Realistisch ist, wofür man kämpft

ak – zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 538 / 17.4.2009

Realistisch ist, wofür man kämpft

Ein Gespräch zehn Jahre nach dem Existenzgeld-Kongress

Vor zehn Jahren fand nach 1982 die zweite große Konferenz zu Existenzgeld statt. Im März 1999 debattierten in Berlin nicht nur BefürworterInnen, sondern auch radikale KritikerInnen auf der Konferenz „Für das Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung“ über Sinn und Unsinn dieser Forderung. Kurz nach dem Regierungsantritt von Rot-Grün stellte das Treffen einen zentralen Bezugspunkt für eine Debatte zu Sozialstaats- und Kapitalismuskritik sowie linke Strategien dar. Inzwischen haben sich die Rahmenbedingungen linker Politik ebenso geändert wie das Spektrum derjenigen, die sich das Existenzgeld auf die Fahnen schreiben. Ein guter Anlass für ein kritisches Resümee.

ak: Könnt ihr euch kurz vorstellen und sagen, ob Ihr 1999 auf dem Kongress wart?

Jörg Nowak: Ich habe beim Kongress 1999 die AG Prekarisierung mit organisiert, war danach in verschiedenen arbeits- und sozialpolitischen Gruppen aktiv. Unter anderem in der CallCenterOffensive . Zurzeit bin ich im Komitee Solidarität mit Emmely aktiv.

Meike Bergmann : Ich bin seit vier/fünf Jahren im Euromayday Hamburg aktiv und war 2006 beteiligt am Kongress „Die Kosten rebellieren II“. Vor zehn Jahren war ich noch in einer kleinen Universitätsstadt in der Nähe von Frankfurt unterwegs in feministischen und antirassistischen Kreisen und aus der Ferne am Kongress in Berlin interessiert, war aber nicht dort.

Harald Rein: Seit Ende der 1980er Jahren lasse ich mich als Mitarbeiter des Frankfurter Arbeitslosenzentrums von der Protestbewegung von Erwerbslosen inspirieren und versuche, selbst eigene inhaltliche Schwerpunkte zu setzen. Am Kongress habe ich teilgenommen und bin zusammen mit Hans-Peter Krebs Herausgeber einer Dokumentation über den Kongress. Zudem bin ich so ziemlich an allen regionalen und bundesweiten sozialpolitischen Aktivitäten zum Thema beteiligt. Zurzeit arbeite ich beim Netzwerk Grundeinkommen und am Runden Tisch gegen Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung mit.

Mag Wompel: Ich bin Mitglied nationaler und internationaler Vernetzungsinitiativen kritischer/oppositioneller Gewerkschafter, Autorin industriesoziologischer und gewerkschafts- wie sozialpolitischer Veröffentlichungen sowie seit 1997 verantwortliche Redakteurin des LabourNet Germany und engagiert im Versuch, den Gewerkschaftslinken durch die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen den „Fetisch Arbeit“ auszutreiben.

Habt ihr die Bundestagspetition zum Grundeinkommen unterzeichnet? Und wenn ja, warum?

M.B.: Die Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen habe ich unterzeichnet, da sie das Gespräch über eine Entkoppelung von Arbeit und Einkommen in einen gesellschaftlich breiteren Rahmen stellt. Vielleicht ist es spekulativ, aber die Beteiligung an der Petition und die Einträge in den Foren lassen vermuten, dass auch Menschen das bedingungslose Grundeinkommen befürwortet haben, die sich nicht unbedingt auf Kongressen und einschlägigen Arbeitstreffen zu Existenzgeld und Grundeinkommen bewegen. Interessant ist dabei die Auseinandersetzung über gesellschaftlich notwendige Arbeit: Wer bekommt für welche Arbeit wie viel (oder gar kein) Geld? Wie wird Kindererziehung, Hausarbeit, Betreuung und Pflege etc. entlohnt und „gewertschätzt“? Und könnte nicht ein bedingungsloses Grundeinkommen Freiräume eröffnen für ehrenamtliches Engagement und gesellschaftliche Teilhabe für diejenigen, die dafür im täglichen Existenzkampf keine Zeit finden oder keinen Sinn darin sehen. Aber natürlich ist eine Petition im Bundestag für Nicht-Bürger Deutschlands kein Versprechen auf das Recht, Rechte zu haben. Aber es zeigt das Begehren, die Gesellschaft anders gestalten zu wollen, als nur nach mehr Arbeit zu rufen.

