ebenso wie in der Antikriegsbewegung oder bei Occupy Wall Street – zu einer Fetischisierung lokaler Räume, der Unmittelbarkeit und des Ephemeren sowie zu allen möglichen Partikularismen. Statt die Mühe auf sich zu nehmen, einmal Erreichtes zu konsolidieren und weiter zu entwickeln, zielte diese Art der Politik darauf ab, sich gegen die Zumutungen des globalen Neoliberalismus Zufluchtsorte einzurichten.

So blieb sie eine Politik, die defensiv orientiert und außerstande war, eine neue Welt zu entwerfen oder gar an ihr zu bauen. Für Bewegungen, die darum kämpfen, dem Neoliberalismus zu entkommen und etwas Besseres zu schaffen, ist eine solche Folk-Politik zu wenig. Das vorliegende Buch umreißt daher eine andere Art Politik, eine, der es darum geht, die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen und den Wunsch nach einer Welt zu fördern, die moderner ist, als der Kapitalismus erlaubt. Die den technologischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts inhärenten utopischen Potentiale dürfen nicht an das unter dem Kapitalismus Vorstellbare gefesselt bleiben; eine ambitionierte linke Alternative muss sie befreien. Der Neoliberalismus ist gescheitert, der sozialdemokratische Weg unmöglich, nur mit einer ganz anderen Sicht der Dinge lassen sich allgemeiner Wohlstand und umfassende Emanzipation gewinnen. Eine solche bessere Welt zu entwerfen und zu schaffen, ist die grundlegende Aufgabe der Linken heute.“ (aus der Einleitung S. 7-11)

Über die weiteren Inhalte des Buches heißt es am Ende des 1. Kapitels:

Die Kritik von Folk-Politik, die wir in diesem Buch vor­stellen, bemüht sich ebenso sehr um eine Situationsbeschreibung wie sie sich als Warnung versteht. Tenden­ziell sind heute sowohl die Mehrheitslinke als auch die radikale Linke bereit, auf eine solche Politik einzu­schwenken. Wir möchten dazu beitragen, diesen Trend umzukehren. Die erste Hälfte unseres Buchs setzt es sich daher zum Ziel, der zunehmenden Dogmatisierung heuti­ger politischer Strategien und Praxisformen entgegenzu­treten. Ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnah­me des gegenwärtigen politischen Feldes ist Kapitel 2 bemüht, die Beschränktheiten des folkpolitischen Ansat­zes nachzuzeichnen und zu analysieren. Kapitel 3 zeigt, wie der Neoliberalismus auf den Weg des Erfolges ein­schwenkte, während die Linke es versäumte, Hegemonie aufzubauen und sich breiter zu verankern. In der zweiten Hälfte des Buchs umreißen wir ein linkes Projekt globaler und universeller Emanzipation, als eine Alternative zu Folk-Politik. Kapitel 4 argumentiert, eine zukunftsorien­tierte Linke müsse die Modernisierungsinitiative zurück­erobern und nachdrücklich für Fortschritt und universelle Befreiung eintreten. Kapitel 5 skizziert die wichtigsten Tendenzen des gegenwärtigen Kapitalismus und legt da­bei den Akzent insbesondere auf die Krise der Arbeit und die gesellschaftliche Reproduktion. Die analysierten Tendenzen verlangen eine Antwort, und wir meinen, die Linke sollte anfangen, progressive gesellschaftliche Kräfte politisch zu mobilisieren. Im Gegensatz zur heute herrschenden Konzentration auf Schulden und Ungleich­heiten nimmt Kapitel 6 das Ende der Arbeitsgesellschaft in den Blick. Die Kapitel 7 und 8 widmen sich einigen Schritten, die notwendig sind, um das Ziel zu erreichen, etwa der Frage einer gegenhegemonialen Bewegung und des politischen Potentials der Linken. Der Schluss be­trachtet die Dinge noch einmal aus einem etwas größeren Abstand und denkt über das Projekt der Moderne aus der Perspektive einer Linken nach, die in die Zukunft schaut und dabei das Ziel universeller Befreiung nicht aus den Augen verliert. So beruht dieses Buch auf einer einfachen Überzeugung: dass eine moderne Linke heute sich weder mit dem System arrangieren und einfach so weiterma­chen noch in eine idealisierte Vergangenheit zurückkeh­ren kann, sondern sich der Aufgabe stellen muss, eine neue Zukunft zu schaffen.“

Es folgen einige Leseproben, die sich insbesondere mit der Vorstellung einer postkapitalistischen Gesellschaft als „Post-Arbeits-Welt“ und in diesem Zusammenhang mit einer „Vollautomatisierung“, einer radikalen Verkürzung der Arbeitszeit, die der sozialdemokratischen Forderung nach Vollbeschäftigung die provokante nach einer „Vollarbeitslosgkeit“ als einer Kennmarke vollständigen Emanzipation entgegensetzt und aktuell auch den Kampf um ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert.

  • Ulrich Leicht, Rentner, Industriebuchbinder, langjähriger BR-Vorsitzender, gesellschaftskritischer Aktivist in der IG-Druck, IG Medien, zuletzt ver.di und bei der Gewerkschaftslinken, ehemals Mistreiter in den Projekten „Krisis“ und „Exit“, Vorstandsmitglied bei Labournet.de und Mitglied im Berliner Verein zu Förderung der MEGA-Edition e.V.

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Kapitel 5: Die Zukunft arbeitet nicht

In dem Begriff des freien Arbeiters liegt schon, daß er Pauper ist: virtueller Pauper.
Karl Marx

Wie wir gezeigt haben, neigt die Linke heute zu Folk-Politik, der es nicht gelingt, das Blatt zu wenden und dem globalen Kapitalismus etwas entgegenzusetzen. Es ist da­her notwendig, das umkämpfte Erbe der Moderne zu­rückzuerobern und eigene Visionen der Zukunft zu ent­wickeln. Für die Linke ist es dabei entscheidend, dieses Bild der Zukunft auf tatsächlich vorhandene Tendenzen zu beziehen. Im vorliegenden Kapitel wollen wir die ak­tuelle Konjunktur des Kapitalismus erörtern, und zwar aus dem Blickwinkel der Arbeit. Dies schafft die Grund­lage, um im folgenden Kapitel das Positive einer Zukunft ohne Arbeit herauszustellen. Was bedeutet es, ein Ende der Arbeit zu fordern? Mit »Arbeit« meinen wir unsere Jobs – also Lohnarbeit: Die Zeit und die Leistung, die wir veräußern, um im Gegenzug ein Einkommen zu erhalten. Es ist Zeit, über die wir nicht länger selbst verfügen, son­dern andere: Vorgesetzte, Manager, Auftraggeber. Ein ganzes Drittel unseres Erwachsenenlebens verbringen wir damit, uns ihnen zu unterwerfen. Den Gegensatz zur so verstandenen Arbeit bildet die »Muße« oder Nichtarbeit, die gewöhnlich mit dem Wochenende oder mit Ferien in Zusammenhang gebracht wird. Nichtarbeit ist indes nicht zu verwechseln mit Nichtstun, da viele der Dinge, die wir am meisten mögen, erheblichen Einsatz verlangen. Ein Musikinstrument spielen lernen, ein Buch lesen, Freunde treffen und Sport treiben, das alles ist mit mehr oder we­niger Anstrengung verbunden, doch gleichzeitig sind es Tätigkeiten, die wir freiwillig tun. Eine Welt nach dem Ende der Arbeit ist daher keine Welt des Nichtstuns; vielmehr ist sie eine Welt, in der die Menschen nicht län­ger an ihre Jobs gefesselt, sondern frei sind, ihr eigenes Leben zu erfinden. Ein derartiges Projekt kann sich auf eine lange Reihe theoretischer Entwürfe berufen – aus Marxismus, Keynesianismus, Feminismus, schwarzem Nationalismus und Anarchismus gleichermaßen –, in de­nen die Zentralität der Arbeit zurückgewiesen wurde. In je eigener Weise zielen diese Entwürfe darauf, die Menschheit von der Mühsal der Arbeit, von der Abhän­gigkeit von Lohnarbeit und von der Unterwerfung unter das Kommando von Vorgesetzten zu befreien. Sie ringen darum, das »Reich der Freiheit« zu erschließen, als Be­dingung weitergehender menschlicher Emanzipation.

