Mindestlohn: Was bin ich – und wenn ja wie viele

Eine sozio-politische Zeitreise durch die deutsche Mindestlohn-Geschichte von Laurent Joachim

Ferdinand Hodler - Arbeitslos - 1891Nach ganzen zehn Jahren des fruchtlosen politischen Schlagabtauschs wurde auf die Not der Bürger doch reagiert. Es ist soweit, ein ideologischer Damm ist eingerissen worden: der allgemeine, bundesweite, branchenübergreifende, gesetzliche Mindestlohn kommt.
Dennoch, viele „Vollzeitler“ werden nach der Einführung des Mindestlohns in den nächsten Jahren weiterhin nicht von ihrer Arbeit leben können. Die, die es schaffen, kommen über das Hartz-IV-(Armuts-)Niveau, kaum hinaus. Wegen den unverhältnismäßig hohen Mieten in den Großstädten ist der Gang zum Amt trotz Vollzeitstelle und Mindestlohn heute schon vorprogrammiert. Eine zukunftsweisende Lösung für die immer größer werdende Schar von sogenannten atypisch Beschäftigten wurde indes noch nicht gefunden. Für viele dieser Menschen wird der Gang zum Amt trotz Mindestlohn auch nicht erspart bleiben. Pechvögel im falschen Beruf und Millionen Langzeitarbeitslosen werden vorerst „Ausnahmen“ über sich ergehen lassen müssen – konkret: sie werden erst einmal ausgeschlossen.
Es bleibt deswegen offen, ob das jetzige Mindestlohngesetz als Armutsbekämpfungsinstrument die in ihm gesetzten Hoffnungen zukünftig erfüllen kann und es fragt sich tatsächlich, ob das angestrebte Wohlfahrtstaatsprinzip wirklich so nachhaltig gestärkt wurde, dass eine spürbare Lebensqualitätsverbesserung für die Betroffen eintrifft.

Diese vierteilige Reihe erläutert im sozialhistorischen Rückblick seit Verkündung der Hartz-Reformen, warum der Entscheidungskampf um die  Ressourcenverteilung zwischen Staat, Bürgern und Unternehmen nicht nur mit der Sorge um das soziale Wohlergehen der Arbeitnehmer(-innen) zu tun hat, sondern auch mit reiner Interessenpolitik, vor allem mit dem heftigen Widerstand der Wirtschaftsverbände gegen die Abschmelzung staatlicher Zuschüsse, wovon die Privatunternehmen – durch die Vergemeinschaftlichung der Arbeits- und Produktionskosten – in erheblichem Masse profitieren.
Die Garantie eines existenzsichernden Einkommens auf Sozialhilfeniveau für alle Bürger und komplementär die Festsetzung eines (höheren) Mindestlohnes durch den Staat, sowie die Bestimmung von zumutbaren Spielregeln für alle Arbeitsmarktteilnehmer sind letztendlich nichts anderes als ein immer geltender Regierungsauftrag – in Namen und Vertretung des Volkes. Dieser Auftrag mündet in eine ständige Überprüfung und Abwägung zwischen Gemeinwohl- und Partikularinteressen, damit eine gerechte Umverteilung aller Reichtümer der Gesellschaft erreicht und somit dem im kapitalistischen System, von Natur aus, vorhandenen Trend entgegengewirkt werden kann, dass Reiche immer reicher und Arme immer ärmer werden.
Durch diese Ausgleichmechanismen werden die gerechte Teilhabe aller  Bürger, ungeachtet der sozialen Herkunft; die friedliche und freiheitliche Koexistenz im Rechtsstaat trotz gewisser Vermögensunterschiede zwischen den Bürgern; sowie die, im Grundgesetz verankerte, demokratische Gesellschaftsform mit Sozialstaatsprinzip in Einklang gebracht und sichergestellt.
Werden die Sozialminima jedoch zu niedrig angesetzt und die sozialverträglichkeitsregulierende Gesetzgebung lebensfremd verabschiedet, so wird genau das Gegenteil erreicht: diese Regelwerke setzen die Ärmsten in ihrer Armut am Rande der Gesellschaft fest, weil die Menschen sich objektiv gesehen nicht mehr aus eigener Kraft aus ihrer unvorteilhaften Situation befreien und sich unter den auferlegten Lebenswidrigkeiten nur noch aufgeben können – womit der verfassungsverbriefte Gesellschaftsvertrag über den Ausgleich der Notlage des Einzelnen durch die Gemeinschaft nicht mehr, oder zumindest nicht mehr ausreichend, eingelöst wird und das Gesellschaftsgebilde konsequenterweise, auf kurz oder lang, seiner – wahrscheinlich gewaltsamen – Zersetzung zusteuert
.“ Wir führen die vierteilige Reihe von Laurent Joachim fort:

