Die Berufsunfähigkeitsrente der gesetzlichen Rentenversicherung ist weg – das ist Verfassungsbruch!

Dossier

DGB startet Rentenkampagne: Rente muss für Würde reichen!„Von den Nichtbetroffenen kaum bemerkt, ist im Rahmen der damaligen rot-grünen sozialen Kahlschlagpolitik schon seit 16 Jahren die Berufsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung verschwunden und das, obwohl jeder Vierte im Laufe seines Arbeitslebens berufsunfähig wird. Die Berufsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wurde zum 31.12.2000 abgeschafft und durch die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (Erwerbsminderungsrente) ersetzt. Laut Verbraucherzentrale NRW konnten im vergangen Jahr 40 Prozent aller Ratsuchenden keine vernünftige Berufsunfähigkeitsversicherung auf dem Versicherungsmarkt finden. (…) Versicherungswissenschaftler behaupten, dass die damalige Regierung beim Zerfleddern der gesetzlichen Rente Verfassungsbruch begangen hat, denn das Sozialstaatsprinzip, das in Artikel 20 des Grundgesetzes verankert ist, wurde verletzt. Außerdem hat der Staat als Rechtstaat auch seine – ebenfalls aus Artikel 20 resultierende – Gewährleistungsverantwortung verletzt. (…) Eine Grundabsicherung für den Fall der Berufsunfähigkeit muss unbedingt wieder Teil der gesetzlichen Renten- respektive Krankenversicherung werden…“ Beitrag vom 9. November 2016 beim Gewerkschaftsforum Dortmund externer Link, siehe dazu:

  • Sozialverbände scheitern (auch) vor dem Bundesverfassungsgericht mit einer Klage gegen eine Stichtagsregelung zuungunsten der vielen „alten“ Erwerbsminderungsrentner New
    „Wir reden beim Thema Erwerbsminderungsrenten nicht von einer kleinen Gruppe oder gar Einzelfällen. Beispiel 2021: In diesem Jahr wurden 848.000 Altersrenten neu bewilligt, hinzu kamen 166.000 Erwerbsminderungsrenten, die neu bewilligt und ausgezahlt wurden. (…) Und immer wieder wurde in den vergangenen Jahren angemahnt, die finanzielle Situation der Erwerbsminderungsrentner zu verbessern – was die Politik durchaus in mehreren Schritten auch gemacht hat, also zumindest für einen Teil dieser Rentner, im Regelfall für die nach der gesetzlichen Neuregelung dann neu hinzukommenden Erwerbsminderungsrenten. Bis vor kurzem sind die vielen, die sich bereits im Bezug einer solchen Rente befanden, von den Verbesserungen auf der Leistungsseite ausgeschlossen worden. (…) Gegen die angesprochene Ungleich- und Schlechterbehandlung haben sich betroffene „Bestandsrenter“ vor Gericht gewehrt und sind dabei von den beiden Sozialverbänden VdK und SoVD gemeinsam unterstützt worden. In einem Revisionsverfahren beim Bundessozialgericht (BSG) aufgrund der die Klagen zurückgewiesenen Urteile der sozialgerichtlichen Vorinstanzen. (…) Und was hat das höchste deutsche Sozialgericht entschieden? »Rentner, deren Erwerbsminderungsrente bereits vor dem 1. Januar 2019 begann, haben keinen Anspruch auf eine Neuberechnung ihrer Rente nach den inzwischen geltenden, deutlich günstigeren Regelungen. Sie können nicht verlangen, dass bei ihrer Rente Zurechnungszeiten in demselben Umfang berücksichtigt werden, wie das bei den ab 2018 und vor allem bei den ab 2019 neu bewilligten Renten geschieht. Das hat der 5. Senat des Bundessozialgerichts am 10. November 2022 entschieden.« So das BSG am 10. November 2022 unter der nun wirklich unmissverständlichen Überschrift Keine höhere Erwerbsminderungsrente für Bestandsrentner. (…) Die beiden Sozialverbände VdK und SoVD haben sofort nach dem Urteil des BSG verkündet, dass sie das dennoch dem Bundesverfassungsgericht vorlegen und klären lassen wollen, ob die derzeitige Gesetzgebung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes verstößt. Das haben sie auch gemacht. (…) Mit Bezug auf den Beschluss vom 12. Juni 2023 – 1 BvR 847/23 hat die 3. Kammer des Bundesverfassungsgerichts nun mitgeteilt: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.