Jobcenter und Amazon – eine Symbiose im Sinne des Kapitals. Über die fiktive Grenzziehung zwischen Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit

Amazons „prime day“ 2018 wird (nicht nur) in Madrid bestreikt werdenSeit fast vier Jahren kämpfen Beschäftigte bei Amazon nicht nur um mehr Lohn, sondern auch gegen krankmachende Arbeitsbedingungen, entwürdigende Kontrollen und Respektlosigkeit. Als Erwerbsloseninitiative haben wir uns mit eigenen Akzenten an der bundesweiten Aktionswoche »Make Amazon Pay« beteiligt. Dass sich eine Erwerbsloseninitiative in Arbeitskämpfe »einmischt«, mag erstaunen, ist doch der nächstliegende Bezugspunkt das Jobcenter. Im Folgenden werden wir erklären, warum wir uns an der Aktionswoche beteiligt haben. Und vor allem: Wir wollen darlegen, warum eine Grenzziehung zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen fiktiv und falsch ist. (…) Das Zusammenspiel zwischen Amazon und Jobcenter ist also ein Angriff auf die Beschäftigten – und zugleich ein Angriff auf Hartz-IV-Beziehende. Ein Angriff auf die Arbeitsbedingungen ist es, weil Erwerbslose künftig mit großer Wahrscheinlichkeit die besagten prekären Stellen besetzen werden. Die Einschränkung der sozialen Absicherung von Erwerbslosen wiederum fällt auf die jetzigen Beschäftigten zurück. Schließlich ist eine Festanstellung nie auf Dauer garantiert und selbstständig oder geringfügig Beschäftigte sind auf eine Aufstockung mit ALG II angewiesen. Wir betrachten das Jobcenter und Amazon als komplementäre Partner eines sich fortschreibenden Kapitalismus. In diesem nimmt die Ausbeutung, auch wenn sie sich immer subtiler gestaltet, zu…“ Diskussionsbeitrag von BASTA! Erwerbsloseninitiative Berlin aus dem ak – analyse und kritik- Nr. 637 vom 17.4.2018 – wir danken beiden!

Jobcenter und Amazon – eine Symbiose im Sinne des Kapitals

Über die fiktive Grenzziehung zwischen Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit

Seit fast vier Jahren kämpfen Beschäftigte bei Amazon nicht nur um mehr Lohn, sondern auch gegen krankmachende Arbeitsbedingungen, entwürdigende Kontrollen und Respektlosigkeit. Als Erwerbsloseninitiative haben wir uns mit eigenen Akzenten an der bundesweiten Aktionswoche »Make Amazon Pay« beteiligt. Dass sich eine Erwerbsloseninitiative in Arbeitskämpfe »einmischt«, mag erstaunen, ist doch der nächstliegende Bezugspunkt das Jobcenter. Im Folgenden werden wir erklären, warum wir uns an der Aktionswoche beteiligt haben. Und vor allem: Wir wollen darlegen, warum eine Grenzziehung zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen fiktiv und falsch ist. (1)

Jedes Jahr zum Weihnachtsgeschäft stellt Amazon neue kurzfristig Beschäftigte ein, die dann am Anfang des nächsten Jahres wieder im Jobcenter sitzen. 2017 galt es für Amazon, 13.000 dieser Stellen zu besetzen. Zum Vergleich: 14.500 Beschäftigte hat Amazon deutschlandweit längerfristig unter Vertrag. Bei der Neueröffnung des Standortes in Dortmund im Oktober 2017 wurden alle Beschäftigten, die für die Arbeiten im Lager gesucht wurden, nur bis zum Jahresende eingestellt. Diejenigen, die sich in dieser Zeit für den Konzern bewährten, würden zum 1. Januar 2018 einen längerfristigen Vertrag erhalten, so das Versprechen von Amazon.

An diesem Beispiel wird deutlich: Eine Bevölkerungsschicht der Erwerbslosen gibt es nicht. Vielmehr werden Erwerbslose nach Belieben eingestellt und wieder entlassen. Bei Erwerbslosigkeit handelt es sich um eine Lebensphase, die mal länger, mal kürzer währt und teils häufiger, teils weniger häufig in (Erwerbs-)Biografien auftaucht. Fakt ist: Immer mehr Menschen machen Erfahrungen mit Erwerbslosigkeit und sind auf das Geld der Jobcenter bzw. der Arbeitsagentur angewiesen. Sie haben am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie beliebig austauschbar ihre Arbeitskraft ist und teilen das Gefühl der Zukunftsunsicherheit – ob mit Lohnarbeit oder ohne. So verstanden handelt es sich bei der Erwerbslosigkeit um ein Massenphänomen. (2)

