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Wie Europa weiter zerfällt – immer zum Nutzen Deutschlands. Kann es angesichts der Perspektive der Streiks in Frankreich doch noch ein gemeinsames demokratisches Europa geben?

Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 7.7.2016

Grafik zum Brexit von Joachim Römer - wir danken!Es sei mir gestattet jetzt einmal den „geneigten“ europäischen Blick von Großbritannien mit seinem „Brexit“ abzuwenden, um zu schauen, ob uns Europa nicht auch – gleichzeitig – auf einem weiteren Gebiet – nämlich in Frankreich – droht abhanden zu kommen.

Sorry, wenn ich angesichts der so unterschiedlichen „politischen Systeme“, wo aber die Ursachen der ökonomischen und sozialen Misere so unterschiedlich gewichtet auf Frankreich und Deutschland verteilt sind, nicht zu einer einfachen – formelhaften – Lösung im gemeinsamen Europa finden kann, obwohl der institutionelle „Finanzrahmen“ – der gemeinsame Euro! – uns dazu „zwingen würde, – und noch dazu, wo die Gewerkschaften der beiden Länder – wiederum so verschieden in ihren Handlungsmöglichkeiten (allein zur Wahl gehen oder auch noch „politisch“ streiken können…) – auch kaum miteinander über die gemeinsamen Lösungsmöglichkeiten kommunizieren (können), obwohl sie das dringend müssten…

So drängt sich – gerade nach dem Brexit – unweigerlich die Frage auf, inwieweit diese Perspektivlosigkeit für Gemeinsames in Europa – obwohl Deutschland davon bisher immer noch profitiert – „zwangsweise“ zu einem Zerfall führt? Oder bleibt angesichts dieser Unfähigkeit zur gemeinsamen Handlungsfähigkeit gerade z.B. auch der Gewerkschaften in Europa nur ein politisches „Ausgeliefertsein“ an die Rechten in Europa übrig, die es – dieses gemeinsame Europa – dazu noch auflösen wollen?

Folgt jetzt Frankreich – mit der „Front National“ der Marine Le Pen – Großbritannien mit seinem „Brexit“ raus aus Europa? Dabei könnten die aktuellen Streiks als ein Baustein für die Zukunft eines sozialeren Europa und gegen die Renationalisierung werden.

Es gibt sie zwar doch immer wieder – diese klitzekleine Solidarität in Deutschland mit den Streiks in Frankreich – trotz der Europa-Fußballmeisterschaft dort: (http://www.solidarische-moderne.de/de/article/479.traenengas-fussball-und-revolte-wer-gewinnt-in-frankreich.html externer Link)

Dabei ist es das Verdienst von Labournet im allgemeinen und Bernard Schmid aus Paris im besonderen, dass dieser auch für Europa so wichtige Streik bei uns in Deutschland doch – wenigstens prinzipiell – wahrgenommen werden kann. (https://www.labournet.de/category/internationales/frankreich/politik-frankreich/politik-arbeitsgesetz_widerstand/)

Dabei – und das lässt bei mir das Verständinis für diese Ignoranz – im allgemeinen – für diese Streiks bei uns vollkommen wegbrechen, denn der „Ausgang“ dieser Streiks in Frankreich wird ein so wichtiger Baustein in diesem Europa dafür sein, wie stark die „ArbeiterInnen“ in Frankreich sich von der „FN“ der Marine Le Pen vereinnahmen lassen und damit weg von einem gemeinsamen Europa, hin zu einer Nationalisierung – einer Marine Le Pen nämlich, die sich schon für den „Frexit“ in Frankreich vorbereitet – nach dem „Brexit-Erfolg“ in Großbritannien. (http://www.taz.de/!5315450/ externer Link)

Dabei hat der Soziologe Didier Eribon schon wunderbar – auch autobiografisch – in seinem wegweisenden und so ehrlichen Werk „Rückkehr nach Reims“ nachvollzogen, wie es zu dieser Wanderung der Arbeitenden von „Links“ (KP = zu autoritär und bürkratisch, um dem „Wandel“ gerecht werden zu können?) nach Rechts zur „FN“ kommen konnte – den Arbeiter „hilflos“ mit seinen sozialen Problemen zurücklassend. (https://www.perlentaucher.de/buch/didier-eribon/rueckkehr-nach-reims.html externer Link) – oder auch noch „en francais“: (http://next.liberation.fr/livres/2009/10/13/didier-eribon-mon-livre-prone-la-revolte-contre-la-violence-sociale_653258 externer Link)

Das Beispiel der „fernsehtauglichen“ Putzfrau Susi Neumann zeigt, dass dieses die „kleinen Leute“ sozial im Regen stehen zu lassen, nicht nur ein Problem Frankreichs ist (http://www.fr-online.de/politik/susi-neumann–aufmischen-statt-aufwischen,1472596,34455262.html externer Link).