Die allgemeine Zielsetzung einer Welt ohne Arbeit blickt somit bereits auf eine lange Reihe von Vorüberle­gungen zurück, doch sind es Entwicklungen des Kapita­lismus in jüngster Zeit, die das Thema erneut und dring­lich auf die Tagesordnung setzen. Voranschreitende Au­tomatisierung, eine wachsende erwerbslose, »disponible« Bevölkerung und der fortgesetzte Imperativ der Austeri­tät verstärken die Notwendigkeit, erneut über (Lohn-)Arbeit nachzudenken und sich für die neuen Krisen des Kapitalismus zu wappnen. Wie die Mont Pèlerin Society in gewissem Sinn eine Vorbotin der Krise des Keynesia­nismus war und ein ganzes Arsenal von Antworten be­reithielt, so sollte sich auch die Linke auf die kommende Krise der Arbeit und der unbeschäftigten »relativen Über­völkerung« vorbereiten. Obwohl die Auswirkungen der Krise von 2008 weltweit noch nachhallen, ist der güns­tige Augenblick verstrichen: Allenthalben sehen wir, wie das Kapital sich erholt und dabei ist, sich in erneuerter und besser gerüsteter Form zu konsolidieren. Für die Linke hingegen ist es an der Zeit, sich auf die nächste Gelegenheit vorzubereiten.

Dieses Kapitel begründet die zunehmende Dringlich­keit einer Welt ohne Arbeit. Der erste Abschnitt skizziert die Krise der Arbeitsgesellschaft in ihrem Entstehungszu­sammenhang – das Verschwinden stabiler Arbeitsver­hältnisse in den Industrieländern, die steigende Arbeitslo­sigkeit und das Anwachsen erwerbsloser, »überschüssi­ger« Bevölkerungen sowie das Kollabieren der diszipli­nierenden Instanz »Arbeit«, die die Gesellschaft zusam­menhält.

Anschließend wenden wir uns verschiedenen Sympto­men der Krise zu, die in Arbeitslosenzahlen ebenso wie in der zunehmenden Prekarisierung ihren Niederschlag findet, aber auch in Phänomenen wie einem beschäfti­gungslosen Aufschwung, einer zunehmenden Ver­slumung oder einer sich ausweitenden städtischen Armut. Ringsum lassen sich die Auswirkungen dieser Verände­rungen in neuen gesellschaftlichen Gegensätzen und Auseinandersetzungen beobachten. Schließlich wenden wir uns noch verschiedenen Optionen zu, staatlicherseits auf die tendenziell wachsende überschüssige Bevölke­rung im Kapitalismus zu reagieren. Heute ist die Krise der Arbeit dabei, die zur Verfügung stehenden Kontroll­instrumente untauglich werden zu lassen, und schafft so die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Übergang in eine Welt ohne Arbeit. (S. 139-141)

DIE KRISE DER ARBEIT

Wie wir sahen, wächst die Zahl der Menschen, die außerhalb formeller Lohnarbeitsverhältnisse stehen und ihren Lebensunterhalt mit geringen staatlichen Transferleistungen, mit Schwarz-und Subsistenzarbeit oder mit illegalen Mitteln bestreiten. In allen diesen Fällen werden Armut, Prekarisierung und Unsicherheit wesentliche Kennzeichen des Alltags. Immer weniger stehen in ausreichendem Maße Jobs zur Verfügung, um allen eine Beschäftigung zu bieten. Während so eine der Grundlagen der hegemonialen Ordnung, nämlich die Aussicht auf angemessene und stabile Arbeitsplätze, zunehmend wegbricht, findet sich immer häufiger ein Rückgriff auf unmittelbaren Zwang: rigorose Workfare-Programme, eine unter dem Eindruck sozialer Antagonismen verschärfte Einwanderungspolitik, eine eingeschränkte und streng kontrollierte Bewegungsfreiheit und schließlich ein Gefängnissystem, das für all jene bereitsteht, die sich dagegen wehren, beiseitegeschoben zu werden. Diese Krise der Arbeit unter dem Neoliberalismus trifft vor allem jene überschüssige Bevölkerung, die heute die Mehrheit der Weltarbeitskraft stellt.

Angesichts der potentiell weiter voranschreitenden extensiven Automatisierung der Produktion – ein Thema, das uns im nächsten Kapitel noch beschäftigen wird – lassen sich für die kommenden Jahre die folgenden Trends prognostizieren:

  1. In entwickelten Ländern wird sich die Prekarisierung der Arbeiterklasse aufgrund des globalen Arbeitskräf­teüberangebots (das wiederum Folge der Globalisie­rung und Automatisierung ist) verstärken.
  2. Konjunkturelle Aufschwünge ohne Beschäftigungsef­fekte werden häufiger, dauern länger und treffen in ers­ter Linie diejenigen, deren Jobs automatisierbar sind.
  3. Gering qualifizierte Arbeiten und Dienstleistungen werden automatisiert, die Auswirkungen der vorzeiti­gen Deindustrialisierung spitzen sich zu, wodurch die Slums weiter wachsen.
  4. Die städtische Marginalität in entwickelten Ländern wächst ebenfalls in dem Maße, wie gering qualifizierte und niedrig entlohnte Arbeitsplätze automatisiert wer­den.
  5. Höhere Bildung wird immer stärker auf Berufsausbil­dung reduziert, im verzweifelten Bemühen, die Nach­frage nach hochqualifizierten Arbeitskräften zu befrie­digen.
  6. Das Wirtschaftswachstum bleibt gebremst, sodass die Bereitstellung von Ersatzarbeitsplätzen in größerem Umfang unwahrscheinlich wird.
  7. Workfare-Programme, die Abschottung gegen Ein­wanderung sowie der Einsatz des Gefängnissystems verschärfen sich, und Menschen ohne Arbeit, die in Subsistenzökonomien überleben, werden zunehmend Zwangsmaßnahmen unterworfen.

Gewiss, es muss keineswegs unvermeidlich so kommen. Doch die aufgezeigten Trends beziehen sich auf gegen­wärtige Entwicklungen des Kapitalismus und auf abseh­bare Problemlagen, wenn die überschüssige Bevölkerung weiterhin wächst. Diese Trends verweisen auf eine Krise der Arbeit und darüber hinaus auf eine institutionelle Kri­se jeder Gesellschaft, die auf Lohnarbeit beruht. Unter Bedingungen des Kapitalismus war Arbeit immer ein zentrales Moment unseres gesellschaftlichen Lebens wie auch unserer Selbstwahrnehmung, und zudem war sie für die meisten Menschen die einzige Quelle eines Einkom­mens. Für die nächsten beiden Jahrzehnte nun zeichnet sich eine Zukunft ab, in der die Weltwirtschaft immer weniger imstande sein wird, ausreichend Arbeit zu schaf­fen (ganz zu schweigen von wirklich guten Jobs), wir in­des, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten, weiterhin auf Arbeit angewiesen sein werden. Politische Parteien und die Gewerkschaften scheinen vor dieser Krise die Augen zu verschließen, oder aber sie sind bemüht, Symp­tome in den Griff zu bekommen, während die Automati­sierung immer mehr menschliche Arbeit überflüssig macht. Angesichts solcher Widersprüche muss das politi­sche Projekt einer Linken im 21. Jahrhundert lauten, eine Wirtschaft zu schaffen, in der die Menschen zum Leben nicht länger auf Lohnarbeit angewiesen sind.