J.N.: Ich habe die Petition nicht unterschrieben, da ich einen der im Anschluss an die Konferenz diskutierten Punkte wichtig finde: Die Forderung nach einem Grundeinkommen macht für mich nur Sinn in Kombination mit der nach radikaler Arbeitszeitverkürzung, also im Rahmen einer umfassenden Arbeitspolitik. Wenn die Forderung nach Grundeinkommen isoliert gestellt wird, kann sie leicht durch ein neoliberales Projekt instrumentalisiert werden. Grundeinkommen macht ja auch Sinn, wenn man die Löhne radikal reduziert und zusätzlich zur Ruhigstellung ein Almosen vergibt. In dem Rahmen könnte dann auch früher gut bezahlte Arbeit in ehrenamtliche gewandelt werden, da ja nun genug Zeit da ist.

Ich habe es auch als Schwäche der Konferenz gesehen, dass die zweite Hälfte des Titels „Konferenz für Existenzgeld und radikale Arbeitszeitverkürzung“ nicht nur auf der Konferenz vernachlässigt, sondern im Nachhinein schlichtweg vergessen wurde, wie sich auch in dieser Diskussion zeigt. Nicht zuletzt die hierarchische geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb und außerhalb der Lohnarbeit kann nur durch eine umfassende Arbeitspolitik, die Einkommen und angesehene Jobs geschlechtergerecht umverteilt, modifiziert werden. Grundeinkommen als isolierte Forderung kann unter den jetzigen Kräfteverhältnissen bedeuten, die Armut und die bestehenden Geschlechterhierarchien etwas angenehmer zu verwalten, ohne gleichberechtigte Partizipation und Umverteilung von oben nach unten durchzusetzen.

H.R.: Ich kann die Euphorie einiger Grundeinkommensbefürworter angesichts der Wirkung einer eingereichten Petition nicht nachvollziehen. Es handelt sich um ein scheinbar demokratisches Instrument, dass aber keinerlei konkretes Ergebnis zeitigen wird. Das heißt, falls sich der Bundestag überhaupt damit beschäftigt, wird sie im parlamentarischen Papierkorb enden und der Frust ist groß. Wenn all die Zeichner einer Petition die Forderung nach einem Grundeinkommen auf die Straße tragen würden, kämen wir einer gesellschaftlichen Veränderung etwas näher. Aber es war schon immer leichter, vom beheizten Wohnzimmer aus seinen Protest mit einem Fingerdruck zu manifestieren, als autoritäre sozialstaatliche Strukturen praktisch anzugreifen und zu verändern. Ein Grundeinkommen kann nur erkämpft werden und wird sich als parlamentarische Lösung in der Praxis immer gegen ihre eigenen Protagonisten richten. Aus diesem Grund habe ich die Petition nicht gezeichnet.