Darüber hinaus garantiert ein Arbeitsplatz immer seltener gesellschaftliche Integrität geschweige denn ein ökonomisches Auskommen. Nicht nur Menschen ohne Job haben nicht genug zum Leben, sondern auch solche, die einer Arbeit nachgehen, sind zunehmend auf Unterstützung vom Jobcenter angewiesen. Deren Tätigkeit konzentriert sich weniger auf jene, die gar keinen Job haben, sondern immer mehr auf Menschen, deren monatlicher Lohn die Regelbedarfe (416 Euro plus gedeckelte Miete) unterschreitet. Menschen, die nicht in der Lage oder gewillt sind, mehrere Jobs gleichzeitig zu machen, sind auf zusätzliche Unterstützung angewiesen. Hierbei überlagern sich die Phasen von Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit und finden zeitgleich statt. (3)

Neben der Teilzeitbeschäftigung, der Auslagerung von Arbeitsplätzen an Subunternehmen und der Übernahme von Zeitarbeitskräften ist Amazon Flex der neueste Coup im Streben nach der effektivsten Arbeitskraftauslastung. Amazon Flex fällt unter die Rubrik »Plattformökonomie«, bei der Freiberufler_innen im Auftrag von Amazon Ware mit dem Privatauto ausliefern – ohne Auftragsgarantie für die Kuriere, die das Auftragsausfallrisiko selbst tragen. Sie bilden die Marxsche »Reservearmee« des 21. Jahrhunderts. Mit ihnen kann Amazon immer auf die Trends des Marktes reagieren.

Unterwerfung unter ökonomische Kriterien

Als Preis für die Sicherung der Existenz durch den Staat wird dem Individuum die alleinige Verantwortung von Erwerbslosigkeit aufgebürdet. Was ehemals als dem Wirtschaftssystem geschuldet galt, führt heute zur Pathologisierung von Erwerbslosen. Aber die Lösung scheint einfach: »Bewirb dich, du Sau, dann bekommst du auch Arbeit.«

Unter »Mitwirkungszwang« muss sich jede »Kundin«, jeder »Kunde« des Jobcenters bei vorgeschriebenen Unternehmen bewerben. Verstöße gegen diese Bewerbungsauflagen werden mit Geldkürzungen geahndet, circa 1/3 des Regelsatzes. Diese Sanktionen fungieren im Jobcenter vor allem als obrigkeitsstaatliches Disziplinierungsinstrument zur Einübung von Verzicht und Gewöhnung an Elend. Unter anderem der enorme behördliche Druck bewirkt, dass eine eventuelle Unterstützung durch die Jobcenter als Lebensphase erscheint, die entweder ganz vermieden werden sollte oder – wenn sie dennoch eingetreten ist – um jeden Preis wieder verlassen werden muss. »Lieber irgendeinen Job machen, mit dem ich halbwegs über die Runden komme«, lautet häufig die »individuelle« Lösung, die sich im Endeffekt mit der Leitlinie des Jobcenters »deckt: »Jede Arbeit ist besser als keine.«

Der Druck im Jobcenter einerseits und die massenhafte Erfahrung der Austauschbarkeit der eigenen Arbeitskraft andererseits machen die (potenziellen) Lohnabhängigen im Sinne der Unternehmen gefügig. So wird verständlich, warum ein Großteil der Beschäftigten auf Angriffe paradoxerweise mit einer Überbeanspruchung ihrer Arbeitskraft reagiert.

Einer analogen Praxis bedient sich Amazon bei der Erfassung, Kontrolle, Bewertung, Disziplinierung und Selektion seiner Beschäftigten. Diese gemeinsame Stoßrichtung dient der Zurichtung der Bevölkerung im Sinne ökonomischer Effizienzanforderungen. Jobcenter und Wirtschaft verschieben die Normalität im Jobcenter- und Arbeitskontext ausdrücklich in Richtung wertschöpfender Kriterien. Sie streben ein stetiges Ausbeutungswachstum an, eine unendliche Verlängerung des Ökonomischen in die letzten Winkel und Ecken des Alltags der Menschen. Eine Mitarbeiterin im Jobcenter-Lichtenberg formulierte treffend: »Wir können nichts dafür, dass wir als marktwirtschaftlicher Betrieb aufgebaut wurden.«

So werden die potenziellen Beschäftigten im Jobcenter gefügig gemacht, um später bei Amazon duldsam ihre Arbeit zu tun. Denn im Arbeitsalltag gibt der Konzern die Regeln vor. Selbstbewusst trägt Amazon seine antigewerkschaftliche Haltung nach außen: Verhandlungen über Vertragsbedingungen, Missstände beim Gesundheits- und Datenschutz, Arbeitszeiten und Lohnhöhe werden konsequent verweigert.