Wie wir in den folgenden Kapiteln zeigen werden, kann und muss diese Auseinandersetzung verschiedene An­satzpunkte verbinden. Es gilt, der Idee zum Durchbruch zu verhelfen, dass Schufterei historisch überholt ist, und während die Gewerkschaften ihren Widerstand gegen Automatisierung aufgeben, um sich Jobsharing und Ar­beitszeitverkürzungen auf die Fahnen schreiben, sollte Automatisierung staatlich gefördert und die Kosten der lebendigen Arbeit für das Kapital erhöht werden – sowie einiges mehr Sodann muss es darum gehen, sich dem Ausschluss sogenannter überschüssiger Bevölkerung zu widersetzen und die gegen sie wirkenden Kontrollme­chanismen anzugreifen. Das Gefängnissystem und das damit verbundene rassistische System der Herrschaft und Unterdrückung gilt es ebenso abzuschaffen wie die räumlichen Dispositive der Kontrolle – die vom Ghetto bis zum Grenzregime reichen –, um die Bewegungsfrei­heit der Menschen sicherzustellen. Und nicht zuletzt geht es darum, den Sozialstaat zu verteidigen, nicht als Zweck an sich, sondern als ein notwendiges Instrument einer Gesellschaft nach dem Ende der Arbeit. Die Zu­kunft bleibt offen, und welche Wendung sie angesichts der Krise der Arbeit nimmt, entscheidet sich in den poli­tischen Kämpfen, die vor uns liegen. (S. 171-173)

Kapitel 6: Nach der Arbeitsgesellschaft

Künftig soll niemand mehr arbeiten müssen.
Arthur C. Clarke

Das vorangegangene Kapitel fragte nach den sich verän­dernden gesellschaftlichen Bedingungen, die eine Welt ohne Arbeit zunehmend unvermeidlich werden lassen; in diesem Kapitel nun wollen wir umreißen, was eine solche Welt nach dem Ende der Arbeit in der Praxis bedeuten könnte. Dazu formulieren wir eine Reihe allgemeiner Forderungen, um eine gemeinsame Plattform zu schaffen, als Ausgangspunkt für eine Gesellschaft jenseits der Ar­beit. Forderungen sind in unseren Augen ein politisch zentrales Instrument, auch wenn dies mit der in der heu­tigen radikalen Linken weit verbreiteten Tendenz bricht, zu glauben, es sei der Gipfel des Radikalismus, keinerlei Forderungen zu erheben. Forderungen zu erheben ist in den Augen vieler, die so denken, gleichbedeutend damit, die bestehende Ordnung der Dinge anzuerkennen, inso­fern sich Forderungen immer an Autoritäten richteten und sie derart legitimierten. Doch eine derartige Perspektive übersieht den Antagonismus, der Forderungen beseelt, und ihre wesentliche Bedeutung für die Konstitution wahrhaft verändernder Kräfte. So gesehen wäre der Ver­zicht auf Forderungen ein Symptom theoretischer Desorientierung – und keineswegs ein praktischer Fortschritt. Politik ohne Forderungen ist lediglich eine Ansammlung von Körpern ohne Ziel. Jeder Zukunftsentwurf wird be­müht sein, Vorhaben und Ziele abzustecken, und das vorliegende Kapitel soll einen Beitrag zu dieser fälligen Diskussion leisten. Keiner der hier präsentierten Vor­schläge ist radikal neu, doch gehört das zu ihren Stärken: Sie beziehen sich nicht auf ein freischwebendes Projekt, sondern sind in einer Welt verankert, in der Rahmenbe­dingungen und Bewegungen bereits existieren.

Revolutionäre Forderungen klingen heute gewöhnlich naiv, reformistische hingegen sinnlos. Allzu häufig endet an dieser Stelle die Diskussion, jede Seite wirft der ande­ren Blindheit vor, und die strategische Notwendigkeit, die Dinge zu verändern, gerät in Vergessenheit. Die von uns formulierten Forderungen zielen daher auf nicht-refor­mistische Reformen ab, und zwar in dreierlei Hinsicht. Erstens haben sie ein utopisches Moment, das die Gren­zen des innerhalb des Kapitalismus Möglichen sprengt. So verwandeln sich höflich vorgetragene Anliegen in be­harrliche Forderungen voller antagonistischer Spreng­kraft. Solcherart Forderungen verbinden die Zukunfts­orientierung der Utopie mit der unmittelbaren politischen Intervention und sind daher »utopisch, ohne apologetisch zu sein«.Zweitens beziehen sich diese nicht-refor­mistischen Vorschläge auf reale Tendenzen in der heuti­gen Welt: Ihre Realisierbarkeit unterscheidet sie von re­volutionären Phantasien. Drittens, und am allerwichtigs­ten, verschieben solche Vorschläge die augenblicklichen politischen Kräfteverhältnisse und schaffen einen Aus­gangspunkt für zukünftige Entwicklungen. Gegen die Vorstellung eines mechanischen Übergangs auf die nächsthöhere Stufe historischer Entwicklung setzen sie den Entwurf eines Ausbruchs aus den heutigen Verhält­nissen mit offenem Ausgang.

Die im vorliegenden Kapitel formulierten Vorschläge  werden uns dem Kapitalismus nicht entkommen lassen, doch verheißen sie einen Bruch mit dem Neoliberalismus und neue politische, ökonomische und soziale Kräftever­hältnisse. Gegen den sozialdemokratischen und den neo­liberalen Konsens bedarf es, so unser Argument, eines Konsenses jenseits der Arbeit, um den herum die Linke ihre Kräfte mobilisieren sollte. Ein Abschied von der Ar­beitsgesellschaft würde das Potential bieten, auch größere Ziele zu lancieren. Doch ist das ein Projekt, das langfris­tig anzugehen wäre – das eher Jahrzehnte als Jahre erfor­dert und eher auf kulturelle Verschiebungen hinarbeitet, statt auf die Zeit zwischen zwei Wahlen zu setzen. Ange­sichts des geschwächten Zustands der heutigen Linken gibt es nur einen Weg: geduldig die eigene Macht auf­bauen, ein Thema, das wir in den folgenden Kapiteln dis­kutieren werden. Es existiert schlicht und einfach keine andere Möglichkeit, eine Welt ohne Arbeit zu erreichen. Wir müssen uns den längerfristigen strategischen Zielen widmen und die kollektive Handlungsfähigkeit (wieder-)herstellen, die imstande ist, sie zu schaffen. Wenn die Linke den Weg in eine Zukunft ohne Arbeit einschlägt, verfolgt sie damit nicht nur wichtige Ziele – etwa die Verringerung der Mühsal oder die Abschaffung der Ar­mut –, sondern entfaltet in diesem Prozess zugleich ihre politische Macht. Schließlich sind wir überzeugt, dass auf der Grundlage der bestehenden materiellen Bedingungen ein Abschied von der Arbeitsgesellschaft nicht nur mög­lich, sondern realistisch und erstrebenswert ist. Das vor­liegende Kapitel kartographiert einen Weg: in eine Ge­sellschaft jenseits der Arbeit, gegründet auf einer umfas­senden Automatisierung der Wirtschaft, einer Reduzie­rung der wöchentlichen Arbeitszeit, der Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens und ei­ner grundlegenden kulturellen Verschiebung in unserem Verständnis von Arbeit. (S. 175-177)

