Zum zehn-jährigen Jubiläum der Agenda 2010: Ein Ende für die Alternativlosigkeit?

Ein Ende der „Alternativlosigkeit“? Es tut sich ´was in unserem Lande – es kann doch wieder diskutiert werden (am Beispiel der Süddeutschen vom 9.März 2013). Kommentar von Volker Bahl vom 11.3.2013

Da titelt doch die Süddeutsche Zeitung „Steinmeier rühmt Schröders Agenda“ – und streitet anschließend über das „Zu-Rühmende“

Der SPD-Fraktionschef sagt: Deutschland stünde jetzt in einer Reihe mit Italien, Frankreich und Spanien, wenn der Kanzler damals so mutlos regiert hätte wie Angela Merkel heute.
(http://www.sueddeutsche.de/politik/spd-fraktionschef-zu-reformprogramm-steinmeier-ruehmt-schroeders-agenda-1.1620055 externer Link)

Ja, früher da wäre ihm dieser unverstandene „Schmarr`n“, von ihm als einem der Architekten der Agenda 2010, noch in der Öffentlichkeit fast vollständig wiederspruchslos durchgegangen. Wo ihm doch gerade Gerhard Schröder noch ins Stammbuch geschrieben hat: „Man muss die Kraft haben, Notwendiges durchsetzen zu wollen und zu können. Auch um den Preis, die Macht zu verlieren:“ (Zitat nach der FR). Aber dieses „Notwendige“ erweist sich als Überflüssig bzw. schädlich, wenn auch die Frankfurter Rundschau (= (noch) nicht im Netz) schreibt: „Die überschätzte Reform“.

Auch wenn der IW-Chef-Volkswirt Hüther urteilt: „Viele Menschen, die vorher vom Arbeitsmarkt praktisch ausgeschlossen waren, bekamen durch die Reformen einen neuen Job und die Chance am gesellschaftlichen Wohlstand teilzuhaben“, so bleibt dies ein recht hohle Versprechen, denn wie das IMK jetzt rechtzeitig zu diesem Jubiläum – am Donnerstag ist es 10 Jahre her, dass der SPD-Kanzler im Bundestag seine Agenda 2010 vorstellte – noch einmal festhielt: „Das Arbeitsvolumen hat sich seit 1994 bis 2012 kaum erhöht. Gesamtwirtschaftlich fand also eine Umverteilung der Arbeit auf eine deutlich größere Anzahl von Erwerbstätigen durch eine erzwungene Arbeitszeitverkürzung statt.“ (www.nachdenkseiten.de/?p=16451#h03 externer Link)

Mit dieser erzwungenen Arbeitszeitverkürzung wurde in der Folge „der größte Niedriglohnsektor in Europa“ geschaffen, wie es Bundeskanzler Schröder vor den Bossen auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos versprochen hatte.

Hartz-Reformen jetzt doch kontrovers

Und hier setzt auch etwas Erstaunliches ein, in der Süddeutschen von heute gibt es auf der Kommentarseite ein „Pro“ (mit dem „ewigen“ neoliberalen Marc Beise = was ich mir erspare zu zitieren, weil es als permanentes „Mantra“ von den Medien bisher ohnehin verbreitet wurde) und ein „Contra“ (mit Heribert Prantl sehr prominent bestzt)

Da diese beiden Kommentare nicht im Netz zur Verfügung stehen, möchte nur ein wenig – mit Heribert Prantl – dem Steinmeier, aber auch Alt-Kanzler Schröder, bei seinem so überbordenden Stolz auf diese Agenda 2010 Wasser in seinen Wein schütten, der diese ganze „Reform“ für die SPD dann doch recht mickrig aussehen lässt: Unter der Überschrift „Die giftige Agenda“ schreibt er:
„Im Sozialstaat..gilt, dass der, der schon belastet ist, nicht auch noch das Gros der Belastungen tragen kann. Ein Sozialstaat gibt also nicht dem, der schon hat, und er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Die Agenda 2010 hat dies missachtet; diese Missachtung heißt Hartz IV: Die Schwachen werden belastet, die Starken entlastet. Die Agenda war eine Agenda der einseitigen Zumutungen…
Die Agenda hat daher das Vertrauen in den Gerechtigkeitssinn der deutschen Politik beschädigt; sie hat das Fairness-Siegel von der deutschen Politik herunterge-rissen; sie hat der Sozialstaatlichkeit, die einen hohen Verfassungsrang hat, ihren Eigenwert genommen. Sie hat die Armut zum Mittel der Politik gemacht – „um Resourcen frei zu bekommen“, wie Kanzler Schröder sagte. Unterversorgung wurde zu einem wirtschaftspolitischen Instrument. Das ist bitter.“

Und zum Beschäftigungs“wunder“ durch Hartz IV meint er: „Es ist ein potemkinsches Wunder, denn das Gesamtvo-lumen der geleisteten Arbeitsstunden ist geschrumpft. Warum? Weil immer mehr Menschen in mickrigen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten; Minijobber werden einfach als Erwerbstätige mitgezählt. Die Agenda hat Zeitarbeit, Minijobs und Ich-AG`s gefördert, der Niedriglohnsektor ist stark gewachsen. Der Staat zahlt Aufstockung, übernimmt also die Kosten, die eigentlich durch die Löhne gedeckt werden müssten.