Hand in Hand: Amazon und Jobcenter

Jobcenter und Amazon sind aktive Akteure mit dem gemeinsamen Interesse nach möglichst günstiger und effektiver Ausbeutung von Arbeitskraft. Zudem lässt sich auch eine direkte Kooperation zwischen beiden erkennen. Exemplarisch wird dies am neuen Standort Dortmund deutlich. Da dort die Stellenbesetzung begann, als der neue Amazon-Standort noch gebaut wurde, war Amazon zur Durchführung der Bewerbungsgespräche auf andere Räumlichkeiten angewiesen. Normalerweise hätte das Unternehmen Räumlichkeiten in einem Hotel oder dergleichen anmieten müssen. Die Bewerbungsgespräche mit 3.000 Bewerber_innen (Stand: Mitte September 2017) fanden jedoch in der örtlichen Arbeitsagentur statt. Sonst »wären zu viele Kunden verloren gegangen«, sagte die Chefin der Dortmunder Arbeitsagentur. Es kann vermutet werden, dass Amazon von der Verlagerung in die Behörde auch finanziell profitierte.

Für die Planung und Organisation eines von vier Amazon-Logistikzentren in Nordrhein-Westfalen hat die Kreisverwaltung des Landkreises Warendorf bei Münster eine befristete Vollzeitstelle im dortigen Jobcenter geschaffen. Alleinige Aufgabe: Menschen, die sich gegenwärtig im ALG-II-Bezug befinden, in die 2.000 neu entstehenden Amazon-Stellen zu vermitteln.

Die hinter der Kooperation stehende Strategie ist klar: Für das Jobcenter ist Amazon als wichtiger Akteur ein optimaler Bündnispartner, um statistischen Erfolg zu erzielen. Bei der Praxis der Jobcenter handelt es sich um eine staatlich geförderte Unterstützung der Privatwirtschaft. Im Falle von Amazon wird die ökonomische Dominanz eines supranationalen Konzerns durch staatliche Subventionen gefestigt und ausgebaut. Der Monopolist kann so seine ökonomische Dominanz mittels staatlicher Subventionen festigen und ausbauen, neue Standorte erschließen, die Produktpalette erweitern und auf seinem grenzenlosen Expansionskurs einen Konkurrenten nach dem anderen aus dem Feld schlagen.

Zwar beteuert Amazon, dass der Lohn der Beschäftigten bei mindestens 10,52 Euro liege und damit deutlich über dem Mindestlohn. Allerdings werden die Arbeitsbedingungen insgesamt zu oft auf die Entlohnung reduziert. So berichteten die bei ver.di organisierten Arbeiter_innen aus Leipzig, dass sich der Fokus ihres Arbeitskampfes innerhalb der vergangenen Jahre vom Lohn zu den lohnunabhängigen Arbeitsbedingungen verlagert habe. Die Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse schlägt sich dabei nicht allein auf die Beschäftigten als Einzelne und ihre Arbeitskraft nieder. Zusätzlich stehen die innerbetrieblichen Organisierungsmöglichkeiten unter Beschuss. Ver.di hat bei Amazon in Leipzig eine relativ hohe Organisationsquote von 35 Prozent erreicht. Das Management geht dagegen mit ständigen Kontrollen und der klaren Tendenz zur Vereinzelung der Beschäftigten vor. Gewerkschaftliche Organisierung und der Entschluss, sich zur Wehr zu setzen, erscheinen so sinnlos. Zudem: Warum sollte ich mich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen, wenn ich in drei Monaten keinen gültigen Arbeitsvertrag mehr habe?

Hand in Hand geht bei Amazon das Bündel von repressiven Maßnahmen mit positiven Anreizen. Stress bei den Beschäftigten ist die Folge. So werden die Arbeiter_innen an einigen Amazon-Standorten in beliebige Teams eingeteilt. Nach Ablauf einer bestimmten Frist, gibt es für jede_n im Team einen Gehaltsbonus, sofern das Team insgesamt eine bestimmte Krankheitsquote nicht überschritten hat. Im Krankheitsfalle, und damit einhergehend das Nichterreichen eines vorgegebenen Arbeitspensums, ist man somit nicht nur für seinen eigenen Bonusverlust verantwortlich, sondern auch für den des Teams. Krank schuften wird auf diese Weise zu einem Akt der Solidarität.