THE WAGE DON‘T FIT

Die beiden bislang geschilderten Wege laufen darauf hin­aus, durch eine umfassende Automatisierung die Nach­frage nach Arbeitskräften zu verringern sowie durch die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit das Arbeits­kräfteangebot zu begrenzen. In ihrer Kombination ergä­be sich aus diesen Maßnahmen die Freisetzung einer be­trächtlichen Menge freier Zeit, ohne die Wirtschaftsleis­tung zu beeinträchtigen oder die Arbeitslosigkeit signifi­kant zu erhöhen. Doch bleibt diese freie Zeit wertlos, wenn die Menschen sich weiterhin strecken müssen, um über die Runden zu kommen. Noch deutlicher formu­lierte es Paul Mattick: »Die Muße der Verhungernden, oder der im Elend Lebenden, ist keine Ruhe, sondern eine rastlose Anstrengung, um am Leben zu bleiben und die eigene Lage zu verbessern.« Sogenannte Unterbeschäf­tigte beispielsweise haben Freizeit im Überfluss, doch fehlen ihnen die Mittel, sie zu genießen. Tatsächlich ist unterbeschäftigt nur ein Euphemismus für unterbezahlt. Eine wesentliche Forderung für eine Gesellschaft jenseits der Arbeit ist deshalb die nach einem universellen bedin­gungslosen Grundeinkommen (BGE), das jeder und je­dem eine auskömmliche Summe Geld zur Verfügung stellt, und zwar ohne jede Bedürftigkeitsprüfung.

Auch diese Idee tauchte bereits in der Vergangenheit immer wieder einmal auf. Anfang der 1940er Jahre wurde in Großbritannien eine Art Grundeinkommen vor­geschlagen, und zwar als eine Alternative zu den Emp­fehlungen des Beveridge-Reports, der in der Nachkriegs­zeit maßgeblich für die Ausgestaltung des britischen Wohlfahrtsstaats werden sollte. Weitgehend vergessen ist heute, dass in den 1960er und 1970er Jahren ein Grundeinkommen zentraler Bestandteil der Pläne zur Re­form der Sozialgesetzgebung in den USA war. Wirt­schaftswissenschaftler, unabhängige Institute und Politi­ker diskutierten die Idee detailliert, und in den Vereinig­ten Staaten, aber auch in Kanada, unternahm man im kleinen Rahmen Pilotversuche, ein solches Grundein­kommen einzuführen. Die Idee war so einflussreich, dass über 1 300 Wirtschaftswissenschaftler eine Petition unterschrieben, die den US-Kongress aufforderte, die ge­setzlichen Grundlagen für ein »nationales System eines garantierten Einkommens« zu schaffen. Drei Legisla­turperioden lang gab es ernsthafte Erwägungen, wie die Vorschläge umzusetzen wären, und zwei Präsidenten – Richard Nixon und Jimmy Carter – lancierten Gesetzes­initiativen. Es fehlte also nicht viel, und ein allgemeines Grundeinkommen wäre in den 1970er Jahren realisiert worden. Einzig Alaska führte schließlich ein Grundein­kommen ein, das sich aus staatlichen Einnahmen aus der Ölförderung speist, doch ansonsten verschwand die Idee unter dem Eindruck der sich etablierenden neoliberalen Hegemonie.

Erst in jüngerer Zeit tauchte der Vorschlag dann in ei­ner breiteren Debatte erneut auf und konnte sowohl in den Massenmedien als auch in kritischen Kreisen Fuß fassen. Autoren wie Paul Krugman oder Martin Wolf griffen die Diskussion auf und führten sie in der New York Times, der Financial Times oder im Economist. der Schweiz kam es 2016 zu einer Volksabstimmung über ein Grundeinkommen, in anderen Ländern fand der Vorschlag die Unterstützung von Parlamentsausschüssen, mehrere politische Parteien nahmen ihn in ihre Program­me auf, und es gab neue Anläufe in Indien und Namibia, regional begrenzt ein solches Einkommen einzuführen. Die Idee strahlt weiterhin weltweit aus, Gruppen in Bra­silien, Südafrika, Italien und Deutschland sowie nicht zuletzt ein internationales Netzwerk mit über zwanzig nationalen Sektionen vertreten mit Nachdruck ein BGE. Einen neuerlichen Aufschwung hat die Idee schließlich angesichts der Krise von 2008 und der danach verfolgten Austeritätspolitik erfahren.

In der Forderung nach einem Grundeinkommen kon­kurrieren gleichwohl unterschiedliche politische und ge­sellschaftliche Kräfte um Hegemonie. Ein Grundein­kommen passt ebenso gut zu einem Plädoyer für eine li­bertäre Dystopie wie zum Engagement für eine Gesell­schaft jenseits der Arbeit – eine Ambiguität, die häufig dazu führt, die beiden Pole miteinander in Verbindung zu bringen. Die Forderung nach einem Grundeinkommen muss also gleichzeitig drei entscheidende Dimensionen artikulieren, soll sie wirklich gehaltvoll sein: Es geht dar­um, ein ausreichendes Einkommen zur Verfügung zu stellen, also eines, von dem sich leben lässt; dieses Ein­kommen muss allgemein sein, das heißt allen bedin­gungslos zur Verfügung stehen; und schließlich muss es den Sozialstaat ergänzen und nicht an seine Stelle treten. Der erste Punkt ist evident: Ein BGE muss ein tatsächlich ausreichendes Einkommen sein. Die genaue Summe wird von Region zu Region, von Land zu Land variieren, doch lässt sie sich auf der Grundlage existierender Daten rela­tiv umstandslos bestimmen. Wird die Summe allerdings zu niedrig angesetzt, droht das BGE zu einer Staatssub­vention für Unternehmen zu werden. Zweitens muss ein BGE allgemein und bedingungslos zur Verfügung stehen.

Da Bedürftigkeitsprüfungen oder andere Voraussetzun­gen wegfallen, bedeutete ein solches Grundeinkommen einen Bruch mit disziplinierenden Merkmalen des Wohl­fahrtskapitalismus. Darüber hinaus wird durch die All­gemeinheit die mit staatlichen Transferleistungen ver­bundene Stigmatisierung vermieden, da wirklich alle ein solches Einkommen erhalten. Dieser »Universalismus« bedeutete zugleich (siehe Kapitel 4) eine kontinuierliche Subversion jeglicher Einschränkung, die mit einem Grundeinkommen verbunden würde (also beispielsweise aufgrund eines unterschiedlichen Status im Hinblick auf Staatsbürgerschaft oder Rechtsstellung). Die Forderung nach einem universellen bedingungslosen Grundein­kommen wird zur Grundlage eines fortgesetzten Kampfes um den Umfang und die Reichweite dieses Grundein­kommens. Schließlich muss ein BGE als Ergänzung des Sozialstaats implementiert werden. Das Argument der Konservativen für ein Grundeinkommen – dem es unbe­dingt etwas entgegenzusetzen gilt – lautet, es solle sozial­staatliche Leistungen ersetzen, indem allen irgendein Pauschalbetrag zur Verfügung gestellt wird. In einem solchen Szenario verkäme ein Grundeinkommen zu ei­nem Faktor fortschreitender Marktlogik, das heißt des Gebots, die Institutionen des Sozialstaats zu privatisieren und Marktgesetzen zu unterwerfen. Die Einführung eines Grundeinkommens wäre keine Anomalie des Neolibera­lismus, sondern entspräche völlig dessen Grundsatz, neue Märkte zu schaffen. Im Gegensatz dazu zielt die Forde­rung nach einem universellen bedingungslosen Grundeinkommen, wie wir sie hier vorstellen, auf eine Erweite­rung eines neu belebten Sozialstaats.

