Hartz IV: Paralleljustiz im System

Beitrag von Harald Weber vom 26. Februar 2017 – wir danken dem Autor!

“Sobald in ein und derselben Person oder Gruppierung
die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden ist,
bedeutet dies das Ende der Freiheit, es besteht eine Despotie”
Zitat von Klaus Kunz aus dem Buch  „Der Totale Parteienstaat“

Vor dem Gesetz sind alle gleich?

Im Allgemeinen gilt der Grundsatz dass ein Täter/Schadensverursacher dem Opfer/Geschädigten eine Wiedergutmachung leisten muss. Der Verursacher, ganz gleich ob natürliche oder juristische Person, egal ob Privatperson oder Behörde, ist verpflichtet den durch sein Fehlverhalten verursachten Schaden wieder gutzumachen. Ob dabei Absicht oder Fahrlässigkeit vorliegt, spielt dabei nur sekundär eine Rolle. Laut Gesetz hat das Opfer/Geschädigte/r Anspruch auf Ersatz und Regulierung des Schadens, auch für die daraus resultierenden Folgeschäden. Auch gilt in unserem Land der Grundsatz dass ein/e Angeklagte/r solange unschuldig ist, bis die Schuld nachgewiesen wurde. Treffen diese Grundsätze unserer Rechtsordnung nicht mehr zu, befindet man sich im Machtbereich der SPD-Ministerin Andrea Nahles, wo diese Rechtsgrundsätze nicht mehr gelten.

In Deutschland sind seit 1945 Polizei, Justiz und Gesetzgeber getrennt. Staatsanwälte haben klar definierte und begrenzte Vollmachten gegenüber den Bürgern – wegen ihrer besonderen Pflicht als Strafverfolger. Zur Verfolgung von Straftaten im öffentlichen Interesse dürfen sie Grundrechte von Tatverdächtigen und Zeugen zeitweise einschränken. Seit August 2016 hat auch die „Bearbeitungsstelle Ordnungswidrigkeiten“ in den Jobcentern vergleichbare Sonderrechte. Das hoheitliche Recht der Ermittlung von Straftaten, Anklageerhebung, die richterliche Funktion der Vollstreckungsbehörde gegen Empfänger von Sozialleistungen, deren Angehörige und Arbeitgeber wurde von der SPD-Ministerin in einem Paralleljustizsystem in die Hände von ein und denselben Verantwortlichen gegeben.

Ein eindeutiger Bruch mit dem Rechtsstaat: Die „Bearbeitungsstelle Ordnungswidrigkeiten“ ermittelt in eigenem Interesse. Dass die Mitarbeiter einem erheblichen Druck ausgesetzt sind zu sanktionieren um Gelder einzusparen, ist längt ein offenes Geheimnis. Dementsprechend dürfte jedem klar sein, worum es geht. Es handelt sich hier nicht um eine offizielle Strafverfolgungsbehörde, die laut Verfassung diese Rechte hat, sondern um eine Abteilung der Jobcenter, um einzelne Mitarbeiter. Die Mitarbeiter dieser Paralleljustiz besitzen weitgehend dieselben Rechte und Pflichten wie die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten, urteilen und legen das Strafmaß, Bußgelder unabhängig von der ansonsten geltenden Rechtsprechung fest.

Selbstverständlich kann ein Opfer dieser Sonderrechtszone auch einen Anwalt hinzuziehen um sich zur Wehr zu setzten. Aber wie zum Hohn der Betroffenen entscheidet die gleiche Instanz darüber, ob einem Leistungsempfänger die Kosten für einen Anwalt, welcher sich ein Empfänger von Sozialleistungen aus eigener Tasche nicht leisten kann, genehmigt werden. Wer nun glaubt, dieses Paralleljustizsystem macht vor den Türen der Jobcenter halt, irrt sich. Seit August 2016 besitzt diese Sonderermittlungsabteilung auch das Recht Angehörige, Freunde und Bekannte, sowie potentielle Arbeitgeber mit einzubeziehen und gegen sie Strafen zu verhängen. Die aus moralischer, ethnischer und auch aus Sicht des Grundgesetzes, das unserer Gesellschaft ihre Ordnung geben und als oberstes Gebot die Menschenwürde und die Gleichstellung aller Menschen in unserem Lande vor Gesetz und Justiz garantieren soll, verwerfliche Politik der SPD-Ministerin Nahles, hat in ihrem Zuständigkeitsbereich ihre Funktion und Macht dazu genutzt ein Parallelsystem zu erschaffen, in dem der einzelne Mitarbeiter die Funktion des Ermittlers, des Staatsanwaltes und des Richters in sich vereinen kann.

Strafe vor Feststellung der Schuld!

„Keine aufschiebende Wirkung haben Widerspruch und Anfechtungsklagen gegen einen Verwaltungsakt der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft, entzieht…“ § 39 SGB II (Sofortige Vollziehbarkeit)

Die gesetzliche Regelung in § 39 SGB II bedeutet, dass der “Angeklagt”, noch bevor seine Schuld festgestellt wurde, sich in der Vollzugsmaßnahme des vom Jobcenter festgelegten Strafmaßes befindet. Eine richterliche Entscheidung, die durch den „Angeklagten“ angestrebt wird, wird nicht abgewartet. Es sind nicht wenige Fälle bekannt, in denen sich selbst nach einem Entschluss des zuständigen Gerichts zugunsten des zu Unrecht Sanktionierten, Jobcenter weigern die Sanktion aufzuheben und den damit bestehenden Leistungsanspruch zu erfüllen. In einem Fall führte dies sogar dazu, dass ein vom Gericht beauftragter Gerichtsvollzieher gegen das Jobcenter vorgehen musste und dort zur Pfändung vorstellig wurde. Falsch berechnete Leistungen, falsche Bescheide, fehlerhafte Sanktionsverfahren, verschleppte Gerichtsverfahren durch Mitarbeiter, verschlampte Unterlagen, all dies in erheblichen Ausmaß gepaart mit Überheblichkeit und Arroganz gegenüber der „Kundschaft“ – auch gegenüber Richtern und Gerichten -, lassen ahnen, welche Mentalität in den Jobcentern vorherrscht. Dass dies in den vergangen Jahren zu einer sehr großen Anzahl von Verfahren vor Sozialgerichten führte, dürfte wohl kaum jemanden verwundern. Und auch die hohe Zahl der Urteile gegen die Jobcenter ist keine Überraschung.