M.W.: Die Petition wurde im LabourNet verlinkt, aber nicht unterschrieben. Verlinkt und im Newsletter erwähnt, um diese Initiative bekannt zu machen und unsere Leser entscheiden zu lassen, ob sie sie unterstützen wollen. Nicht unterzeichnet, weil ich a) die Konsumsteuerfinanzierung (Götz Werner) als unsozial ablehne und b) eine starke Skepsis gegenüber Petitionen hege – Kräfteverhältnisse, nicht Gesetze entscheiden! c) deckt sich diese Entscheidung des LabourNet mit meiner grundsätzlichen Haltung zum bedingungslosen Grundeinkommen: Nicht als realpolitisch kurzfristig zu realisierende Forderung (als solche wäre ein repressionsfreies und drastisch erhöhtes ALG II wohl durchsetzbarer), sondern als Trojanisches Pferd in den Köpfen der Lohnabhängigen, die sich ein Leben ohne Lohnabhängigkeit vielleicht wünschen würden, aber kaum denken können. Doch nur wenn etwas für realisierbar, denkbar gehalten wird, kann es als Idee, als Alternative zum Bestehenden zugelassen werden. Dies ist eine unabdingbare Voraussetzung für einen Kampf für eine Sache. In diesem Sinne kann m.E. die möglichst breite Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen neue Horizonte jenseits des „Kampfes um jeden Arbeitsplatz“ und jenseits von „Hauptsache Arbeit haben“ eröffnen und darüber das Selbstbewusstsein für höhere, menschengerechtere Ansprüche wecken. Im Übrigen: Da der Mensch ein widersprüchliches Wesen ist, habe ich, als es hieß, es fehlten nur noch wenige Unterschriften, doch noch versucht zu unterzeichnen, um der Debatte nicht im Wege zu stehen – allerdings war der Petitionsserver überlastet.

Das Thema Grundeinkommen wird weit breiter als noch vor zehn Jahren diskutiert. Das ist aber nicht unbedingt Ausdruck veränderter Kräfteverhältnisse. Harald und Jörg, warum ist das Grundeinkommen verstärkt in der Diskussion und was bedeuten die veränderten Bedingungen für die politische Auseinandersetzung und die strategische Ausrichtung eurer Politik?

J.N.: Meiner Wahrnehmung nach ist das Grundeinkommen seit Anfang der 1980er Jahre immer mal wieder in der Diskussion. Woran es liegt, dass es in den letzten Jahren wieder einen Aufschwung gibt zu einer breiteren Diskussion dazu, finde ich schwer auszumachen. Ein Grund ist sicherlich, dass der anthroposophisch gestimmte Chef einer Drogeriekette das Thema mit gar nicht so schlechten Argumenten seit einiger Zeit unterstützt und es damit ein Aushängeschild für das Thema aus etablierten Kreisen gibt. Aber wahrscheinlich gibt es auch andere Gründe. Bei der zweiten Frage bin ich mir nicht sicher, ob ich sie verstehe. Wenn sie so gemeint ist, ob die breitere Diskussion des Grundeinkommens sich irgendwie auf die Bedingungen für Politik auswirkt, dann würde ich sagen: unwesentlich. Ich glaube, andere Entwicklungen wie der Spitzelskandal bei Lidl, die Korruptionsskandale bei Siemens, der Telekom und der Bahn sowie der Zusammenbruch des Finanzsystems sind da gerade einfach viel relevanter.

H.R.: Von einem veränderten Kräfteverhältnis kann keine Rede sein. Widerstandspotenziale gegen das System kapitalistischer Ausbeutung und Verarmung sind marginal. Das „große Bündnis“ für ein bedingungsloses Grundeinkommen ist eher dem Suchen nach Alternativen zum von der herrschenden Politik betriebenen „Weiter so“ geschuldet. Die Gefahr liegt darin, dass in diesem Bündnis immer stärker meist parteipolitische Kräfte und Ökonomievertreter auftauchen, die ein Konzept von Grundeinkommen vertreten, das den Versuch impliziert, die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft so zu lösen, dass die Ausbeutung von Lohnabhängigen auf erhöhtem Niveau fortgeführt werden kann, sozialstaatliche Leistungen noch weiter zurückgefahren werden können, während Erwerbslose einen minimalen Ausgleich erhalten, verbunden mit der „Freiheit“, den Armutslohn mit irgendeinem Niedriglohn aufzustocken. Wollen die einen den sozialstaatlichen Zwang optimieren (Hartz IV etc.), setzen die anderen auf den stummen Zwang der Verhältnisse.