Für ein bedingungsloses Grundeinkommen lassen sich zahllose ethische und soziale Gründe anführen, und auch empirische Studien sprechen dafür: Die Armut geht zu­rück, auch viele Probleme im Bereich der Gesundheit verschwinden, und zwar bei sinkenden Kosten, es gibt weniger Schulabbrecher, weniger Kleinkriminalität, die Leute haben mehr Zeit für Freunde und Familie, und der Behördenapparat kann verkleinert werden. Je nachdem, wie die Forderung nach einem BGE artikuliert wird, kann sie auf Unterstützung quer durch das politische Spektrum bauen, aus libertären und konservativen Kreisen ebenso wie aus anarchistischen, marxistischen oder feministi­schen. Dieses Potential der Forderung geht nicht zuletzt auf ihre Ambiguität zurück, die es erst möglich macht, in vielen Teilen der Bevölkerung Zustimmung zu mobilisie­ren. Indes beruht die Bedeutung eines bedingungslosen Grundeinkommens, wie wir es verstehen, auf vier mitein­ander zusammenhängenden Aspekten.

Erstens zielt die Forderung nach einem BGE auf politi­sche Veränderungen, es ist keine ökonomische Forde­rung. Häufig erscheint ein Grundeinkommen lediglich als eine Form der Umverteilung von Reichtum zugunsten der ärmeren Bevölkerung oder als eine Maßnahme, um die Wirtschaft durch Stimulierung der Nachfrage anzukur­beln. So betrachtet wäre es, als eine Spielart progressiver Besteuerung, nichts weiter als ein Instrument reformisti­scher Politik. Doch die wahre Bedeutung eines bedin­gungslosen Grundeinkommens zeigt sich an der Art, wie es die Machtasymmetrie zerstört, die heute zwischen Ka­pital und Arbeit besteht. Das Proletariat ist, wie wir oben sahen, dadurch definiert, dass es von Produktions- und Subsistenzmitteln getrennt ist. Proletarier sind gezwun­gen, sich auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen, um ein Einkommen zu erhalten, das ihnen das Überleben sichert. Wer den Luxus genießt, sich entscheiden zu können, wel­cher Job es sein soll, darf sich schon glücklich schätzen, und nur die allerwenigsten können es sich leisten, sich für keinen Job zu entscheiden. Ein Grundeinkommen verän­dert diese Situation grundlegend, denn es gibt dem Pro­letariat unabhängig von einer Beschäftigung Subsistenzmittel an die Hand. Proletarier entscheiden dann selbst, ob sie ein Arbeitsverhältnis eingehen oder nicht. (Neben­bei bemerkt wird die Neoklassik hier beim Wort genom­men: Arbeit wird wirklich freiwillig.) Ein bedingungslo­ses Grundeinkommen befreit vom Zwang zur Lohnarbeit, dekommodifiziert in gewisser Weise die Arbeit und ver­ändert so das politische Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit grundlegend.

Eine solche Veränderung – wenn Arbeit ihren Zwangs­charakter verliert und freiwillig wird – hat eine Reihe von erheblichen Konsequenzen. Erstens wird die Klassenmacht gestärkt, denn überschüssige Arbeitskraft ver­schwindet tendenziell. Solange es ein Überangebot an Arbeitskraft gibt, wächst die überschüssige Bevölkerung: Arbeitgebern steht es frei, den Druck auf Beschäftigte zu erhöhen, und die Löhne sinken. Bei einem angespann­ten Arbeitsmarkt hingegen wendet sich das Blatt politisch zugunsten der Arbeit. Der Ökonom Michał Kalecki for­mulierte diesen Zusammenhang schon vor langer Zeit und sah darin eine Erklärung für die auf Schritt und Tritt zu beobachtenden Widerstände gegen Vollbeschäfti­gung. Hätten alle Arbeiter eine Stelle, verlöre eine dro­hende Entlassung ihren disziplinierenden Charakter, da mehr als genug andere Jobs zur Auswahl stünden. Die Beschäftigten wären im Vorteil, das Kapital hingegen büßte seine politische Macht ein. Ein Grundeinkommen entwickelt die gleiche Dynamik: Ein solches eliminiert das Angewiesensein auf Lohnarbeit, und es läge in der Hand der Arbeitenden, Arbeitskraft anzubieten oder nicht, das heißt, sie wären auf dem Arbeitsmarkt die maßgebliche Kraft.

Doch die Klassenmacht wächst noch auf andere Art und Weise. Streiks werden einfacher, denn die Streiken­den müssen sich keine Gedanken mehr darüber machen, dass das Geld nicht mehr reicht oder die Streikfonds da­hinschwinden. Auch die Arbeitszeit lässt sich den eige­nen Bedürfnissen anpassen, und die gewonnene freie Zeit kann für die Allgemeinheit oder für ein politisches Enga­gement verwendet werden. Alle können langsamer ma­chen und nachdenken, denn vor dem permanenten Druck des Neoliberalismus sind sie erstmal sicher. Mit dem so­zialen Netz eines bedingungslosen Grundeinkommens verschwinden Sorgen um Arbeit und Arbeitslosigkeit. Schließlich schafft die Forderung nach einem BGE eine Verbindung zwischen den Bedürfnissen verschiedener Gruppen: Beschäftigten, Unterbeschäftigten, Zeitarbeits­kräften und Arbeitslosen, Migranten, Studierenden, Be­hinderten. Die Forderung artikuliert ein gemeinsames Interesse dieser Gruppen und bietet eine breite Orientie­rung, um die Bevölkerung dafür zu mobilisieren.

Der zweite wichtige Aspekt eines bedingungslosen Grundeinkommens ist, dass durch ein solche prekäre Beschäftigung und Arbeitslosigkeit ihren unsicheren Status verlieren und zu Formen freiwilliger Flexibilität werden. Oftmals wird vergessen, dass der Impuls zur Flexibilisierung ursprünglich von Arbeitern ausging, de­nen es darum ging, das permanente Eingespanntsein in der traditionellen fordistischen Organisation der Arbeit aufzusprengen. Die Perspektive auf eine lebenslange Beschäftigung wirkt angesichts des Einerlei eines Ganz­tagjobs in Verbindung mit der Eintönigkeit der meisten Aufgaben wenig anziehend. Auch Pflegearbeit etwa er­fordert häufig Flexibilität, was die Attraktivität traditio­neller Arbeitsverhältnisse noch weiter schmälert. Schon Marx verwies auf das Befreiende flexibler Tätigkeit in seiner berühmten Beschreibung der kommunistischen Gesellschaft, die es »möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisie­ren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«. Doch das Kapital passte das Bedürfnis nach größerer Flexibilität eigenen Zwecken an und kooptierte es in neuen Formen der Ausbeutung. Heute steht flexible Arbeit nicht für mehr Freiheit, son­dern für Prekarisierung und Unsicherheit. Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen antwortet auf diese Verallgemeinerung prekärer Ausbeutung, damit flexible Tätigkeit nicht länger eine Drohung bleibt, son­dern erneut zur Grundlage der Befreiung werden kann.