“ (…) Offensichtlich erkennt das BVerfG in der vom VdK und dem SoVD gemeinsam betriebenen Verfassungsbeschwerde keine „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung“. (…) Damit bleibt es dabei: Die Ungleichbehandlung der Bestandsrentner in der Erwerbsminderungsrente kann fortgeführt werden. Eine teilweise Abmilderung der damit verbundenen finanziellen Schlechterstellung der Alt- gegenüber den Neufällen wird durch die pauschalen prozentualen Zuschläge, die ab Juli 2024 ausgezahlt werden und mit denen die Politik auf die jahrelange Kritik an der Nicht-Berücksichtigung der Bestandsfälle reagiert hat, erreicht. Nicht mehr, nicht weniger.“ Beitrag von Stefan Sell vom 3. August 2023 auf seiner Homepage externer Link

    • Lesenswert dazu auch die BVerfG-Beschluss vom 12. Juni 2023 – 1 BvR 847/23 externer Link , der auch zu einer weiteren Kritik Anlass geben kann und sollte. Denn bezüglich des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsgebotes überzeugt der Beschluss nicht unbedingt. Denn es stellt sich die Frage, ob nach Art. 1 GG dem Gesetzgeber überhaupt ein Gestaltungsspielraum bei der Gestaltung der Menschenwürde zusteht. Dies besonders mit Blick auf die Behindertenrechtekonvention, die gerade die Gleichstellung auch für Menschen mit Behinderung beim Rentenbezug verlangt.
  • Arbeit als Krankmacher: Anträge auf Erwerbsminderungsrente scheitern zu über 40 Prozent. Sozialverbände fordern »faire Begutachtung« und finanzielle Nachbesserungen 
    „Die Anforderungen im Berufsleben nehmen angesichts immer neuer Rationalisierungsrunden ständig zu. Mit den Belastungen steigen auch die Fälle von Arbeitsunfähigkeit, insbesondere als Folge stressbedingter Erkrankungen wie Burnout und anderer psychischer Leiden. Aber längst nicht jeder, der deshalb aus seinem Job ausscheiden und sich vorzeitig aufs Altenteil setzen will, bekommt dies auch bewilligt. Sabine Zimmermann von der Fraktion Die Linke im Bundestag hat bei der Bundesregierung die Daten für 2019 und 2020 abgefragt: Demnach gab es im Vorjahr bei lediglich 58 Prozent der Anträge auf eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) grünes Licht. Fast jeder Zweite scheiterte mit seinem Anliegen. Für die Linke-Politikerin läuft hier etwas gehörig schief. Während nämlich die Zumutungen in der privaten Wirtschaft wie auch im öffentlichen Dienst in den vergangenen beiden Jahrzehnten immer größer geworden sind, blieb der Anteil der Ablehnungen von EMR-Anträgen im selben Zeitraum ziemlich konstant. Nach den Zahlen der Regierung sank der Wert niemals unter 42 Prozent, bisweilen lag er gar bei 45 Prozent. Und ausgerechnet im ersten Pandemiejahr 2020 gab es mit 154.000 verweigerten Neuanträgen 11.000 mehr als im Jahr davor. (…) »Arbeit scheint immer mehr Menschen krank zu machen«, äußerte sich am Montag der Präsident des Sozialverbands Deutschland (SoVD), Adolf Bauer, in einer Medienmitteilung. Dabei verwies er darauf, dass EMR-Empfänger immer auch Gefahr liefen, in Altersarmut abzurutschen. Tatsächlich gab es in der Vergangenheit zwar diverse Verbesserungen bei den EM-Renten. Zum Beispiel werden Neurentner seit 2019 bei der Leistungsberechnung so behandelt, als wenn sie bis zum aktuellen Rentenalter gearbeitet hätten. Frühere Anträge bleiben davon aber unberührt, wodurch die Betroffenen dauerhaft mit niedrigeren Bezügen abgespeist werden. Wegen dieser sozialen Unwucht ist eine Musterklage vor dem Bundessozialgericht (BSG) anhängig, an der sich auch der SoVD beteiligt. Das Gericht könne einen Fehler korrigieren und »für Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung sorgen«, erklärte Bauer. So oder so reicht eine EM-Rente in den seltensten Fällen zu einem Leben in Würde. Die durchschnittlichen Zahlbeträge lagen 2020 nach Regierungsangaben bei 882 Euro. 524 Euro wurden bei teilweiser und 