Was sich auf der einen Seite als positiv herausstellt, nämlich die allmähliche Verbreitung und Zustimmung zu einem bedingungslosen Grundeinkommen, verkommt auf der anderen Seite zu einem rein steuerrechtlich zu bewältigenden Ansatz, ohne gesellschaftliche Unrechtsverhältnisse infrage zu stellen. Der Glaube, dadurch dass nur genügend Menschen eine ungenaue Petition unterschreiben und eine Mehrheit im Bundestag dem zustimmt, zu einer Veränderung kapitalistisch produzierter Realitäten zu kommen (falls überhaupt gewollt), wird sich schnell als folgenschwerer Irrtum erweisen. Dass diejenigen, die für die Agenda 2010 u.v.m. verantwortlich sind, nun ein Grundeinkommenskonzept nach den Prinzipien des Netzwerks Grundeinkommen verabschieden, ist absurd.

Zudem werden wichtige Unterschiede in der Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen verwischt; nur noch bestimmte Konzepte werden vorgestellt und diskutiert. Andere werden als nicht realistisch (Höhe, Finanzierung, Zusammenhang zu den Forderungen nach einer Arbeitszeitverkürzung und zu einem Mindestlohn) diffamiert oder einfach „vergessen“. Das heißt, uns als Existenzgeldbefürworter erfreut es, eine recht breite Zustimmung zum Grundeinkommen zu vermerken, aber gleichzeitig verschärft es die politische und strategische Auseinandersetzung, da wir es nun nicht nur mit Gegnern außerhalb des Grundeinkommensdiskurses zu tun haben, sondern auch innerhalb des Netzwerkes für ein Grundeinkommen.

Meike, welche Stellung hat die Forderung nach Existenzgeld im Rahmen des Mayday und wie gehen die Aktiven im Rahmen des Mayday mit den angesprochenen Widersprüchen um? Man könnte ja nach dem bisher Gesagten die These aufstellen, dass die Forderung zwar nach wie vor richtig ist, aber die Linke ganz andere Fragen beantworten müsste (Macht die Forderung ohne Kämpfe Sinn? Wie kann Widerstand gegen prekäre Arbeit organisiert werden etc.).

M.B.: Mich interessiert beim Euromayday die Idee der Aneignung von Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Lebensumstände an prekäre Lebens- und Arbeitslagen jenseits von Fünftagewoche und Sozialversicherung; daher lässt sich an die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen prima andocken.

Doch was – fragt sich die prekäre Selbstständige – haben die Verknüpfungen mit Arbeitszeitverkürzung und Mindestlohn mit Leuten wie mir zu tun, die sich nicht nur auf Erwerbsarbeit fixieren? Arbeit habe ich ja genug, kürzen kann ich sie mir nur selbst, ich brauch Geld! Und das bedingungslos.

Die Debatte nimmt sogenannte Care-Tätigkeiten, prekäres Dasein im Alter, die Würdelosigkeit von Bedürfnisprüfungen in den Blick. Die Betonung liegt auf der gesellschaftlichen Auseinandersetzung aus den verschiedenen Subjektrollen heraus. Und eben nicht in der Anmaßung, linke Lösungen vorzugeben. Ich habe hier in den bisherigen Beiträgen den Eindruck gewonnen, die gesellschaftlichen Protagonisten bestehen aus Staat, Kapital und der Linken. In diesem Antagonismus hat Susanne Wiest, die die Petition für das bedingungslose Grundeinkommen initiiert und formuliert hat, natürlich nichts verloren.

Dabei verkörpert sie das Begehren, die gesellschaftlichen Verhältnisse mitzugestalten, ohne zuvor Experten um Rat zu fragen. In ihrer Rede vom 29. Januar 2009 (1) kriegt man eine Ahnung von ihrer Wut über ihre Situation, die sie mutig die Initiative hat ergreifen lassen, ohne Support einer Partei oder eines Netzwerkes.

