Neuanfang oder Anfang vom Ende der (gesellschaftlichen) Arbeitszeitdebatte? Mehr Schatten als „Leuchtturm“ in der Tarifrunde Metall- und Elektroindustrie 2018 der IG Metall

30-Stunden-Woche fordern!„“Uns geht es gut“ und angeblich leben wir gut und gerne im aktuellen Deutschland… Das haben uns nicht nur fast alle Plakate der letzten Bundestagswahl einzutrichten versucht. Auch gibt es kaum einen wirtschaftspolitischen Beitrag der bürgerlichen Medien, der nicht mit der angeblichen Vollbeschäftigung und dem zumindest hausgemachten Fachkräftemangel beginnt. Spätestens zum Beginn des Weihnachtsgeschäftes ging es plötzlich „den Deutschen“ auch finanziell hervorragend und seit Beginn der Metalltarifrunde – dem gewerkschaftlichen Zugpferd der Tarifpolitik – soll daher den meisten darin Beschäftigten angeblich Lebensqualität wichtiger sein als mehr Geld. Letzteres wäre eine geradezu revolutionär erfreuliche Entwicklung… Doch leben wir nicht in einem Land, indem dem größten Exportüberschuss der Welt mit boomender Wirtschaft mindestens 16 Millionen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohte Menschen gegenüberstehen? Dem Niedrig-Lohn-Land und zumindest in Europa dem Lohndumper schlechthin, beides der Agenda 2010 sei dank?...“ Artikel von Mag Wompel vom Januar 2018, dessen Kurzfassung erschienen ist in ak 634 vom 23.1.2018 unter den Titel „Kein Lohnausgleich, kein Personalausgleich. In der Metall- und Elektrotarifrunde fährt die IG Metall die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung an die Wand“:

Neuanfang oder Anfang vom Ende der (gesellschaftlichen) Arbeitszeitdebatte?

Mehr Schatten als „Leuchtturm“ in der Tarifrunde Metall- und Elektroindustrie 2018 der IG Metall

„Uns geht es gut“ und angeblich leben wir gut und gerne im aktuellen Deutschland… Das haben uns nicht nur fast alle Plakate der letzten Bundestagswahl einzutrichten versucht. Auch gibt es kaum einen wirtschaftspolitischen Beitrag der bürgerlichen Medien, der nicht mit der angeblichen Vollbeschäftigung und dem zumindest hausgemachten Fachkräftemangel beginnt. Spätestens zum Beginn des Weihnachtsgeschäftes ging es plötzlich „den Deutschen“ auch finanziell hervorragend und seit Beginn der Metalltarifrunde – dem gewerkschaftlichen Zugpferd der Tarifpolitik – soll daher den meisten darin Beschäftigten angeblich Lebensqualität wichtiger sein als mehr Geld. Letzteres wäre eine geradezu revolutionär erfreuliche Entwicklung…

Doch leben wir nicht in einem Land, indem dem größten Exportüberschuss der Welt mit boomender Wirtschaft mindestens 16 Millionen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohte Menschen gegenüberstehen? Dem Niedrig-Lohn-Land und zumindest in Europa dem Lohndumper schlechthin, beides der Agenda 2010 sei dank? Allein im letzten Jahr ist die Deutsche Wirtschaft um 2,2 %  gewachsen, das achte Jahr in Folge. Theoretisch gab es zugleich um rund 2,4% höhere Tariflöhne, doch infationsbereinigt blieben lediglich 0,6% über. Für die 6%-Forderung der IG Metall sieht die Perspektive noch düsterer aus: Selbst wenn der Tarifabschluss über 3% liegen sollte – und nicht mit der Arbeitszeitverkürzung „verrechnet“ wird – bliebe nach Anzug von Produktivitätszuwachs (1-1,5%) und erwarteter Preissteigerung (2%), der sog. verteilungsneutraler Spielraum, nichts von der erhofften Umverteilungskomponente (2,5-3%) über. Und dies obwohl Betriebsratswahlen anstehen und obwohl gerade die IG Metall argumentiert, dass die Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie auf Rekordniveau ausgelastet sind und hohe Renditen erwirtschaften. So sieht der „verlässliche Kurs in der Tarifpolitik“ der der IG Metall aus. Die übrigens in den Argumenten zur Metall-Tarifrunde „werbend“ hinweist “Deutsche Lohnstückkosten international wettbewerbsfähig. Die Lohnstückkosten sind seit 2000 gesunken, in Deutschland noch stärker als im europäischen Durchschnitt, wie ein Vergleich zeigt….” – und dabei den eigenen Beitrag daran verschweigt… Die aktuellen Forderungen sind vage genug, um der Wettbewerbsfähigkeit weiterhin nicht allzu sehr weh zu tun.