936 Euro bei voller Erwerbsminderung fällig. Wenngleich das Niveau sukzessive angehoben wurde, lägen die Zuwendungen »unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1.074 Euro im Jahr 2019 für einen Einpersonenhaushalt, und das ist ein echter Skandal«, monierte Zimmermann von Die Linke. (…) Kritik an der hohen Zahl abgelehnter EMR-Anträge übte am Montag auch die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele. Es brauche dringend eine »faire Begutachtung von Menschen«, wegen ihrer Erkrankung wären viele oft nicht in der Lage, gegen die Entscheidung der Rentenkasse Widerspruch einzulegen oder gar zu klagen. »Ihnen fehlt einfach die Kraft.«“ Artikel von Ralf Wurzbacher in der jungen Welt vom 7. Juli 2021 externer Link
  • Das Solidarprinzip wird Stück für Stück ausgehöhlt. Riskovereinzelung und Entsolidarisierung am Beispiel der Berufsunfähigkeitsversicherung 
    „… Die Politik hat die Berufsunfähigkeitsversicherung für den offenen Versicherungsmarkt freigegeben. Und was ist passiert? Wenn die was tun, dann machen sie Rosinenpickerei. Sie suchen sich die Risiken aus, die kaum ein Risiko darstellen, berufsunfähig zu werden. Schon damals wurde auf das Berufsgruppen-Bingo“ hingewiesen: »Früher gab es nahezu nur eine Differenzierung der Berufe in der Berufsunfähigkeitsversicherung: Überwiegend körperlich tätig, oder nicht. Die Zeiten sind vorbei. Immer mehr Differenzierung, immer mehr Berufsgruppen, immer unterschiedlichere Beiträge. In der Folge wird die Absicherung für vermeintlich gefahrlose akademische Berufe immer günstiger, während sie insbesondere für handwerkliche und soziale Berufe teurer wird. Natürlich alles statistisch total fundiert abgesichert«, so der BU-Experte Matthias Hellberg dazu. Und genau an dieser Stelle können wir einen aktuellen Fall aufrufen. Konkret geht es um ein besonderes Angebot des Versicherungsunternehmens Generali. (…) Offensichtlich wurde gegen diesen Tarif geklagt bzw. genauer: gegen die Verknüpfung einer Berufsunfähigkeitsversicherung mit dem Fitness-Tarif und es gab eine Entscheidung des Landgerichts München. Die Generali-Klauseln beim Fitness-Programm „Vitality“ sind intransparent, urteilte das Landgericht München I (AZ: 12 O 8721/20, Urteil vom 28.01.2021). (…) Die klagenden Verbraucherschützer ziehen die folgende Schlussfolgerung aus dem Urteil: »Nun müsse der Versicherer darauf verzichten, Prämien bei sich unterschiedlich gesundheitsbewusst verhaltenden Versicherten in der geplanten Form zu differenzieren … Die Verbraucherschützer hätten damit verhindert, dass die Risikokollektive in der Berufsunfähigkeitsversicherung weiter verbraucherschädlich verkleinert werden.« (…) Der Bund der Versicherten (BdV) sieht in dem noch nicht rechtskräftigen Urteil des Münchener Landgerichts eine Signalwirkung für die ganze Branche: Die solle darauf verzichten, Risikokollektive in der Berufsunfähigkeitsversicherung verbraucherschädlich zu verkleinern. Denn das Problem der Risikoverkleinerung lässt sich generell am gesamtem Markt für Berufsunfähigkeitsversicherungen feststellen. „Die Berufsgruppen-Differenzierung schreitet immer weiter voran. Für viele Berufe ist es finanziell gar nicht mehr zu stemmen, sich privat gegen das Risiko der Berufsunfähigkeit abzusichern. Die Versicherer versuchen durch die immer weitergehende Risikoaufspreizung die für sie schlechten Risiken möglichst aus ihrem Bestand zu halten“, so wird Julia Alice Böhne vom Bund der Versicherten zitiert. (…) Und der Versicherungsexperte Herbert Fromme hat schon vor Jahren Warnung an die private Versicherungswirtschaft geschickt: »Vor allem Handwerker können sich Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit kaum noch leisten. Das darf so nicht bleiben. Wenn die Branche nicht handelt, wird es der Staat tun.« (…) Nun schreiben wir das Jahr 2021, die bereits seit langem kritisierte Entwicklung einer fortschreitenden Entsolidarisierung der BU-Absicherung, ihre sukzessive sozialpolitische Entleerung in den Händen der privaten Versicherungswirtschaft geht weiter voran, aber das von Fromme und anderen schon vor Jahren angenommene Einschreiten des Staates lässt ebenso auf sich warten wie eine fundamentale Reform innerhalb des privaten Versicherungsmodells…“ Beitrag von Stefan Sell vom 19. Februar 2021 auf seiner Homepage externer Link
