Stress und psychische Erkrankungen: „Viele Arbeitgeber fahren auf Verschleiß“

Karoshi„… Die Zahl der Krankentage wegen psychischer Probleme hat sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt – von rund 48 Millionen im Jahr 2007 auf 107 Millionen im Jahr 2017. Das geht aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Ausfallkosten haben sich demnach fast verdreifacht – von 12,4 Milliarden auf 33,9 Milliarden Euro. (…) Eine der zahlreichen Psychologinnen und Psychologen, die Unternehmen zu mentalen Belastungen beraten, ist Julia Scharnhorst. „In einem Stresszustand zu sein, war mal für Notfälle gedacht“, sagt sie. „Heute befinden sich viele Menschen aber in einem Dauerzustand und dafür sind wir biologisch nicht gemacht.“ (…) „Pausen und richtige Erholungsphasen, in denen wir entspannen, uns locker machen, sind zum Beispiel sehr wichtig“, sagt Scharnhorst. Außerdem beobachtet sie, dass die Digitalisierung einige Stressoren verstärkt: „Die Informationsflut ist heutzutage immens!“ Ein weiteres Problem seien dienstliche Mails und Anrufe in der Freizeit. Dadurch werden Mitarbeiter mitunter in Anspannung versetzt und gewähren dem Kopf nicht die notwendige Auszeit. Von den Unternehmen erwartet sie, noch mehr für die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu tun. Und wenn es nur aus wirtschaftlichen Motiven ist. Die Fehlzeiten sind immerhin viel länger als wenn jemand wegen körperlicher Erkrankungen ausfällt. „Ist jemand völlig erschöpft oder wird sogar psychisch krank, helfen keine drei Tage Bettruhe oder ein Antibiotikum“, sagt die Psychologin. (…) Die Bundesregierung sieht angesichts der aktuellen Zahlen die Arbeitgeber in der Pflicht: Gegen psychische Belastungen würden keine neuen Arbeitsschutzregeln helfen. Ziel müsse sein, Betriebe und Beschäftigte zu befähigen, das vorhandene Instrumentarium zu nutzen. Jutta Krellmann, arbeitspolitische Sprecherin der Linksfraktion, kritisierte die Haltung scharf. „Viele Arbeitgeber fahren auf Verschleiß: Starker Druck, hohe Flexibilität – immer schneller, immer mehr. Beschäftigte werden über ihre Belastungsgrenze getrieben“ (…) Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sieht die Politik gefordert. Die Regierung müsse handeln, sagte Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. „Dass die Bundesregierung angesichts dieser Zahlen einfach schulterzuckend auf die Arbeitgeber verweist, ist eine Frechheit.“ Die Gewerkschaften hätten schon vor Jahren einen konkreten Entwurf für eine Anti-Stress-Verordnung vorgelegt.“ Artikel von Marie Rövekamp vom 27. März 2019 beim Tagesspiegel online externer Link

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