Daher: Ach, wäre es schön, wenn es stimmte, dass Lebensqualität vor mehr Geld ginge. Eines der Merkmale links-oppositioneller GewerkschafterInnen war schon immer das Einfordern einer qualitativen Tarifpolitik, die eben nicht nur auf prozentuale (schlimm genug) Tariferhöhungen schielt, sondern sich mehr der Frage der Arbeits- und Lebensbedingungen zuwendet. Doch die viel beschworene „Generation Y“ muss sich den Verzicht auf Arbeitszeit leisten können bzw. dafür Entbehrungen in Kauf nehmen. In der Beschäftigtenbefragung von 2017, auf die die IG Metall ihre Tarifforderung stützt, wollen ca. 30 Prozent sogar länger arbeiten, um mehr zu verdienen – am unteren Ende der betrieblichen Hierarchie auch in der Metallindustrie.

In der gleichen Befragung wünschten sich 83 Prozent, die Arbeitszeit vorübergehend absenken zu können, um Arbeit und Privatleben besser vereinbaren zu können. Sie bei diesem auch gesellschaftlichen Problem vor der Einbahnstraße Teilzeitarbeit bewahren zu wollen ist sicherlich ein gutes Anliegen der IG Metall, die daher eine Wahloption auf Reduzierung der Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden für bis zu zwei Jahre mit Rückkehrrecht fordert. Dieser individuelle Anspruch mit Entgeltzuschuss vom Arbeitgeber soll edlich auch für gesundheitlich besonders belastete Schichtarbeiter gelten, hier eher in Form von Freischichten und mit einem höheren Zuschuss.

In der Tat ein überfälliger Schritt der Entgrenzung der Arbeit und steigender Gesundheitsbelastung etwas entgegen zu setzen. Auch die mit dem letzten Kampf für die 35-Stunden-Woche vor 34 Jahren (damals begleitet von einer breiten gesellschaftlichen Debatte) als Preis eingeführte Arbeitszeitflexibilisierung muss endlich dem einseitigen Diktat (und Profit) der Arbeitgeberseite entrissen werden. Die IG Metall selbst beschreibt die Situation, an der sie selbst nicht unschuldig ist, in der Argumentation für die Tarifrunde sehr zutreffend: „Denn Arbeitszeiten werden immer flexibler – bisher allerdings vor allem im Interesse der Arbeitgeber. 57,3 Prozent der Beschäftigten machen Überstunden, 1,8 Millionen allein im vergangenen Jahr, davon die Hälfte unbezahlt. Fast jeder Zweite arbeitet auch samstags, ein Viertel sogar sonntags. Gut ein Drittel arbeitet Schicht. Ganz nach der Logik der Arbeitgeber: Zuerst kommt der Kunde, der Markt, dann die Beschäftigten.“ An dieser verheerenden Lage ändert jedoch ein individueller und befristeter Anspruch auf Arbeitszeitverkürzung wenig und nur eben befristet, zumal er nebenbei auch einen weiteren Schritt zur Verbetrieblichung der Tarifpolitik darstellt. Statt einer allgemeinen Verkürzung der Arbeitszeit soll es nun auch noch eine ohne vollen Lohnausgleich (geschweige Personalausgleich, um weitere Arbeitsverdichtung zu vermeiden) sein! Natürlich ist die IG Metall nicht für alle Lohnabhängigen zuständig (die Tarifrunde betrifft ca 3,9 Millionen), geschweige die gesamte Gesellschaft, doch hat die größte DGB-Gewerkschaft in der stärksten Branche eine wichtige Vorbildfunktion – und sie selbst den Anspruch des „Leuchtturms“.