  • Teil 4 von 4 – Geht’s noch gerecht zu?!
    Am 05. Mai 2014 fragte Frank Plasberg in der WDR-Fernsehsendung Hart Aber Fair seine Gäste: „Im Land von Gier und Neid – welcher Lohn ist noch gerecht?“. Es ging vorwiegend darum, ob der Durchschnittsverdienst von 188.000 Euro im Jahr – also etwa 110 Euro pro Stunde  – eines Lufthansa-Piloten noch angemessen sei. Der angedachte Mindestlohn liegt im Vergleich bei 8,50 Euro pro Stunde…” Beitrag von Laurent Joachim, Teil 4 von 4
  • Teil 3 von 4 – Mindestlohn für alle? Wer erarbeitet denn dann das ganze Geld?
    Eine Regierung muss sich natürlich ihrer Verantwortung gegenüber allen Wirtschaftsakteuren bewusst sein, besonders in einem Land, das eine Exportquote von 41,5% aufweist  und in dem fast ein Viertel aller Arbeitsplätze vom Export abhängig ist . Deshalb darf die Frage keinesfalls ignoriert werden, ob die Einführung eines flächendeckend und gesetzlich verankerten Mindestlohns die Wirtschaft des Landes in eine Rezession führen oder ihr gar dauerhaft schädlich sein könnte…“ Beitrag von Laurent Joachim, Teil 3 von 4 
  • Teil 2 von 4 – Tagesbrot zwischen Höhen und Tiefen. Branchenspezifische Mindestlöhne, (k)eine Alternative?!
    Ende 2013 gab es 14 solche „branchenspezifischen Mindestlöhne“, welche eigentlich nichts anderes als von der Regierung gesponserte Tarifverträge sind. Diese Mindestlöhne erstrecken sich von 7,50 Euro pro Stunde (Wach- und Sicherheitsgewerbe, sowie Zeitarbeit in einigen Bundesländern) bis 13,70 Euro pro Stunde (Baugewerbe im früheren Bundesgebiet) . Hinzukommt, dass verschiedene Mindestlöhne durch eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen bestimmt werden. Zu nennen sind unter anderem das Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG), das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG), das Tarifvertragsgesetz (TVG) und das Mindestarbeitsbedingungengesetz (MiArbG). Ein höchst kompliziertes Geflecht…“ Beitrag von Laurent Joachim , Teil 2 von 4
  • Verklärt, erklärt, aufgeklärt
    Um Ausbeutung und Hungerlöhne zu vermeiden wurde der erste nationale Mindestlohn schon 1938 in den USA eingeführt und seitdem hat das Konzept einen wahren Siegeszug erfahren: in 90% der 183 Länder der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) gibt es heute Mindestlöhne. Ein klarer Fall, 90% der Länder auf Welt können sich nicht geirrt haben – möchte man meinen, oder gibt es doch (belastbare) Argumente gegen den Mindestlohn?...“ Beitrag von Laurent Joachim  , Teil 1 von 4
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=62372
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