Und so subventioniert der Staat die Wirtschaft und schwächt die Gewerkschaften.

Die Agenda 2010 zwingt Arbeitslose in prekäre Beschäftigungsverhältnisse – bei Zuwiderhandlung Leistungskürzung. Prekäre Beschäftigung sei besser als keine Beschäftigung, lautet das Argument dafür.

Aber: die prekären Beschäftigungen greifen um sich, rufen billige Anbieter auf den Markt, die die Ware Arbeitskraft verramschen, die Solidität bisher stabiler Arbeitsstellen ist gefährdet.
Ein umfassendes System der Mindestlöhne könnte da helfen; es gibt dieses System nicht. Stattdessen gibt es ein System des Drucks auf Arbeitslose in Form von Sanktionen: Sie müssen ihre ständige Bereitschaft zur Arbeit auf zum Teil alberne Weise unter Beweis stellen, um ihr Recht auf soziale Absicherung zu erhalten.

Arbeitslosigkeit wird so in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit zu einem individuellen Versagen erklärt…

Die Energie, die die Politik verbrauchte, um das verfassungswirdrige Hartz-Gesetz zu verteidigen, hätte besser genutzt werden können.
„Hartzer“: Das ist nun der Name für die Armen in Deutschland; und „IV“: Das ist die Bezeichnung für die steile Rutsche, die in die Armut führt. Dieses Gerät hat das soziale Netz ersetzt….
Die Agenda nun als für Europa? Man soll aus Fehlern lernen; Man soll sie nicht repetieren, potenzieren, europäisieren.“ (soweit Heribert Prantl aus der SZ)

Und mit dieser Senkung der Lohnkosten zum Totengräber Europa auch noch

Und mit der allgemeinen Senkung der Lohnkosten, die durch den Niedriglohnsektor gewaltig unter Druck kamen, hat diese Reform ja auch einen Grundstein für die Ungleichgewichte in Europa und damit für die jetzt sich immer tiefer in Europa eingrabende und die Eurozone zerstörende Eurokrise gelegt. Oder um es mit den Worten einer schon sehr frühen Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung zu dem sich steigernden Problem der sich auseinanderentwickelnden Lohnstückkosten in der Eurozone (vgl. dazu zum Beispiel www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_60_2011.pdf externer Link pdf sowie www.nachdenkseiten.de/?p=12981 externer Link) – vor allem mit der Anmerkung von Wolfgang Lieb (WL) zu sagen: „Gefährlich wird jedoch eine Entwicklung, bei der die Lohnstückkosten in verschiedenen Ländern der Eurozone dauerhaft divergieren. Dies führt zu schweren sozialen und wirtschaftlichen Spannungen, die sogar die Existenz der Währungsunion in Frage stellen“

Zu diesem Horizont kann sich ein Steinmeier bei seinen Lobeshymnen auf diese für das europäische Werden so vertrackte „Agenda 2010“ auch nach 10 Jahren Krisenerfahrung im Bundestagswahlkampf 2013 nicht durchringen – und so bleibt er etwas durch diese Scheuklappen beschränkte Sichtweise auf Europa ein Politiker, der die Erosion der Euro-Zone weiter vorantreiben wird. (vgl. dazu auch den Überblick „Eurorettung und ihre Gipfel“ bei Labournet http://archiv.labournet.de/diskussion/eu/wipo/eurorettung.html und http://library.fes.de/pdf-files/id/03625.pdf externer Link pdf)

Eine Opposition zur Merkel`schen Sicht auf die Eurokrise kann dies wahrhaft nicht darstellen – die damit „alternativlos“ bleibt. Aber dann bleiben die Wähler wohl doch beim neoliberalen marktkonformen „Original“ – und somit erreicht die SPD mit Steinbrück auch erst einmal wieder einen „Tiefstwert“ in den Umfragen (www.sueddeutsche.de/politik/zdf-umfrage-steinbrueck-erreicht-tiefstwert-1.1619174 externer Link)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=29003
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