Susi Neumanns Thema ist Altersarmut, Niedrigverdiener, Leiharbeit. Sie nennt es einfach: „Der ganze Mist, den der Schröder damals verbockt hat mit seiner Agenda 2010.“ Und sie hat alles am eigenen Leib erfahren. Und das politische Ergebnis ist heute: 30 Prozent Wähler aus der Arbeiterschaft für die AfD – und 30 Prozent aus den Arbeitslosen.

Und so hat die SPD nichts mehr zu erzählen – ist unkenntlich geworden. Und die Stimmung unter den Alten: Angst und Wut – und niemand weiß, wo es hinläuft.

Sozialisten weiter als die „frommen“ Steigbügelhalter des Neolib: Auf zur Zerstörung Europas – oder bleiben Alternativen?

Wie Colin Crouch kürzlich zur prekären Rolle der Sozialdemokraten ausführte, waren die Neoliberalen so klug, die Finanzkrise in eine Krise des Wohlfahrtsstaates umzudeuten. (http://www.fr-online.de/kultur/sozialdemokratie-die-prekaere-rolle-der-sozialdemokraten,1472786,34275708.html externer Link)

Und auf der politischen Seite ist etwas Neues dazu gekommen, es ist für viele Leute zur Mode geworden, die Eliten zu kritisieren, aber ohne dass diese Kritiker ins Risiko gehen und zu radikal – z.B. gegen das Finanzkapital – in ihren Aussagen werden. Und so geht diese Kritik an den neoliberalen Eliten einher mit Fremdenfeindlichkeit und einem neuen Nationalismus. Deshalb benötigt die Sozialdemokratie eine Rückgewinnung des kritischen Diskurses über Gerechtigkeit. Dieser Diskurs über die Ungleichheit muss von den Rechtsextremen wieder zurückgeholt werden.

Der Widerstand gegen das „Loi travail“ in Frankreich – kann die Regierung in Frankreich der richtige Adressat sein?

Und jetzt nach dem großen Aktionstag am 14. Juni gegen dieses „Loi travail“ in Frenkreich: (https://www.labournet.de/internationales/frankreich/politik-frankreich/politik-arbeitsgesetz_widerstand/am-14-juni-weltweite-solidaritaetsaktionen-mit-dem-widerstand-gegen-das-neue-franzoesische-arbeitsgesetz-auch-in-nrw/)

Ein Dank geht dabei an Ulrike Herrmann – während die hiesigen Medien in Deutschland weiter eingeschworen bleiben auf die „Deutsche ökonomische Schule“ kann Ulrike Herrmann – wieder einmal – diese ach so schräge Denkweise hinter sich lassen und damit den ökonomischen Zusammenhang in der Eurozone wieder von dem Kopf auf die Füße stellen, wo Ursache und Wirkung doch klar zugeordnet werden können: Frankreichs Sommermärchen wird gestört – durch die Großdemonstrationen gegen die französische Arbeitsmarktreform – aber : die Lösung liegt nicht in Frankreich, sondern in Deutschland (http://www.taz.de/Kommentar-Protest-in-Frankreich/!5309275/ externer Link).

Die Wut der Demonstranten ist verständlich, schreibt Ulrike Herrmann weiter: Es schafft – unter diesen gegenwärtigen Bedingungen einer Ideologie der „Wettbewerbsfähigkeit – in Europa – keine zusätzlichen Stellen, wenn man den Kündigungschutz lockert, sondern drückt nur die Löhne.

Noch einmal die spezifisch deutsche Pilosophie der Wirtschaftspolitik, die Ordnungspolitik genannt wird: „Walter Euckens langer Schatten“ – Eine Sicht, die es so in anderen Ländern nicht gibt. Oder: von der „schwarzen Null“ zum „schwarzen Loch“ für die Welwirtschaft.