Drittens würde ein bedingungsloses Grundeinkommen uns veranlassen, die Anerkennung und Bewertung ver­schiedener Arten von Arbeit zu überdenken. Niemand wäre mehr gezwungen, eine Arbeit anzunehmen, und könnte sie ebenso gut ablehnen, weil sie zu gering ent­lohnt ist oder stark belastet, weil sie zu wenige Vorteile bietet, entwürdigend oder erniedrigend ist. Gering ent­lohnte Arbeiten sind häufig anstrengend und entmündi­gend und daher wäre es mit Einführung eines Grundein­kommens unwahrscheinlich, dass sich noch viele finden, die sie übernehmen. Ein Ergebnis wäre, dass gefährliche, langweilige und unattraktive Arbeiten besser bezahlt werden müssten, interessante, inspirierende und attraktive Tätigkeiten hingegen vermutlich weniger gut honoriert wären. So würde der Charakter einer Tätigkeit zu einem Maßstab ihres Werts, und nicht mehr länger ihre Profita­bilität. Eine solche Neubewertung würde auch bedeu­ten, dass neue Anreize entstehen, die schlimmsten Ar­beiten zu automatisieren, da die Löhne in diesen Berei­chen am deutlichsten steigen.

Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundein­kommen und die nach umfassender Automatisierung ver­stärken sich somit wechselseitig. Zugleich würden mit der Einführung eines BGE nicht nur die schlimmsten Jobs neu bewertet, sondern es wäre auch ein Schritt, die unbezahlte Tätigkeit im Bereich der Haus- und Pflegear­beit stärker anzuerkennen. Vergleichbar der Art, wie die Forderung nach Lohn für Hausarbeit die von Frauen ver­richtete unbezahlte häusliche Arbeit hervorhob und poli­tisierte, wirkt die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, indem sie unser aller Verantwortung für die gesellschaftliche Reproduktion hervorhebt und politisiert: ob die Arbeit formell oder informell, häuslich oder öffentlich, individuell oder kollektiv ist. Zentral ist nicht länger produktive Arbeit – sei es im marxistischen oder im neoklassischen Sinn –, sondern diese Position nimmt die allgemeinere Kategorie der Reproduktionsar­beit ein. Angesichts der Tatsache, dass wir alle zur Produktion und Reproduktion des Kapitalismus beitra­gen, verdienen auch alle Tätigkeiten ein Entgelt. Ein bedingungsloses Grundeinkommen erkennt dies an und signalisiert eine Verschiebung, weg von einem Entgelt, das sich nach der Leistungsfähigkeit der Einzelnen be­misst, und hin zu einem, dem ihre Bedürfnisse zugrunde liegen. Allen zu verschiedenen Zeiten und in verschie­denen Gesellschaften etablierten Varianten, den Wert ei­nes Menschen am armseligen Maßstab seiner Leistung abzulesen, wird so eine Absage erteilt, und Menschen werden einfach deshalb wertgeschätzt, weil sie Menschen sind.

Schließlich ist ein bedingungsloses Grundeinkommen ein radikal feministisches Vorhaben. Indem es die über­kommene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ablehnt, überwindet es die einseitige Ausrichtung des alten Wohl­fahrtsstaats auf den männlichen Versorger. Es erkennt den Beitrag der nicht entlohnten Hausarbeiterinnen für die Reproduktion der Gesellschaft an und bietet ihnen ein Einkommen. Die finanzielle Unabhängigkeit, die ein Grundeinkommen garantiert, ist für die Entfaltung syn­thetischer Freiheit wesentlich. Es ermöglicht das Experi­mentieren mit unterschiedlichen Familienstrukturen und Formen des Zusammenlebens, die sich nicht länger am Modell der Privatheit und der Kernfamilie orientieren. Und auch in Partnerbeziehungen greift die finanzielle Unabhängigkeit ein: Eines der eher unerwarteten Ergeb­nisse der Versuche mit einem Grundeinkommen war ein tendenzieller Anstieg der Scheidungsrate. Konservati­ve Kreise werteten dies als Beweis der Immoralität eines Grundeinkommens, doch lassen sich höhere Scheidungs­raten einfach damit erklären, dass die finanzielle Unab­hängigkeit es Frauen einfacher macht, zerrüttete Bezie­hungen zu verlassen. Ein Grundeinkommen erleichtert tendenziell das Experimentieren mit Familienstrukturen, es eröffnet mehr Möglichkeiten der Kinderbetreuung und begünstigt einen Wandel der geschlechtsspezifischen Ar­beitsteilung. Und im Gegensatz zur in den 1970er Jahren erhobenen Forderung nach Lohn für Hausarbeit verheißt die Forderung nach einem universellen bedingungslosen Grundeinkommen einen Bruch mit dem Lohnverhältnis, statt es letztlich zu verfestigen.

Rein ökonomisch betrachtet, mag die Forderung nach einem allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommen reformistisch erscheinen, doch entscheidend sind die po­litischen Implikationen. Ein BGE verwandelt, was Preka­risierung genannt wird, erkennt die vielfältigen Formen gesellschaftlicher Arbeit an, stärkt die Klassenmacht und erweitert den Raum, der dem Experimentieren mit For­men des häuslichen und gesellschaftlichen Zusammen­lebens zur Verfügung steht. Es ist ein Umverteilungsme­chanismus, der die Produktionsverhältnisse transformiert, und ein ökonomischer Mechanismus, der die Politik der Arbeitswelt verändert. Und vom Standpunkt des Klas­senkampfs gibt es praktisch keinen Unterschied mehr zwischen Vollbeschäftigung und einer umfassenden Ar­beitslosigkeit: Der Arbeitsmarkt bleibt in jedem Fall an­gespannt, das Kräfteverhältnis neigt sich zur Seite der Arbeit, und Ausbeutung stößt auf Hindernisse. Wenn niemand mehr arbeiten muss, bietet das zudem weitere Vorteile: die Aufhebung der geschlechtsspezifischen Ar­beitsteilung zwischen Haushalt und formeller Ökonomie, den Bruch mit dem Angewiesensein auf Lohnarbeitsver­hältnisse und die Möglichkeit der Selbstbestimmung über das eigene Leben. Aus all diesen Gründen wäre das klas­sische sozialdemokratische »Arbeit für alle!« aufzugeben und durch die zukunftsorientierte Forderung zu ersetzen: Niemand soll mehr arbeiten müssen. (S. 193-203)

DAS RECHT AUF FAULHEIT

Welche Hindernisse stehen der Einführung eines Grund­einkommens im Weg? Auf den ersten Blick erscheinen die Finanzierungsprobleme immens, doch tatsächlich lie­ße sich den meisten Studien zufolge relativ problemlos durch eine Kombination finanzpolitischer Maßnahmen für die Kosten aufkommen, etwa durch Reduzierung doppelter Programme, höhere Besteuerung von Reichen, Maßnahmen gegen Steuerflucht, Erhöhung der Erb­schafts-, Verbrauchs- und Energiesteuern, Kürzung der Militärausgaben und Abbau von Subventionen für Indus­trie und Landwirtschaft. Die größten Hürden für ein BGE – und einen Abschied von der Arbeitsgesellschaft – sind nicht ökonomischer, sondern politischer und kultu­reller Art: politisch, weil die Kräfte, die einer Einführung entgegenstehen, alles ihnen zur Verfügung stehende mo­bilisieren werden, und kulturell, weil »Arbeit« tief in un­serer Identität verwurzelt ist. Die politischen Widerstände  werden Gegenstand der nächsten beiden Kapitel sein; zu­nächst wollen wir uns den kulturellen Barrieren zuwen­den.