Schönen Dank auch für die Annahme, wir Unterzeichnerinnen würden alle an die Macht von Petitionen glauben. Der von Harald kritisierte bequeme Mausklick ist Ausdruck von Zustimmung und dem Wunsch nach Veränderung. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Und über 50.000 Leute finden die Idee gut. Das hat gleichen Nachrichtenwert wie eine Demonstration auf der Straße. Die breitere Debatte weckt, wie Mag es sagte, das Selbstbewusstsein für menschenwürdige Ansprüche. Mehr als auf einem linken Kongress diskutieren Leute über eine gesellschaftliche Umgestaltung – und auch, wenn manche keine Veränderungen mögen, werden sich Informationsaustausch und soziale Organisierung zunehmend im Rahmen von Blogs, Foren, digitalen Netzwerken abspielen. Und natürlich wird man sich weiter streiten müssen, wie eine z.B. globale Umsetzung aussehen könnte, wie sie finanziert wird, in welche Höhe, welche politischen Kämpfe um Teilhabe und Anerkennung einzelner Interessen das Projekt begleiten sollen. Das muss erkämpft werden – aber anscheinend auch das Recht gegenüber Linken, überhaupt mitreden und mitgestalten zu dürfen.

Mag, Stefanie Hürtgen stellt ja die These auf, dass gerade das Fehlen eines linken Projekts es erschwert, im Betrieb über ein Co-Management und Abwehrkämpfe hinauszukommen, und führt u.a. das Existenzgeld als eine mögliche Forderung an. (vgl. ak 534) Aber mit der zunehmenden Verwässerung, die auch Harald anspricht, verändern sich die politischen Rahmenbedingungen, unter denen die Forderung aufgestellt wird und es stellt sich die Frage, ob ein gewerkschaftlicher Kampf überhaupt mit dieser Forderung sinnvoll geführt werden kann.

M.W.: Ich weiß nicht, ob die Kollegen in den Betrieben ausdrücklich ein linkes Projekt vermissen, aber das Fehlen von realistischen Alternativen überhaupt ist das Totschlagargument gegen jede Kritik an Co-Management und Verzichtslogik. Unzufrieden sind die meisten und ahnen, dass der Verzicht nicht belohnt wird, aber das Gegenteil ist noch unsicherer … Die meisten sind auch froh, wenn es z.B. linke Minderheiten im Betriebsrat gibt. Aber sobald die Angst um die Arbeitsplätze umgeht, sind eben die Verhandler und Co-Manager gefragt.

Hier setzt die Rolle der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen als ein Trojanisches Pferd an, die ich immer wieder hervorgehoben habe. Denn erst wenn Alternativen sichtbar und denkbar werden, darf das bisher Alternativlose (hier der „Kampf um jeden Arbeitsplatz“) kritisiert werden. Oder anders ausgedrückt: Wenn die Lohnabhängigkeit bzw. die Erpressbarkeit durch die Angst um den Arbeitsplatz als einziges Mittel zur Existenzsicherung unser Problem ist, dann müssen wir alles tun, um diese Erpressbarkeit, diese Angst zu mildern. Dies hätte die Gewerkschaftsbewegung schon seit Jahrzehnten durch Verbesserung statt Duldung der Verschlechterung der Lebensbedingungen von Erwerbslosen tun können und m.E. müssen.

Will man zugleich die Ansprüche an die von Meike angesprochene „Aneignung von Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Lebensumstände“ heben, ist allerdings ein wirklich bedingungsloses Grundeinkommen wirksamer. Allein die selbstbewusste Forderung danach würde die Kampfkraft der Belegschaften stärken und dem entgegenkommen, was Harald zu Recht als Bedingung für ein echtes bedingungsloses Grundeinkommen benennt.

Auch deshalb wird die Forderung nach einem ausreichenden und echten bedingungslosen Grundeinkommen von den Betroffenen mit und ohne Job, nicht von ihren „Interessenvertretern“ (= Gewerkschaftsfunktionären) erhoben und durchgesetzt werden müssen, denn letztere wollen ja als Verhandler und Co-Manager gebraucht werden, als Stellvertreter eben.