Gesetzesänderung, aber keine Verbesserung

Was tun dachte sich wohl die zuständige Arbeits-und Sozialministerin? Ordnung schaffen in den eigenen Reihen? Mitarbeiter dazu anhalten künftig ihre Arbeit ordentlich auszuführen, damit auch die durch eine anhaltende Klageflut überforderten Sozialgerichte entlasten (von den Kosten die dadurch entstehen ganz zu schweigen)? Mitnichten! Man reagierte zwar, allerdings nicht um Missstände und Unrecht abzubauen. Um sich der zu erwartenden Unterstützung der Parteien, die alles daran setzen um den Sozialstaat zu eliminieren, zu versichern, werden lästige Gesetze umgangen, ausgehebelt oder einfach umgeschrieben. Die SPD-Ministerin machte durch die 9. Reform des Zweiten Sozialgesetzbuchs wieder einmal deutlich, dass sie weit davon entfernt ist, ihre Sonderrechtszone zugunsten der Grundrechte im Grundgesetz und einer Verfassungskonformität zu regulieren. Die Arbeits-und Sozialministerin ließ sich quasi zum 01.08.2016 zur obersten sozialrichterlichen Instanz ernennen und setzte dem Rechtstaat eine Narrenkappe auf.

So regelt nun § 40 Abs.3 SGB II (Anwendung von Verfahrensvorschriften), dass bei der „Rücknahme eines rechtwidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes“, weil er „durch eine Entscheidung des BVerfG für nichtig oder für unvereinbar mit den Grundgesetzen erklärt worden ist“, oder weil die ständige Rechtsprechung die Rechtslage anders auslegt, als der „für die jeweilige Leistungsart zuständige Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende“, der „Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur mit Wirkung für die Zeit nach [!] der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder ab [!] dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen“ ist.

Was bedeutet dies für die Betroffenen?

Je länger ein Verfahren dauert, umso mehr wird ihnen durch den gesetzlichen Hintereingang von § 40 Abs.3 SGB II Geld entzogen. Dadurch, dass der Anspruch auch bei einem gewonnenen Prozess für den Zeitraum ab Klagebeginn bis zum Beschluss nicht anerkannt wird – auch nicht durch richterliche Bestätigung des Rechtsanspruches -, bleibt der/die Betroffene auf den Kosten des dann als rechtswidrig erkannten Verwaltungsakts sitzen. Eventuell durch die zu Unrecht ausgesprochene Sanktion entstandenen Mietschulden und so weiter, belasten dann das Opfer dieser Sonderrechtszone. Kommt es bei dieser Rechtsaufassung zu einer Vollsanktion, bedeutet dies praktisch die Vernichtung der Existenz des Opfers durch dieses perfide Rechtsverständnis.

Die ständige Rechtsprechung definiert das, was zu einer bestimmten Rechtsfrage die Gerichte einheitlich vertreten, was praktisch letztlich auf eine Entscheidung des BSG oder des BVerfG hinausläuft. Um eine solche im Einzelfall zu erreichen, muss man sich deshalb mühselig und mit den bereits genannten existenziellen Nachteilen durch die Instanzen kämpfen. Die Möglichkeit der Jobcenter je nach Kommune und Land (manche autonom oder mit der Kommune zusammen) unterschiedlich zu entscheiden oder zu agieren, dürfte es den Betroffenen schwer machen, eine solche ständige Rechtsprechung für ihren Fall zu präsentieren. Der Phantasie und Willkür sind so Tür und Tor weit geöffnet.

Auch Anwälte können ein Klagelied darüber anstimmen, was der Kampf gegen dieses grundgesetzfeindliche System im System bedeutet. Und viele werden gleich abwinken, wenn ein sogenannter Hartzler auf der Matte steht. So einige Anwälte bekamen auch bei erfolgreichen Prozessen ihr Honorar nicht oder erst nach nochmaliger Klage zu sehen. Aber immerhin kann das Opfer beim Täter Sozialleistungen in Kreditform beantragen, um den Schaden, der durch den RECHTSWIDRIGEN Verwaltungsakt entstanden ist, zu begrenzen. Allerdings sind die Mittel, die das Opfer als Kredit bewilligt bekommen kann, in einer so niedrigen Höhe angesiedelt, dass sie nichts weiter als ein Tropfen auf dem heißen Stein sind.

Dass Bundestag und Bundesrat dieser Aushebelung unseres Rechtssystems zustimmten, macht einmal mehr deutlich, wozu sie bereit sind, wenn es darum geht wirtschaftliche Interessen über Bürgerrechte zu stellen. Auch Länder, Städte und Kommunen wurden immer über entsprechende Landesarbeitsgruppen und dem Städtetag bei der Entscheidungsfindung miteinbezogen. Dass diese Machenschaften alleine auf Bundesebene stattfinden, ausschließlich der Bund damit befasst wäre, so die Standartausrede der Kommunalpolitik, ist wohl in der Glaubwürdigkeit schon eher im Reich der Gebrüder Grimm anzusiedeln.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=112447
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