Eines der größten Probleme bei der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens und beim Abschied von der Arbeitsgesellschaft wird es sein, das Arbeitsethos zu überwinden und mit ihm die tief sitzende Neigung, sich seinen Normen zu unterwerfen. Tatsächlich schei­terten die Pläne zur Einführung eines Grundeinkommens in den USA in den 1970er Jahren nicht zuletzt an Wider­ständen, die sich aus populären Vorurteilen über das feh­lende Arbeitsethos von Armen und Arbeitslosen speis­ten. Die Vorschläge machten zwar klar, dass Arbeitslo­sigkeit kein Ergebnis individuell mangelhaften Arbeits­willens ist, sondern ein strukturelles Problem, doch trans­portierte die Debatte weiterhin die Unterscheidung zwi­schen Arbeitenden und Wohlfahrtsempfängern, trotz aller Bemühungen, solche Einteilungen zu vermeiden. Von Armen mit Job wurden die Pläne abgelehnt, weil sie fürchteten als Wohlfahrtsempfänger stigmatisiert zu wer­den, und auch rassistische Vorurteile verstärkten die Wi­derstände, denn Sozialhilfe wurde mit der schwarzen Be­völkerung konnotiert; so fehlte es letztlich an einer Klas­sensolidarität zwischen Armen mit Job und Arbeitslosen – den »Überflüssigen« – und damit an der gesellschaftli­chen Grundlage für eine vernehmbare soziale Bewegung für die Einführung eines Grundeinkommens. Indes bleibt die Überwindung des Arbeitsethos eine zentrale Aufgabe für jeglichen künftigen Versuch eines Abschieds von der Arbeitsgesellschaft.

Wie wir in Kapitel 3 erörtert haben, ist es dem Neolibe­ralismus gelungen, einen Orbit von Anreizen zu schaffen, uns als wettbewerbsfähige Subjekte zu konstituieren und entsprechend zu handeln. Ein solches wettbewerbsfähiges Subjekt ist bestimmt durch Vorstellungen von Selbst­ständigkeit und Unabhängigkeit, die mit einem Abschied  von der Arbeitsgesellschaft schwerlich vereinbar sind. Unser Leben strukturieren Formen einer kompetitiven Selbstverwirklichung, und Arbeit gilt als Königsweg dorthin. Arbeit ist nach wie vor das höchste Gut, wie schrecklich, schlecht bezahlt oder lästig sie auch sein mag. Dieses Mantra eint die großen politischen Parteien und die meisten Gewerkschaften, und es verbindet sich mit Versprechungen, den Menschen wieder Arbeit zu verschaffen, mit Bekenntnissen zu Arbeit und Familie sowie mit der Intention, Sozialleistungen so weit zu kürzen, dass »Arbeit sich wieder lohnt«. Dazu passt die weit verbreitete Tendenz, Menschen ohne Arbeit herabzusetzen. Zeitungen erscheinen mit Skandalschlagzeilen über nichtsnutzige Wohlfahrtsempfänger, sensationshungrige Fernsehshows verhöhnen Arme, und der Verdacht des Sozialbetrugs ist medial allgegenwärtig. Arbeit spielt in unserer Selbstwahrnehmung eine zentrale Rolle – so wichtig, dass sich angesichts der Vorstellung, weniger zu arbeiten, vielen die Frage stellt: »Aber was soll ich dann tun?« Der Umstand, dass ein glückliches Leben außerhalb der Arbeit so unvorstellbar erscheint, zeigt, wie umfassend das Arbeitsethos unser Denken beherrscht.

Häufig wird diese Disposition zur Arbeit mit einer »protestantischen Ethik« in Verbindung gebracht, doch tatsächlich findet sie sich in vielen Religionen. Ein sol­ches Arbeitsethos verlangt ein Aufgehen in der eigenen Tätigkeit, unabhängig von ihrem Charakter, und sie ge­bietet, die Mühe zu achten. Spielten in der Genese des Arbeitsethos religiöse Vorstellungen eines angenehmeren Lebens im Jenseits noch eine Rolle, so wurden sie schließlich ersetzt durch das Ziel, das Leben im Diesseits zu verbessern. In jüngerer Zeit nahm das Ethos eher libe­ral-humanistische Züge an, und Arbeit erschien als der wichtigste Ausdruck unserer Persönlichkeit. Arbeit wurde so zu einem wesentlichen Teil unserer Identität und beinahe zum einzigen Weg der Selbstverwirkli­ chung. Niemand kann in einem Vorstellungsgespräch auf die Frage, warum man den Job wolle, »Geld« ant­worten, selbst wenn dies letztlich ehrlich wäre. Am deut­lichsten tritt das Problem heute in Dienstleistungsjobs zutage. Da klare Maßstäbe für Produktivität fehlen, wird Produktivität performt – etwa, indem der Spaß an der Ar­beit zur Schau gestellt oder ein Lächeln gezeigt wird, selbst wenn Kunden ihrer Unzufriedenheit lautstark Luft machen. Überstunden gelten als Leidenschaft für die Sa­che, auch wenn dadurch der geschlechtsspezifische Lohnunterschied größer wird. Solange Arbeit so stark unse­re Identität prägt, müssen wir, um die Wertschätzung der Arbeit zu überwinden, uns selbst überwinden.

Eine wichtige Stütze des Arbeitsethos ist die ideologi­sche Verknüpfung von Lohn mit Mühsal und Leid. Wo­hin man blickt, müssen Menschen Zumutungen ertragen, bevor ihnen zugestanden wird, etwas zu bekommen. Die Schmähungen, die bettelnden Obdachlosen an den Kopf geworfen werden, die Herabsetzung von Wohlfahrtsemp­fängern, das bürokratische Labyrinth, das es zu durchlau­fen gilt, bevor jemand Unterstützung erhält, die unbe­zahlten »Fortbildungen«, zu denen Arbeitslose gezwun­gen sind, die sadistische Bestrafung im Falle angeblich zu Unrecht erhaltener Leistungen – in all dem enthüllt sich die gesellschaftliche Norm, dass jeder Lohn Arbeit und Mühsal voraussetzt. Ob religiös oder säkular begründet, Leid gilt als unabwendbares Durchgangsstadium. Men­schen müssen ihr Tagwerk vollbringen, bevor sie den Lohn einstreichen können, vor den Augen des Kapitals müssen sie ihren Wert unter Beweis stellen. Die theologi­sche Grundlage eines solchen Denkens ist offenkundig – Mühsal hat nicht nur einfach eine Bedeutung, sondern ist deren eigentliche Bedingung. Ein Leben ohne Mühsal wäre nichts als seicht und inhaltsleer. Genau diese Sichtweise gilt es nun zu überwinden, als ein Überbleibsel ei­ner hinter uns liegenden Stufe menschlicher Geschichte.  Die Neigung, Mühsal als etwas Bedeutsames zu betrach­ten, mag zu früheren Zeiten eine gewisse Funktion gehabt haben, als Armut, Hunger und Krankheit ebenso unver­meidliche Bestandteile der menschlichen Existenz waren. Doch heute sollten wir eine solche Logik zurückweisen und erkennen, dass es nicht länger notwendig ist, Mühsal und Leid Bedeutung beizumessen. Arbeit und die Mühen, die sie mit sich bringt, sollten nicht glorifiziert werden.

