BGH urteilt: Sozialleistungsträger müssen über (Renten)Ansprüche aufklären

Logo des Bündnisses Rente zum LebenEin Behinderter wurde vom Sozialamt jahrelang nicht darüber aufgeklärt, dass er vermutlich Rentenansprüche hat. Nun hat das BGH ihm Schadenersatz zugesprochen. Mitarbeiter der Sozialträger müssen auch über den Tellerrand schauen und auf mögliche Ansprüche gegenüber anderen Trägern hinweisen. Unterbleibt dies, können Betroffene Anspruch auf Schadenersatz haben, wie am Donnerstag der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe entschied. Danach muss das Sozialamt des Landkreises Meißen einem Behinderten vermutlich mehrere zehntausend Euro bezahlen. Der heute 34-jährige Kläger hatte eine Förderschule für geistig Behinderte besucht und anschließend an berufsbildenden Maßnahmen in einer Werkstatt für behinderte Menschen teilgenommen. Anschließend war er nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt deckende Einkünfte zu erzielen. (…) Der BGH gab der Klage nun im Grundsatz statt. „Im Sozialrecht bestehen für die Sozialleistungsträger besondere Beratungs- und Betreuungspflichten“, betonten die Karlsruher Richter. Wegen des Ineinandergreifens verschiedener Träger sei das Sozialsystem besonders kompliziert und werde immer komplizierter. Eine gute Beratung sei daher Grundlage dafür, dass das System überhaupt funktioniere…“ Meldung vom 2. August 2018 bei Tagesspiegel online externer Link zum Urteil vom 2. August 2018 – III ZR 466/16 externer Link, siehe dazu die Bewertung:

  • BGH: Sozialleistungsträger müssen umfassend über alle in Frage kommenden Leistungsansprüche beraten – wenn nicht droht Amtshaftung
    Der BGH hat in einem wirklich bedeutsamen Urteil deutlich auf die Beratungspflicht von Sozialleistungsträgern hingewiesen.  Der Kläger, ein Mann, der mit seiner Behinderung eigentlich eine Erwerbsminderungsrente hätte bekommen müssen. Die Rente hatte er wegen lückenhafter Beratung beim Sozialamt aber nicht beantragt. Stattdessen beantragte er nur die deutlich niedrigere Grundsicherung. Seit dem Jahre 2004 seien ihm dadurch mehr als 50.000 € entgangen. Der Bundesgerichtshof spracht dem Kläger nun gemäß § 839 BGB i.V.m. Art 34 GG (Amtshaftungsanspruch) Schadensersatz zu. Als Begründung führte der BGH aus: https://tinyurl.com/y9cu5a9w externer Link
    Dieses Urteil ist meiner Meinung nach für ziemlich bedeutsam, weil es klar und eindeutig ist und vom obersten Gericht getroffen wurde. Ich weise darauf hin, dass im SGB II sogar noch eine verschärfte Beratungspflicht besteht, da dort seit 1.8.2016 ein erweitertet Beratungsanspruch in § 14 Abs. 2 SGB II normiert wurde, der sich zudem am Empfängerhorizont zu orientieren hat (§ 14 Abs. 2 Satz 3 SGB II). Der Gesetzgeber macht die (Spontan)Beratung zur SGB II – Leistung (§ 1 Abs. 3 Nr. 1 SGB II) und bringt damit zum Ausdruck, dass SGB II-Bezieher*innen noch mehr und erweitert zur SGB I-Beratung von den Jobcentern zu beraten sind. Die Konsequenz hat der BGH in seinem Urteil aufgezeigt, wenn verursacht durch unterlassenes Behördenhandeln dem Leistungsbezieher*in wirtschaftliche Schäden entstanden sind, hat die Behörde zu haften. Daher ein in der Klarheit ein absolut zu begrüßendes Urteil.“ Harald Thomé im Newsletter 29/2018 vom 04.08.2018 externer Link
  • Bemerkung von Norbert Hermann (Bochum Prekär):
    Nach § 13 u. 14 SGB I sind alle Sozialleistungsträger verpflichtet, alle Leistungsberechtigten über Rechte und Pflichten nach dem SGB aufzuklären und zu beraten. Und zwar „aktiv“ – nicht erst auf Anfrage („Spontanbera­tung“). Die Betreuungspflichten nach den §§ 16 Abs. 3 u. 17 Abs. 1 SGB I (Hilfe bei der Antragstellung und zügige Leistungszuteilung) sollen eine möglichst weitgehende Rechtsverwirklichung gewährleisten. Bei Vermutung bestimmter Umstände muss die Behörde von Amts wegen den Sachverhalt ermitteln (§ 20 SGB X) und darf in solchen Fällen nicht warten, bis Anträge gestellt sind. Es ist zu beachten, dass Antragstellende mit dem Hauptantrag und bei jeder Vorsprache/Mitteilung alle möglicherweise zustehenden Ansprüche geltend machen wollen.
    Ist die Beratung unzureichend, so kann dadurch später ein „sozialrechtlicher Herstellungsanspruch“ entstehen: die Leistungsberechtigten sind so zu stellen, als wären sie hinreichend beraten worden und hätten den daraus resultierenden Antrag gestellt. Das steht in keinem Gesetz, sondern ist ständige Rechtsprechung des BSG (B 8/9b SO 18/07 R v. 26.08.2008). Soziale Rechte sollen möglichst weitgehend verwirklicht werden (§ 2 Abs. 2 SGB I). Das wird in der untenstehenden Pressemitteilung ausführlich dargelegt.
    Es gilt auch das Meistbegünstigungsprinzip (oder die „Meistbegünstigungsklausel“); durch Übernahme dieses Prinzips aus dem Zivilrecht für das Sozialrecht (durch Rechtsprechung) ist zu beachten, dass Antragstellende mit einem Antrag alle möglicherweise zustehenden Ansprüche geltend machen wollen: Bei einer umfassenden und verständigen Würdigung der Interessen Hilfesuchender über den Wortlaut eines Antrages hinaus sollen Anträge zusätzlich als Antrag auf weitere Leistungen interpretiert werden.
    Die aktuelle Sache ist – für manche wohl überraschend – vor einem Zivilgerichtshof und nicht vor dem Bundessozialgericht verhandelt worden. Ich denke aber, auch für Letzteres hätte es Möglichkeiten geben können. Hier ist aber geklagt worden auf Verletzung von Amtspflichten nach dem Staatshaftungsrecht (§ 839 BGB – Haftung bei Amtspflichtverletzung). Das hat allerdings den Nachteil dass als erste Instanz bereits das Landgericht zuständig ist mit einem hohen Kostenrisiko. Die Mehrzahl aller Amtshaftungsklagen geht den Klagenden ganz (70 %) oder teilweise (20 %) verloren. Unser Jubel sollte also verhaltener ausfallen

    • Urteil: Ämter müssen im „Sozialleistungs-Dschungel“ helfen
      Das Sozialrecht in Deutschland ist für Laien oft nicht einfach zu durchschauen. Wer weiß schon genau, ob ihr oder ihm eine Grundsicherung wegen Erwerbsminderung oder doch eher eine Erwerbsminderungsrente zusteht? Der Bundesgerichtshof (BGH) hat jetzt in einem Urteil klar gemacht: In bestimmten Fällen müssen Sozialhilfeträger die Bürgerinnen und Bürger besser beraten – und zwar ungefragt…“ Beitrag vom 03.08.2018 beim DGB externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=135630
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