Das ökonomische Problem der deutschen Sicht hat der Wirtschaftsweise Peter Bofinger in dem „Samstagsessay“ in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift „Euckens langer Schatten“ noch eimal aufgedröselt (die Franzosen können einiges davon in der „Gouvernementalität“ von Michel Foucault zur deutschen Form des Liberalismus schon nachlesen: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/samstagsessay-euckens-langer-schatten-1.3049732?reduced=true externer Link).

Bofinger erklärt wie Eucken – geprägt durch den Nationalsozialismus – eine historische Konstellation theoretisch verabsolutiert. Alles folgt bei ihm aus seiner Sicht auf die „Große Depression der Jahre 1929 bis 1933“ – und so kam er zu dem Schluss, dass bei flexiblen Preisen und Löhnen die Vollbeschäftigungspolitik entbehrlich sei.

Rückblickend ist erstaunlich, dass Eucken ernsthaft glaubte, er könne allgemeine ökonomische Prinzipien aus der speziellen deutschen Erfahrng der Jahre 1933 bis 1945 ableiten.

Die schlichte Ablehnung der „Vollbeschäftigungspolitik“ ist nämlich schon zu seiner Zeit durch die Realität widerlegt worden. Das beste Bespiel ist der „New Deal“ in den Vereinigten Staaten. (vgl. zum New Deal auch Stephan Schulmeister: http://stephan.schulmeister.wifo.ac.at/fileadmin/homepage_schulmeister/files/New_Deal_Keynes_Gesellschaft_2015.pdf externer Link pdf)

Und Peter Bofinger meint noch: Wenn man Euckens Analysen mit den komplexen Theorien von Keynes, Hayek oder Schumpeter vergleicht, ist es nur schwer nachvollziehbar, warum er in Deutschland so eine anhaltende Wertschätzung genießt… Aber sein Erbe lebt jedenfalls im deutschen makroökonomischen Paradigma weiter und erfreut sich bester Gesundheit: Die Aversion gegen die „Vollbeschäftigungspolitik“ wird von Politikern wie Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in europäischen und internationalen Gremien eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht. Und Euckens negative Einstellung gegenüber den Gewerkschaften wird von deutschen Ökonomen weitergetragen, wenn sie mit „Strukturreformen“ darauf abzielen, die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften zu schwächen.

Bei allen Schwächen des „ordnungspolitischen“ Ansatzes muss man jedoch anerkennen, dass Deutschland damit in den vergangenen Jahren ganz gut gefahren ist. Aber das liegt – wieder – an der spezifischen Konstellation der deutschen Volkswirtschaft. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist Deutschland als drittgrößte Volkswirtschaft in der Gruppe der fortgeschrittenen Volkswirtschaften ein sehr großes Land. Doch gemessen an der sehr großen Offenheit seiner Volkswirtscaft, also der Relation der Exporte zum Bruttoinlandsprodukt, befindet sich Deutschland eigentlich in der Gesellschaft der sehr kleinen Volkswirtschaften. Diese Offenheit – mit den Exporten – erlaubt es der deutschen Wirtschaftspolitik die Nachfrageseite zu vernachlässigen – aber eben nur solange es wiederum genug andere Volkswirtschaften gibt, die mit ihrer Fiskalpolitik für den notwendigen Dampf in der Weltwirtschaft sorgen. Ein solches Trittbrettfahren ist für sich schon – auch politisch – fragwürdig. Aber es wird dann gefährlich, wenn, wenn deutsche Ökonomen und Politiker es auf – weitere – große Wirtschaftsräume wie den Euro-Raum oder die Vereinigten Staaten zu übertragen versuchen. Der Versuch,in der aktuellen Situation, die weltweit durch ein chronisches Nachfragedefizit gekenneichnet ist, eine globale schwarze Null zu realisieren, führt zu einen schwarzen Loch für die Weltwirtschaft. (Soweit Peter Bofinger)

Können die Proteste gegen die französische Regierung überhaupt Erfolg haben?