Notwendig ist daher ein gegenhegemoniales Projekt: eines, das die Vorstellung zerstört, Arbeit sei etwas Not­wendiges und Erstrebenswertes – und Mühsal die Grundlage allen Lohns. In den Medien deuten sich bereits Veränderungen an, wenn beispielsweise ein bedingungs­loses Grundeinkommen nicht nur als eine mögliche, son­dern zunehmend als die notwendige Antwort auf das Problem technologisch bedingter Arbeitslosigkeit disku­tiert wird. Derartige Trends müssen verstärkt werden. Die Dominanz des Arbeitsethos gerät zunehmend auch zur sich verändernden materiellen Basis der Ökonomie in Widerspruch. Der Kapitalismus verlangt, dass die Men­schen arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, doch gleichzeitig ist er immer weniger imstande, ausrei­chend Arbeitsplätze zu schaffen. Die Spannung zwischen dem Festhalten am Arbeitsethos und diesen materiellen Veränderungen wird dazu führen, das Potential für einen grundlegenden Wandel zu stärken. Auch Kampagnen, die Prekarisierung und Arbeitslosigkeit als politisches Pro­blem deutlicher sichtbar machen, tragen das ihre zum Abschied von der Arbeitsgesellschaft bei, vergleichbar der Art und Weise, wie Occupy Ungleichheit und UK Uncut Steuerflucht in den Blickpunkt rückten.

Vielleicht am wichtigsten aber – und etwas, woran sich anknüpfen lässt – ist der weit verbreitete Hass auf den ei­genen Job. So wie die neoliberale Hegemonie reale Wün­sche kooptierte, um aktiven Konsens zu stiften, muss je­des gegen die Hegemonie der Arbeitsgesellschaft ge­ richtete Projekt seine Stärke entwickeln, indem es die Sehnsüchte der Menschen aufgreift. Der Wertschätzung der Arbeit, die wir bei anderen gewöhnlich voraussetzen, steht die Verachtung gegenüber, mit der wir dem eigenen Job begegnen. Heute empfinden weltweit nur 13 Prozent der Beschäftigten die eigene Arbeit als attraktiv. Kör­perlich angegriffen, geistig erschöpft und gesellschaftlich abgehängt stehen die meisten in ihrem Job unter einer immensen Belastung. Für die übergroße Mehrheit birgt die Arbeit weder Sinn, noch Erfüllung oder Kompensa­tion – sie ist einfach nur Mittel, um die Rechnungen be­zahlen zu können. Alle, die heute ohne Job sind, sollten nicht um eine Rückkehr in die Arbeits-und Leistungsge­sellschaft kämpfen, sondern beginnen die Voraussetzun­gen zu schaffen, ein Leben außerhalb der Arbeit zu füh­ren.

Um den kulturellen Konsens zu verändern, der das Ar­beitsethos trägt, bedarf es eines Handelns auf der All­tagsebene und der Übersetzung solcher mittelfristigen Ziele in politische Slogans, Meme und Parolen. Wesent­lich und nicht einfach sind zudem die Organisierung und das Engagement auf Betriebsebene – die Mobilisierung der Leidenschaften gegen das Arbeitsethos. Erfolge all dieser Bemühungen lassen sich dann etwa daran ablesen, dass die mediale Darstellung der Automatisierung sich verschiebt und die Panik angesichts des drohenden Ver­lusts von Arbeitsplätzen der Freude darüber weicht, der Mühsal zu entrinnen.

DAS REICH DER FREIHEIT

Eine Linke im 21. Jahrhundert hat alles daranzusetzen, die Zentralität der Arbeit im heutigen Leben zu bekämp­fen. Letzten Endes stehen wir damit vor der Entschei­dung, mit der Arbeiterklasse auch die Arbeit weiter zu  feiern oder beide zu verwerfen. Ersteres findet sich in der folkpolitischen Tendenz, die »konkrete«, handwerkli­che Arbeit hochzuhalten, doch nur die zweitgenannte Option steht wirklich für eine postkapitalistische Posi­tion. Arbeit gilt es abzulehnen und einzuschränken, um so unsere synthetische Freiheit zu entfalten. Darauf zielen die von uns in diesem Kapitel vorgestellten vier Minimalforderungen nach

  • umfassender Automatisierung,
  • Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit,
  • Bereitstellung eines bedingungslosen Grundeinkom­mens,
  • Demontage des Arbeitsethos.

Jede dieser Forderungen kann alleine stehen, doch ihre wahre Stärke entfalten sie erst in ihrer Verbindung zu ei­nem integrierten Programm. Es ist nicht auf eine be­grenzte Reform abgestellt, sondern auf eine vollkommen neue hegemoniale Formation, gegen Neoliberalismus und Sozialdemokratie gleichermaßen. Die Forderung nach umfassender Automatisierung verbessert die Chancen ei­ner Verkürzung der Arbeitszeit und unterstreicht die Notwendigkeit eines universellen Grundeinkommens. Ei­ne Reduzierung der Arbeitszeit trägt zur ökonomischen Nachhaltigkeit bei und wird zu einem Hebel der Klas­senmacht. Und ein bedingungsloses Grundeinkommen wiederum erweitert nochmals die Möglichkeiten der Ver­kürzung der Arbeitszeit und das Potential der Klassenmacht. Die Automatisierung würde zusätzlich beschleu­nigt: Die zunehmende Stärke der Arbeiter sowie der an­gespannte Arbeitsmarkt treiben die Löhne und damit die Grenzkosten in die Höhe und zwingen Unternehmen zur Automatisierung. In ihrem Zusammenwirken verstär­ken sich die verschiedenen Ziele gegenseitig.

Gelingt es einer solchen neuen hegemonialen Forma­ tion jenseits der Arbeit, sich unter all jenen, die von ihr profitieren, eine politische Massenbasis zu schaffen, wäre sie imstande, ihr Fortbestehen gegen Angriffe zu vertei­digen. Das Ziel lautet, dem Kapitalismus die Zukunft zu entwinden und eine Welt des 21. Jahrhunderts nach unseren Vorstellungen zu schaffen. Es geht darum, Zeit und Geld zur Verfügung zu stellen, die unentbehrlichen Voraussetzungen der Freiheit. Der überkommene Schlachtruf der Linken, die Forderung nach Vollbeschäf­tigung, wäre durch einen neuen zu ersetzen, durch die Forderung, dass künftig niemand mehr arbeiten müssen soll. Doch um es klar zu sagen: Es gibt keine technokrati­schen Selbstläufer, und ebenso wenig ist der Abschied von der Arbeitsgesellschaft unausweichlich. Die Kämpfe um Automatisierung, um eine Verkürzung der Arbeits­zeit, um den Bruch mit dem Arbeitsethos und um ein be­dingungsloses Grundeinkommen sind in erster Linie po­litische Kämpfe. Das Imaginäre einer Gesellschaft jen­seits der Arbeit schafft ein hyperstitionales Bild des Fort­schritts – eines, das darauf abzielt, die Zukunft zu einer die Gegenwart verändernden historischen Kraft werden zu lassen. Die Kämpfe, denen ein solches Vorhaben ent­gegensieht, bedingen, dass die Linke ihren folkpoliti­schen Horizont hinter sich lässt, zu neuer Stärke findet und eine umfassende Strategie der Veränderung entwi­ckelt. Diesen Themen wollen wir uns nun zuwenden. (S. 203-210)

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