Hinter der Forderung nach Existenzgeld stehen nicht nur unterschiedliche Vorstellungen der Ausgestaltung. Bei euch ist herauszuhören, dass die Forderung auch einen ganz unterschiedlichen strategischen Stellenwert hat. Hier liegt wohl auch der Hase im Pfeffer. Mag bezeichnet das Existenzgeld als Trojanisches Pferd. Du willst die Forderung im politischen Kampf eher als Mittel zum Zweck einsetzen. Meike scheint hingegen davon auszugehen, dass die Forderung ein organischer Ausdruck der prekarisierten Lebens- und Arbeitsverhältnisse darstellt. Damit verbindet sie die Hoffnung auf eine gemeinsame Diskussion und Organisierung, wobei unterstellt wird, dass schon ein allgemein verbindendes Moment vorliegt – in Form des Existenzgeldes als adäquate Antwort auf gemeinsame Probleme. Harald und Jörg scheinen die Forderung jetzt nicht unbedingt falsch zu finden, aber auch nicht unbedingt als das anzusehen, was auf der Tagesordnung steht.

J.N.: Eine strategische Ausrichtung kann m.E. nicht anhand einer Forderung gefunden werden. Sie ergibt sich, wenn überhaupt, aus politischen Kämpfen und aus Diskussionen innerhalb und zwischen Organisationen und nicht durch eine Round-Table-Diskussion zwischen verschiedenen Aktivisten, wie wir sie hier führen. Da können nur unterschiedliche Sichtweisen zusammengetragen und ausgetauscht werden, was ja an sich nicht schlecht ist. Ich weiß auch gar nicht, ob mir an einer strategischen Ausrichtung der „radikalen Linken“ überhaupt gelegen ist. Ich finde das Label „linksradikal“ ziemlich verbraucht und es bezeichnet mir zu sehr einen (meist studentischen und intellektuellen) Gestus, als dass es für einen klar benennbaren sozialen und politischen Inhalt steht. D.h. mir ist viel eher an einer politischen Verständigung zwischen sozial und politisch heterogenen Akteuren gelegen als an Identitätspolitik, die sich auf das Label „linksradikal“ beruft.

M.B.: In einem kann ich mich Jörg nur anschließen: Die radikale Linke ist nicht unser Kompass. Uns interessiert in der Politisierung des Alltäglichen, etwas möglich zu machen, ein Ausweg aus dem Alltag zu finden und ein Fenster für (gesellschaftliche) Veränderungen aufzustoßen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine der wenigen Forderungen, die in Europa eine gemeinsame Sprache finden, ob als basic income oder renta basica . Die Stolpersteine einer europäischen Organisierung im Euromayday zeigen jedoch, dass Programmatik über gemeinsame Forderungen noch keine Bewegung hervorbringt. Es braucht mehr: Austausch über unsere Erfahrungen, eine Verständigung über die verschiedenen Einsätze, die wir bereit sind zu bringen, und zu guter Letzt eine Definition der Kampfzone, in der wir uns bewegen wollen. Das ist die Subjektivität in der Prekarität.

Der Euromayday setzt das Gemeinsame nicht voraus, sondern versucht es zu schaffen: durch Befragungen und Untersuchungen wie die „Mir reichts nicht“-Kampagne, durch Diskussionen mit anderen Prekären, Selbstständigenstammtischen und FreundInnenversammlungen und nicht zuletzt die Paraden. So planen wir vor dem 1. Mai eine Versammlung mit möglichst vielen Unterzeichnern der Petition in Hamburg, um uns über die Wünsche an ein bedingungsloses Grundeinkommen zu verständigen: Was versprechen sich die einzelnen davon für ihr Leben und welche gesellschaftlichen Veränderungen? Ist eine öffentliche Anhörung im Bundestag eine Protestbühne? Sprechen wir von Grundeinkommen jetzt oder irgendwann? Wir glauben, dass es sich lohnt, die politischen Möglichkeiten auszuloten, die sich aus der Exzessivität der sozialen Beziehungen in der Prekarität ergeben können. Die – längst nicht nur – virtuellen sozialen Netzwerke, die der E-Petition über 50.000 Stimmen beschert haben, sind ein möglicher Hinweis darauf, welche politische Dynamik solche Netzwerke entfalten können, und spannend wird es dann, wenn sich diese Dynamik verallgemeinert.

