Konkrete Utopien für die Arbeitswelt. Bernd Riexinger über eine Klassenperspektive auf der Höhe der Zeit

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitBereits im September 2017 hat Bernd Riexinger gemeinsam mit Lia Becker im Supplement der Zeitschrift Sozialismus Vorschläge für ein Neues Normalarbeitsverhältnis [1] abgeliefert, die Beachtung verdienen: Deren fünf Säulen sind für die AutorInnen ein Lohn für ein gutes Leben, auch in der Rente; eine planbare Zukunft statt prekärer Arbeit; eine neue Humanisierung der Arbeit statt Stress; eine gerechte Verteilung von Arbeit durch kurze Vollzeit statt Dauerstress und Erwerbslosigkeit sowie ein mehr an Demokratie, konkret: an Wirtschaftsdemokratie. Mit seinem jüngst erschienenen Buch »Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen« unterfüttert Bernd Riexinger einerseits dieses Konzept noch einmal argumentativ und schließt gleichzeitig an die verschiedenen Stränge der umfangreichen Debatte um eine neue Klassenpolitik an und konkretisiert diese – fast unnötig zu betonen, dass dies auch die Kontroversen innerhalb der Partei Die Linke betrifft. Anlässlich einer Buchvorstellung am 5. Dezember 2018 für das Zukunftsforum Gewerkschaften Rhein-Neckar im Mannheimer Gewerkschaftshaus sprach Torsten Bewernitz für den express mit Bernd Riexinger…“ Interview von Torsten Bewernitz mit Bernd Riexinger in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 12/2018

Bernd, du streitest für eine verbindende Klassenpolitik. Was wird da verbunden? Und wie sieht dementsprechend für dich die Arbeiterklasse von heute, das Subjekt der »neuen Klassenpolitik« aus?

Riexinger: Das Definitionskriterium ist nach wie vor die Lohnabhängigkeit. Die Arbeiterklasse – oder richtiger: ArbeiterInnenklasse ist heute in Deutschland so groß wie nie zuvor. Und sie ist zunehmend weiblich, mi­gran­tisch – dazu zählen auch die Flüchtlinge –, mehr in der Dienstleistung beschäftigt, gleichzeitig haben immer mehr Abitur gemacht oder studiert. Vor allem aber ist sie prekär. Einige dieser Entwicklungen sind gar nicht so neu, sondern auch historisch feststellbar. Leider ist die ArbeiterInnenklasse auch gespalten. Dieser Spaltung müssen wir eine verbindende Klassenpolitik entgegensetzen: Kernbeschäftigte und LeiharbeiterInnen müssen sich gemeinsam für die Übernahme in die Stammbelegschaft engagieren, Unbefristete und Befristete für Entfristungen kämpfen, Erwerbslose, geringfügig Beschäftigte und Vollzeitbeschäftigte für eine neue Verteilung der Arbeit.

Die Diskussion um eine »neue Klassenpolitik« – in vermeintlicher Konkurrenz zu einer »Identitätspolitik« – zieht weite Kreise sowohl in den linken Bewegungen als auch in der Partei Die Linke. Wie nimmst du diese Diskussion und die daraus entstehenden Konflikte wahr?

Riexinger: Vielleicht konnte man in den 1990ern von einer solchen Begriffskonkurrenz sprechen, aber heute finde ich das absolut unzeitgemäß. Eine Lohnabhängige kann schließlich Muslima sein oder lesbisch oder beides. Eine Linke, die sich berechtigt so nennt, kann das nicht ignorieren. Aufgabe der Linken ist es nicht, den Einsatz für Minderheiten gegen die Klassenfrage auszuspielen, sondern die Emanzipationskämpfe der Menschen zu unterstützen. Wer in der Migration eine Konkurrenz befürchtet, muss nicht gegen die Migration kämpfen, sondern für gesetzliche Mindestlöhne, Tarifverträge für alle, den Ausbau der So­zialsysteme und öffentliche Daseinsfürsorge.

Der Begriff der »neuen Klassenpolitik« kam nach dem Erscheinen von Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« auch in die Diskussion durch die Wahlerfolge der AfD. Die Wählerwanderung zur AFD ist zwar aus der Partei Die Linke weniger immens als bei anderen Parteien, nichtsdestotrotz bereitet sie Sorgen. Ist es das Soziale, das die Wählerschaft dorthin wandern lässt? Was lässt sich dagegensetzen?

Riexinger: Ja, es ist sicherlich auch das Soziale. Man kann das aber nicht darauf reduzieren. Es gibt ja schließlich auch ältere Umfragen, die ein latentes Potential an rassistischem Denken bei etwa 15 Prozent der Bevölkerung diagnostizieren. Und eine Tendenz zu autoritären Lösungen findet man durchaus auch bei GewerkschafterInnen oder bei Linken. Das hat ja etwa Björn Höcke zu der Aussage geführt, die neue Arbeiterbewegung sei nicht mehr rot, sondern blau. Er und die AfD machen aus dem Konflikt zwischen Oben und Unten einen Konflikt zwischen Innen und Außen. Lösungen hat die AfD dagegen nicht anzubieten. Im Gegenteil kann man im Bundestag beobachten, dass die AfD bei der Debattierung sozialer Verbesserungen grundsätzlich am konsequentesten dagegen stimmt. Es ist wichtig, genau das immer wieder gegen Stammtischparolen zu betonen, um den Kampf gegen rechts aufzunehmen.

Bei der #unteilbar-demo in Berlin am 13. Oktober 2018 waren 240.000 Menschen. War das eine aktuelle Form von außerparlamentarischer Klassenpolitik und wo sieht sich die Linke als Partei in diesen Bewegungen?

Riexinger: Bei #unteilbar hat die LINKE mit 6.000 Menschen den bei weitem größten Block gestellt, SPD und Grüne hatten gemeinsam vielleicht einen Block von 3.000 Teilnehmenden. Ja, ich denke, bei dieser Demonstration hat sich eine verbindende Klassenpolitik gezeigt, das hat man an der Vielfalt der Teilnehmenden gesehen: Queerfeministische Organisationen, antirassistische Bewegungen, MieterInnen-Organisationen, Engagierte gegen Wohnungsnot, Verdrängung oder Pflegenotstand und Streikende von Ryanair kamen da zusammen. Gegen Rassismus und für soziale Gerechtigkeit sind Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften und Wohlfahrtsverbände, WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen gemeinsam auf die Straße gegangenen. Das gab es bislang noch nicht. An diesen Erfolg wollen wir anknüpfen!

Kommen wir zu dem Vorschlag für ein Neues Normalarbeitsverhältnis. Die Forderungen als solche wirken alle plausibel, allerdings kaum durchsetzbar angesichts der aktuellen Machtverhältnisse. Wie kommen wir dahin?

Riexinger: Ich finde die Punkte gar nicht so undurchsetzbar. Wenn wir das etwa mal mit dem ebenfalls breit diskutierten Bedingungslosen Grundeinkommen vergleichen, dann sind diese Punkte viel leichter durchzusetzen. Aber natürlich haben wir keine entsprechenden Mehrheiten in diesem Land. Diese Forderungen gesellschaftsfähig und hegemonial zu machen, ist auch Aufgabe der Gewerkschaften. Und die Tarifverhandlungen der vergangenen Jahre – etwa die Thematisierung der Personaldeckung im Charité-Streik oder auch die Möglichkeit der Arbeitszeitreduzierungen in den letzten IG Metall-Verhandlungen – weisen in eine entsprechende Richtung. