Debatte um Grundsicherung: „Jens Spahn soll mal einen Monat mit dem Hartz-IV-Regelsatz leben“

Delikt ArbeitslosArmut sei oft mit Scham verbunden, sagte die Bloggerin und ehemalige Arbeitsvermittlerin“ Inge Hannemann im Gespräch mit Sarah Zerback beim Deutschlandfunk am 17. März 2018 externer Link Audio Datei (Audiolänge: ca. 10 Min., abrufbar bis zum 23. September 2018): „…Was aber Jens Spahn halt wirklich gemacht hat, er spielt Erwerbstätige gegen Erwerbslose aus, und er vergisst bei seinen ganzen Aussagen, dass auch Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger oder Grundsicherungsleistungsempfänger ja auch Steuern bezahlen mit jedem Einkauf. Sie zahlen Steuern mit der Miete. Also wir finanzieren ja im Grunde genommen die Aussage jetzt von Herrn Spahn. Und das ist natürlich eine ganz große Ignoranz, die er hier an den Tag gelegt hat. (…) Aber wir müssen auch bedenken, dass wir gar nicht für jeden eine Arbeit schaffen können. Wir haben eine immense Steigerung im Bereich des Niedriglohnsektors, wir haben einen sehr hohen Anteil am prekären Arbeitsmarkt, also Teilzeit, Minijobs und Befristungen. Ich möchte mal eine Zahl sagen: Wir haben zum Beispiel zu Beginn der Agenda 2010 2003 rund 5,6 Millionen Geringbeschäftigte gehabt. Aktuell liegen wir bei 7,8 Millionen. Hier gab es ja eine Verschiebung im Arbeitsverhältnis. Und davon können viele Menschen natürlich nicht leben, das heißt, sie stocken auf mit Grundsicherung. (…) Also diese Zahl, dass wir mehr offene Arbeitsstellen haben gegenüber Arbeitssuchenden, das stimmt ja so nicht. Wir haben eine Million Arbeitsstellen, wir haben aber rund fünf Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Hartz-IV. Das heißt, das kann ja schon mal rechnerisch gar nicht aufgehen. Und wir haben einen großen Teil im Bereich der Jobbörsen, natürlich die Zeitarbeit. Wir hatten zu Beginn der Agenda 2010 rund 300.000 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, und jetzt liegen wir bei knapp einer Million. Das sind ja häufig befristete Arbeitsplätze, das heißt, über die Hälfte hören ja schon innerhalb von sechs Monaten wieder auf und stehen dann wieder als Bittsteller im Jobcenter…“ Siehe dazu:

  • Lustig ist das ALG-II-Leben – Als Reaktion auf Jens Spahns Kommentar zum Thema Arbeitslosengeld II und Armut erfährt eine „Petition“ Aufmerksamkeit, die an sich eher kurzsichtig entstand New
    „… Dass eine „Petition“ einer von ALG II lebenden Mutter insofern nun mediale Aufmerksamkeit erhält und sich mehr als 160.000 Unterschriften (digital) für sie finden, ist wenig verwunderlich. Jens Spahn hat diese „Petition“ genutzt, um für sich selbst auch in positiver Weise zu werben, indem er ein Treffen mit der „Petitions“-Organisatorin in Aussicht stellte und verlautbaren ließ, er wäre gegebenenfalls sogar bereit, sich auf das Experiment, einzulassen: einen Monat lang von ALG II zu leben. Doch was genau soll ein solches Experiment beweisen oder bewirken? (…) Jens Spahns Vorschlag, sich mit Frau S. zu treffen und sich gegebenenfalls auch auf das vorgeschlagene Experiment einzulassen, ist insofern ein kluger Schachzug. Wird er einen Monat lang mit ALG II auskommen, so kann er dies als Bestätigung für seine Aussagen nutzen und sich noch dazu als gesprächs- und kritikbereiter Minister darstellen. Zu befürchten hat er wenig bis nichts, da ein solches Experiment letztendlich nur eine Posse bedeutet. In den letzten Jahren wurden bereits ähnliche Experimente durchgeführt, die dann medial aufgehübscht wurden und dann zu Ergebnissen wie „100% Bio ist möglich mit ALG II“ führten…“ Beitrag Alexander und Bettina Hammer vom 27. März 2018 bei Telepolis externer Link
  • Geht es den Armen zu gut? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung spielt Arme gegen noch Ärmere aus 
    „Der neue Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) führte sich mit dem Satz ein: „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut“. Das stieß auf heftige Kritik. 150.000 Personen teilten die Petition einer Hartz-IV-Bezieherin, Spahn solle doch mal vier Wochen von Hartz IV leben. Wohlfahrtsverbände mischten sich ein, bestätigten, dass das Beziehen von Hartz IV Armut bedeute und verlangten höhere Regelsätze. Spahn und die Kanzlerin, die ihm beisprang, hatten jedoch nur von sich gegeben, was alle Bundesregierungen der Nachkriegszeit schon immer behauptet haben, egal ob mit Beteiligung von CDU, CSU, SPD, Grünen oder FDP: Sie alle bezeichneten die Sozialhilfe gewöhnlich als „bekämpfte Armut“. Der gedankliche Schritt von der Bekämpfung der Armut zur Bekämpfung der Armen ist aber nicht weit. (…) Für das Kapital sind Armutslöhne der oberste Maßstab dafür, welche Bedürfnisse bei Hartz IV als notwendig anerkannt werden. Lohnabhängige jedoch haben ein anderes Interesse: für sie sollten die bescheidenen Sätze von Hartz IV Maßstab dafür sein, wie ärmlich das Lohnniveau in Wirklichkeit ist. Der Mindestlohn von 8,84 Euro ist völlig unzureichend. Er liegt unter dem Existenzminimum eines Alleinstehenden. Elf Euro wären angemessen und zwar lohnsteuerfrei. Der Staat, der angeblich die Aufnahme von Arbeit attraktiv machen will, zieht selbst noch vom gegenwärtigen Mindestlohn Lohnsteuern ab. Der Staat, der die Gewinn- und Einkommensteuer erheblich gesenkt hat, besteuert auch noch das Existenzminimum. Der steuerliche Grundfreibetrag beträgt zur Zeit nur 9.000 Euro bzw. 750 Euro monatlich (416 Euro Regelsatz plus 334 Euro Warmmiete). Das soll das Existenzminimum eines Erwerbstätigen sein? Arbeitgeberverbände, Medienkonzerne und Bundesregierung sind daran interessiert, die Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken. Spahn verkündete in der Sendung „Hart aber fair“ vom 19. März, dass es uns in Deutschland immer noch besser ginge als anderswo und wir stolz auf unser Land sein könnten. So fördert man den sozialen Zusammenhalt zwischen Kapital und Arbeit, die Unterordnung der breiten Mehrheit unter die Interessen von Daimler, Siemens und Deutsche Bank. Die von uns angestrebte „Solidargemeinschaft“ sollte anders aussehen. Sie sollte zwischen arbeitslosen und beschäftigten LohnarbeiterInnen bestehen, aber auch zwischen noch Beschäftigten und RentnerInnen. Hier gilt es, den sozialen Zusammenhalt zu fördern.“ Beitrag von Rainer Roth vom 22. März 2018 bei Tacheles e.V. externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=129583
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