M.W.: Natürlich kann das bedingungslose Grundeinkommen nur ein Mittel zum Zweck sein, denn Geld allein macht ja bekanntlich nicht glücklich! Ich möchte eine Gesellschaft, die (tendenziell) kein Geld (mehr) braucht, in der jede Infrastruktur, die der Mensch braucht, für alle ausreichend verfügbar ist. Und in der die Menschen andere und höhere Ansprüche entwickeln, als einen Arbeitsplatz zum Knechten und Geld verdienen – Geld für vieles, was sie ohne das Knechten nicht bräuchten …

Aber ob ich deswegen die Lohnabhängigen nicht ernst nehme? Ich nehme die Nöte und Ängste der Menschen sehr ernst, ob mit oder ohne Job. Allerdings nehme ich – gerade deshalb! – den Kampf gegen die Lohnabhängigkeit genauso ernst. Denn nur der gemeinsame Kampf der „glücklichen Beschäftigten“ und der „unglücklichen Erwerbslosen“ gegen die Lohnabhängigkeit, also auch der Kampf um ein bedingungsloses Grundeinkommen, kann ihre faktische Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, auch wenn sie in diese gezwungen werden, aufheben.

Und: Wer ein bedingungsloses Grundeinkommen für realisierbar und wünschenswert hält, hat bereits eingesehen, dass Lohnarbeit und Lohnabhängigkeit keinesfalls alternativlos sein müssen, weder zur Existenzsicherung noch zur sozialen Anerkennung. Sie werden durch Ökonomisierung, Privatisierung, Vereinsamung etc. alternativlos gemacht, denn nicht umsonst ist Lohnabhängigkeit – neben dem Privateigentum an Produktionsmitteln – die Existenzbedingung des Kapitalismus.

Mit anderen Worten: Es gilt die Menschen und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen, nicht ihre überflüssige Funktion als Lohnabhängige (oder Träger der Binnennachfrage). Dies wäre – neben der Vision einer humanen Gesellschaft – eine wünschenswerte strategische Ausrichtung der radikalen Linken und – noch besser – aller Lohnabhängigen. Über die Mittel zum Zweck ließe sich dann streiten!

H.R.: Dass es unterschiedliche Auffassungen betreffs des Weges zu einer anderen Gesellschaft gibt, ist vollkommen natürlich, und dass einige Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens nicht dazu zählen, ebenfalls.

Der Begriff strategische Ausrichtung ist für mich viel zu statisch; soziale Kämpfe verlaufen nicht nach einem bestimmten Schema, sondern sind in der Regel spontan, eruptiv und können genauso schnell, wie sie begonnen haben, wieder beendet sein. Aus diesen Kämpfen zu lernen, diese Erfahrungen mit den eigenen politischen Zielvorstellungen zu konfrontieren und diese Quintessenz zur Diskussion zu stellen bzw. in neue Kämpfe einfließen zu lassen, ist für mich praktische Politik.

Das von Erwerbslosengruppen entwickelte Existenzgeld ist natürlich auch eine konkrete Forderung, da es im Zusammenhang mit einer politischen Perspektive steht, die sich aus den Interessen und tagtäglichen Kämpfen von Erwerbslosen ergeben hat. Sie speist sich aus den Kämpfen gegen Armut bzw. für eine kostenlose soziale Infrastruktur, den Erfahrungen mit einem autoritären Sozialstaat, den Angriffen auf die Würde jedes Einzelnen usw. Gleichzeitig können diese Kämpfe zu einem anderen Arbeitsbegriff (Infragestellung der Lohnarbeit), zu einem anderen politischen Repräsentativbegriff (entscheidend sind außerparlamentarische Bewegungen) und zu einem anderen Ökonomiebegriff (was wollen wir wie produzieren?) führen. Kurz und gut, wir werden nicht auf etwas möglicherweise Zukünftiges warten, sondern „wir werden die Dinge hier und jetzt ändern“ (John Holloway).