Die Proteste – in Frankreich – werden aber nichts bringen, denn sie richten sich an die Falschen. Die französischen Gewerkschaften glauben immer noch, dass ihr Gegner die eigene Regierung sei. Doch sie machen es sich zu einfach, wenn sie Präsident Hollande als „Verräter“ abstempeln. Hollande ist – in der Eurozone – nur noch Getriebener.

Die französischen Gewerkschaften sollten lieber gegen Osten blicken – und die Bundesrepublik attackieren. (Vgl.auch „Allein die Deutschen als Problem – und Frankreich im Widerstand“: https://www.labournet.de/?p=98015)

Die Arbeitslosigkeit in Frankreich steigt, weil die Deutschen ihre Arbeitslosigkeit exportiert haben. Das Symbolwort dazu heißt „Agenda 2010“ (worauf die deutsche SPD immer noch so stolz ist): Systematisch wurden die deutschen Reallöhne gedeckelt, um sich – durch diese in einem Währungsverbund noch verbleibende Möglichkeit der „Abwertung“ – Wettbewerbsvorteile zu erschleichen…

Durch diese Trickserei hat Deutschland jetzt einen Wettbewerbsvorteil von 20 Prozent erreicht. Hier herrscht Vollbeschäftigung, während in Frankreich 10 Prozent arbeitslos sind.  Die Lösung liegt also nicht in Frankreich, sondern in Deutschland. Hier müssten die Gehälter so lange steigen, bis die Wettbewerbslücke wieder geschlossen ist. (Soweit Ulrike Herrmann, vgl. weiter die Europa-TAZ: http://www.taz.de/!p4617/ externer Link)

Der wissenschaftliche Beirat von Attac erklärt in einem Unterstützungsaufruf zu den Protesten in Frankreich : Die Bundesrepublik Deutschland, die unter Bundeskanzler Schröder (SPD) mit der Agenda 2010 am frühesten mit solchen Reformen begonnen hat, wurde dadurch zum größten Niedriglohnstaat in Europa – was übrigens auch das politische Ziel dieser Agenda war – siehe zunächst http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/Hartz_I-IV_Einfuehrung_groesster_EU-Niedriglohnsektor.pdf externer Link pdf – und weiter noch ausführlich mit Christoph Butterwegge (http://www.nachdenkseiten.de/?p=16494 externer Link) – Das schädigt nicht nur die Beschäftigten die Arbeitslosen und vor allem die Jüngeren – auch – in Deutschland, sondern auch die Volkswirtschaften der anderen EU-Mitgliedstaaten – nicht zuletzt Frankreich. (https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2016/06/fr140616attac.pdf pdf)

Doch eine polische und ökonomische Schlüsselrolle für Deutschland – jetzt eben für ein gemeinsames Europa.

Dies erklärt, wieso es jetzt so wichtig wird, wenn der Ball der Kritik an Kanzlerin Merkels „marktkonformer Demokratie“ jetzt erst einmal von der deutschen Sozialdemokratie aufgenommen wird. (siehe „Sigmar Gabriel im Angriffsmodus“: http://www.fr-online.de/politik/gabriel-gegen-merkel-sigmar-gabriel-im-angriffsmodus,1472596,34451522.html externer Link – oder auch noch einmal den Absatz „Hat Europa jetzt noch eine Zukunft… “ auf der Seite 3 bei https://www.labournet.de/?p=100301 – insbesondere den letzten Link dort)

Stephan Hebel trifft den angemessenen Ton, wenn er dafür fordert, dass die SPD auch die notwenigen Konsequenzen daraus ziehen soll – und eine große Koalition – dieses Gift für soziale Gerechtigkeit (Friedhelm Hengsbach) – für die Wahl 2017 ausschließen soll.

Jedoch schätzt er das so ein, dass der SPD-Vorsitzende in eine rot-rot-grüne Zukunft nur durch einen Druck von unten bewegt werden kann. (Streiks können dabei ja in Deutschland keine Rolle spielen)

Dennoch ist Berlin einfach – bisher – der Ort, von dem aus unter dem Deckmantel „Wettbewerbsfähigkeit“ die Politik der nationalen Egoismen durchgesetzt wurde – und bisher war die SPD daran beteiligt. (http://www.fr-online.de/leitartikel/spd-und-eu-druck-von-unten-fuer-ein-anderes-europa,29607566,34421030.html externer Link)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=100830
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