Gemeinsamer Widerstand

Das Zusammenspiel zwischen Amazon und Jobcenter ist also ein Angriff auf die Beschäftigten – und zugleich ein Angriff auf Hartz-IV-Beziehende. Ein Angriff auf die Arbeitsbedingungen ist es, weil Erwerbslose künftig mit großer Wahrscheinlichkeit die besagten prekären Stellen besetzen werden. Die Einschränkung der sozialen Absicherung von Erwerbslosen wiederum fällt auf die jetzigen Beschäftigten zurück. Schließlich ist eine Festanstellung nie auf Dauer garantiert und selbstständig oder geringfügig Beschäftigte sind auf eine Aufstockung mit ALG II angewiesen.

Wir betrachten das Jobcenter und Amazon als komplementäre Partner eines sich fortschreibenden Kapitalismus. In diesem nimmt die Ausbeutung, auch wenn sie sich immer subtiler gestaltet, zu. Für die steigenden Profite der Unternehmen werden Besitzlosen immer größere Opfer abverlangt. Die »Schere zwischen Arm und Reich« driftet weiter auseinander. Beschäftigte und Erwerbslose besetzen Positionen im kapitalistischen Gefüge, die je nach Belieben gegeneinander ausgespielt werden, um letztendlich beiderseits Kapitalinteressen zu erfüllen.

Gerade weil die Idee von der uneingeschränkten individuellen Verantwortung vorherrschend ist, wollen wir für einen gemeinsamen antikapitalistischen und emanzipativen Kampf plädieren – nicht allein gegen die Akteur_innen und Profiteur_innen dieses Systems, sondern vor allem für eine solidarische und soziale Alternative. Diese können wir schon hier und jetzt praktisch werden lassen. Arbeitszeitverkürzungen, Verlangsamung des Arbeitstempos, stabile statt flexible Arbeitsverträge, keine Kameras und Handscanner in Arbeitsräumen sowie höhere Löhne sollten dabei als Mindeststandards und nicht als das Ende der Fahnenstange verhandelt werden. Die Pinkelpause nicht zu vergessen.

Zudem reicht es nicht aus darüber nachzudenken, wie der nächste Angriff (z.B. Streik, Boykott, Sabotage) am effektivsten lanciert werden kann. Wir müssen endlich eine soziale und solidarische Praxis aufbauen, in deren Zentrum gegenseitige Unterstützung steht, die uns den Rücken frei hält und uns die Angst vor der Zukunft nimmt. Denn erst die ständige Angst vor der nächsten Arbeitslosigkeit und vor der nächsten Sanktion ermöglicht, dass wir die Einschnitte in unsere Alltage hinnehmen und uns nicht zur Wehr setzen. Entgegnen sollten wir dem mit einer verlässlichen, sozialen Organisierung von unten, die nicht nur zur Art der Ausbeutung, sondern zum Faktum der Ausbeutung selbst einen Gegenentwurf bietet.

In diesem Sinne: Die Grenze verläuft nicht zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten, sondern zwischen Ausgebeuteten und jenen, die davon profitieren.

Diskussionsbeitrag von BASTA! externer Link aus dem ak – analyse und kritik externer Link – Nr. 637 vom 17.4.2018 – wir danken beiden!

BASTA! Ist eine Erwerbsloseninitiative im Berliner Stadtteil Wedding. Dort schaffen sie Raum, um sich gegen die Zumutungen des Jobcenter-Alltags und des Arbeitsmarktes zu organisieren.

Anmerkungen:

1) Der Beitrag behandelt lediglich die Situation von Beschäftigten und Erwerbslosen in der BRD. Im Sinne einer globalen Perspektive thematisieren wir also nur den letzten Teil einer Wertschöpfungskette, die – insbesondere im Falle von Amazon -, von der internationalen Arbeitsteilung und den niedrigen Lohn- und Produktionskosten im globalen Süden gekennzeichnet ist.

2) 2016 hatten seit der Einführung von Hartz IV 14,5 Millionen Menschen jemals ALG II-Leistungen bezogen.

3) Rund 1,2 Millionen Menschen stocken mit Hartz IV auf. Das sind 25 Prozent aller Leistungsbeziehenden.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=134583
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