M.W.: … und natürlich gibt es einen Unterschied zwischen der „Großforderung“ nach einem nichtkapitalistischen System und der „Mittelforderung“ nach einem bedingungslosen Grundeinkommen bereits hier und jetzt. Es macht durchaus einen Unterschied, ob ich aktuell z.B. einem „Opelaner“ gegenüber Staatshilfen pauschal verweigere und ihn auf die notwendige Abschaffung des Kapitalismus samt der Lohnarbeit verweise, oder ob ich ihm aufzeige, dass es unter den Bedingungen eines bedingungslosen Grundeinkommens ein gesamtgesellschaftlicher Schwachsinn ist, eine veralterte Produktion für die heilige Kuh Arbeitsplätze künstlich auf dem Markt zu halten, während Schulen vergammeln. Im ersten Fall lacht er mich bestenfalls aus oder findet mich zynisch ob seiner Existenzangst, im zweiten Fall wird er zumindest nachdenklich, da nicht bedroht.

Ich danke in diesem Zusammenhang Meike für das Stichwort zu meinem aktuellen Lieblingsthema „Linkssein im Alltag“. Denn nach einer Abendveranstaltung oder einem Wochenendseminar zur Kapitalismuskritik und internationaler Solidarität halten es viele Linke für alternativlos, malochen zu gehen, um den Lebensunterhalt zu verdienen, und dabei – oft genug – die erzwungene Konkurrenz untereinander mitzumachen. Und selbst wenn sie in einer Vertrauensleuteversammlung „Lohnarbeit abschaffen!“ fordern, wird ihnen zwar nicht gekündigt, aber sie werden ausgelacht. Dieses Auslachen ist eine natürliche Abwehrreaktion gegenüber einer Forderung, die für unrealistisch gehalten wird. Kann hingegen aufgezeigt werden, dass allein die Kosten des Arbeitslosengeldes samt Verwaltungs- und Repressionskosten ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle ermöglichten, wird das staatliche Interesse an der Lohnabhängigkeit offensichtlich und ein Nachdenken über interessante, selbst gesteuerte und eventuell sogar gesellschaftlich sinnvolle Zeitverwendung möglich.

Dies ist meines Erachtens die Rolle der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen im Kampf gegen die Lohnabhängigkeit – nicht stattdessen oder hintenrum. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist theoretisch machbar, eine Revolution viel zu abstrakt, und doch bedeutet ein bedingungsloses Grundeinkommen die faktische Abschaffung der Lohnabhängigkeit und zwingt zum Nachdenken über Sinn und Zweck sowie Lust/Unlust des Tätigseins. Auch bei Linken, die glauben, erst nach einer Revolution an die Art und Weise einer gesellschaftlich notwendigen Arbeit denken und auch dann erst ihr Verhalten in ein solidarischeres ändern zu müssen. Ich persönlich zumindest möchte keine Revolution erleben mit Linken, die im kapitalistischen, hierarchisch-autoritärem Leistungs- und Prestigedenken gefangen sind. Dann schon lieber ein bedingungsloses Grundeinkommen als höheres und repressionsfreies ALG II – auch damit wäre bereits gewonnen, was momentan undenkbar scheint … Oder wie ich es an anderer Stelle zum bedingungslosen Grundeinkommen gesagt habe: Realistisch ist, wofür wir kämpfen!

Interview: Ingo Stützle

Anmerkung: 1) Grundeinkommen ist machbar, Susanne Wiest, 29.01.2009, Hannover – Video bei youtube externer Link

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=20250
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