  • Die Berufsunfähigkeitsrente der gesetzlichen Rentenversicherung ist seit 20 Jahren weg – das Dilemma mit der Erwerbsminderungsrente wird immer größer 
    „Von den Nichtbetroffenen kaum bemerkt, ist im Rahmen der damaligen rot-grünen sozialen Kahlschlagpolitik schon seit 20 Jahren die Berufsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung verschwunden und das, obwohl jeder vierte Beschäftigte im Laufe seines Arbeitslebens berufsunfähig wird. Die Berufsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wurde zum 31.12.2000 abgeschafft und durch die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (Erwerbsminderungsrente) ersetzt. Laut Verbraucherzentrale NRW konnten im vergangenen Jahr 40 Prozent aller Ratsuchenden keine vernünftige Berufsunfähigkeitsversicherung auf dem Versicherungsmarkt finden. Betroffen sind nicht die Menschen in Risikoberufen, sondern es geht hier um die einfache Krankenschwester oder den Mechatroniker. Versicherungswissenschaftler behaupten, dass die damalige Regierung beim Zerfleddern der gesetzlichen Rente Verfassungsbruch begangen hat, denn das Sozialstaatsprinzip, das in Artikel 20 des Grundgesetzes verankert ist, wurde verletzt. Außerdem hat der Staat als Rechtsstaat auch seine – ebenfalls aus Artikel 20 resultierende – Gewährleistungsverantwortung verletzt. In einem Sozialstaat, so wie er bei uns auch noch genannt wird, gilt der Grundsatz, dass der Staat für eine hinreichende Grundversorgung im Bereich der Kranken-, Renten-, Berufsunfall- und Pflegeversicherung zu sorgen hat. Ein Teil der gesetzlichen Rentenversicherung war, das Risiko berufsunfähig zu werden, abzusichern. Die Berufsunfähigkeit ist genau genommen eine lang anhaltende, dauerhafte Erkrankung eines Menschen, durch die er seinen Beruf nicht oder zu einem erheblichen Teil nicht ausüben kann. (…) Der Staat ist zwar nicht verpflichtet, eine Vollversorgung vorzuhalten, aber eine Grundversorgung muss er bereitstellen. Diese Grundversorgung ist aber bei den privaten Berufsunfähigkeitsversicherern nicht gegeben. (…) Letztendlich ist die private Berufsunfähigkeitsversicherung nur ein Geschenk an die Versicherungswirtschaft, bei der sie aussuchen kann, wen sie versichert und wen nicht. Das Modell der privaten Absicherung ist auch hier gescheitert. (…) Trotz des deutlichen Anstiegs der Zahlbeträge während der vergangenen 10 Jahre befindet sich die Erwerbsminderungsrente seit der Jahrtausendwende im ständigen Sinkflug. (…) Die Gewerkschaften sollten sich dafür einsetzen, dass jeder Schritt, der dazu führt, dass letztlich das Sozialstaatsprinzip und die daraus resultierende Gewährleistungsverantwortung des Staates im Bereich der Renten-, Kranken-, Berufsunfall- und Pflegeversicherung ausgehöhlt wird, mit Verfassungsbeschwerde angegriffen wird. Auch sollte der Druck auf die Abgeordneten und Organe des Bundestages erhöht werden, sie hätten nämlich die Möglichkeit, eine abstrakte Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht zu erheben.“ Beitrag vom 29. Januar 2021 vom und beim gewerkschaftsforum.de externer Link – guter und wichtiger Beitrag, mit nur einem kleinen Fehler: Das mit dem BVerfG wird überbewertet. Denn auch bei Gesetzen sind abstrakte Normenkontrollen fristgebunden. Es müsste daher nun eher um massiven Druck auf den Gesetzgeber zur Rücknahme der Änderung von 2000 gehen
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=107319
nach oben