Die Ausputzer. Das neue Mildtätigenwesen: »Bürgersinn« und »Ehrenamt« sollen den Sozialstaat ersetzen

Artikel von Claudia Pinl in junge Welt vom 07.11.2013 externer Link

Aus dem Text: „… Die ständige Einforderung von »bürgerschaftlichem Engagement«, sprich: Ehrenamt und Gratisarbeit, ist Teil der neoliberalen Transformation der Gesellschaft. Denn nach dem Ende des bisherigen Sozialstaats gibt es viel zu tun: Armenspeisungen, wie man sie in Deutschland zuletzt 1929 kannte, Sponsoring von Kultur und Bildung durch Milliardäre und Stiftungen, wie es die Rockefellers schon lange machen, Betreuung durch »Grüne Damen« und Lesementoren, Arbeit in Kleiderkammern und für Kindermittagstische in sozialen Brennpunkten. (…) Im Bereich Pflege und Gesundheit ist das Personal seit Jahren überlastet, so daß für Zuwendung, Zuhören, Gespräche mit Alten oder Kranken keine Zeit bleibt. Für das Zwischenmenschliche sind nun die Ehrenamtlichen zuständig.
Den Nachholbedarf Deutschlands in der Bildungspolitik – frühkindliche Bildung, Lese- und Rechenkompetenz, Ganztagsschule – versucht man ebenfalls mit engagierten Freiwilligen zu decken, etwa bei der Übermittagbetreuung in Grundschulen oder als »Assistenz« für überlastete Erzieherinnen… Die Ausbeutung dieser Ressource beschäftigt eine ganze Industrie: Kommunikationsagenturen und Projektbüros, Freiwilligenbörsen und Initiativen, Organisationsberatungen und Weiterbildungseinrichtungen, Koordinierungsstellen und Stiftungen, Internetportale und Forschungseinrichtungen, Fundraisingagenturen und Verbände, last but not least: Landes- und Bundesministerien, Stadt- und Kreisverwaltungen, die die Goodwill-Industrie mit Zuschüssen befeuern. (…) Als normal empfinden wir inzwischen auch, daß so manche vor 20 Jahren noch selbstverständliche öffentliche Dienstleistungen angeblich nicht mehr bezahlbar sind. Hier müßten wir nun alle selber tätig werden, wird uns eingeredet. (…) Dagegen würden persönliche freiwillige Dienstleistungen angeblich »soziales Kapital« schaffen, besäßen gar eine ganz besondere menschliche Qualität, die so von Professionellen nicht erbracht werden könne – ein Schlag ins Gesicht für Krankenschwestern und Altenpfleger, für Erzieherinnen und Sozialpädagogen, die ja auch ihre Berufe gewählt haben, um Menschen zu helfen. Aber sie besitzen die Unverfrorenheit, dafür Gehälter zu erwarten. (…) Engagierte sind als Ausputzer für die üblen Folgen gesellschaftspolitischer Fehlentwicklungen gefragt, nicht dagegen Engagierte, die politische Zustände ändern wollen, in denen Menschen auf Almosen angewiesen sind. (…) Viele profitieren von diesem zersplitterten, völlig intransparenten Arbeitsmarkt, die traditionellen Träger von Einrichtungen ebenso wie die neuen privaten Betreiber von Krankenhäusern wie Fresenius, Asklepios mit der Helios-Kliniken-Gruppe oder Rhön-Klinikum. Viele, nur nicht die dort Beschäftigten. Das ist die Kehrseite der Philosophie der Nächstenliebe
…“

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