So richtig die Forderung nach einer an Lebensphasen orientierten Arbeitszeit ist, so falsch ist sie, wenn dieser überfällige Schritt ins „Reich der Freiheit“ nur einigen – nicht gesetzlich, nicht tariflich, sondern mit einem arbeitsvertraglichen Flickenteppich – vorbehalten werden soll: Eine auf max. 2 Jahre befristete mindestens 28-Stundenwoche für ca. 200.000 Vollzeitkräfte bzw. 4-5% der Beschäftigten, von denen die  IG Metall ausgeht, zusätzlich zu den aktuellen 6% Teilzeitbeschäftigten in der Branche – eine wirkliche Ausnahme von der „Regel“. Dafür bietet die IGM auf der anderen Seite eine Erhöhung der 40-Stundenverträge auf betrieblich 30% oder mehr an und zementiert das selbst als ungesund angeprangerte „Normalarbeitsverhältnis“. Während Vollbeschäftigte quer durch alle Branchen derzeit im Schnitt mehr als 43 Stunden arbeiten (im Metallbereich durchschnittlich 39,3 Stunden) und mehr unbezahlte, als bezahlte, fast eine Milliarde Überstunden schieben… Wenn trotz hoher Gewinne (dem Dieselgate zum Trotz) und Sonderschichten für die Stammbelegschaft die LeiharbeiterInnen nicht mehr übernommen werden und bald alle gehen müssen (so bei VW) sowie die Arbeitgeber nach weiterer Flexibilisierung der Arbeitszeit und noch längeren Arbeitszeiten beim aktuellen Sturm auf das Arbeitszeitgesetz (AZG) schreien, erscheint die Tarifforderung nach einem Kniefall und riecht nach der Vorbereitung auf den massiven Personalabbau in der Autoindustrie… Im Netzwerkinfo der Gewerkschaftslinken heißt es entsprechend: “… Das ganze Vorgehen lässt darauf schließen, dass der Führung klar war, dass sie irgendwann an dem Thema Arbeitszeitverkürzung nicht mehr vorbei kommt. Die Verträge sind seit Jahren kündbar. Will sie Ruhe an dieser Front, muss sie sie jetzt neu aushandeln und dann mit langer Laufzeit die Manteltarife zumachen, die die Arbeitszeiten regeln. Dazu hat sie sich eine Forderung ausgedacht, die dem Kapital nicht wirklich weh tut – so sehr sie jetzt auch heulen. (…) Die Gefahr besteht, dass mit solch einem Vorgehen allgemeine Arbeitszeitverkürzungen für alle für lange Zeit nicht mehr eingefordert werden können, da der Manteltarif nicht kündbar ist. Ein Desaster, kommt doch mit der Digitalisierung und Industrie 4.0 eine Welle von Arbeitsplatzabbau auf uns zu…“

Die Frage ist dabei, von wem diese Forderung (dennoch) getragen wird. Von den aktuell zu Hunderttausenden warnstreikenden KollegInnen? Diese bekommen eine Trillerpfeife in den Mund und freuen sich natürlich über eine – wenn auch unbezahlte und kontrollierte – Pause und die immer seltener gewordene Möglichkeit zum Gespräch.  Die IG Metall war noch nie ein Leuchtturm der Basisdemokratie und die von unten nach oben durchgereichten Forderungsvorschläge schon immer mit jeder Stufe aufgeweicht. Nun beruft man sich auf Umfragen, die eigene Marschrichtung bestätigen sollen (wie schon bei den letzten Tarifverhandlungen zu Leiharbeit) und einen bunten Blumenstrauß verschiedenster Arbeitszeitforderungen ergeben – ohne ein gemeinsames und mobilisierendes Ziel.

Dem hat die leider schwächende Gewerkschaftslinke immer weniger entgegen zu setzten, vorbei die Zeiten, als im Vorfeld der Diskussionen der Tarifkommissionen Forderungen aus den Belegschaften und Betriebsgruppen abgesprochen und veröffentlicht wurden. Doch auch jetzt sickerte durch, dass die IG Metall intern große Probleme hatte, ihre individualisierte Art der dringend notwendigen Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen. Die hart erkämpfte 35-Stunden-Woche existiert nur noch für die Stammbelegschaften in der Autoindustrie und in Teilen der großen Zulieferer,  78% in der Metallbranche arbeiten – z.B. dank den Standortsicherungsverträgen – länger und die meisten hätten gern eine echte 35-Stunden-Woche (wenn schon keine 30 Std.). Neben Forderungen auf wie „5 Tage zusätzlich frei für alle“  oder nach dem Recht für Betriebsräte, bei der Personalbemessung mitreden zu können, machten sich v.a. die KollegInnen im Osten (nach langen Kämpfen erfolgreich) dafür stark, die 35-Stunden-Woche endlich wieder anzugehen und die Arbeitszeitangleichung im Osten durchzusetzen – 27 Jahre nach der Einheit. “Wir sind KEINE Arbeiter zweiter Klasse und wollen auch nicht länger als solche behandelt werden!” schrieb z.B. die Bezirksleitung des Bezirks Mitte der IGM in einem offenen Brief.  Sollten die Ost-KollegInnen (evtl. außer derjenigen in einigen Großbetrieben) erneut im Stich gelassen werden, wäre es eine unsägliche Tradition zum Streik 2003 für die Arbeitszeitangleichung, dem die Gesamtbetriebsratsfürsten der Autoindustrie in den Rücken gefallen sind.

Und dennoch: Wünschenswert wäre – v.a. im Osten – eine breite gesellschaftliche Unterstützung der (warn)streikenden KollegInnen, auch um zu bezeugen, wie grundlegend die Probleme steigender Arbeitsbelastung wahrgenommen werden, nicht nur in der Metallindustrie. Und um vorzuführen, wie stark die gesamtgesellschaftliche Mobilisierung hätte sein können: Für eine spürbare Arbeitszeitverkürzung für alle, mit Lohn- und Personalausgleich. Am Puls der Zeit also, auch international.

Mag Wompel (LabourNet Germany)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=126998
nach oben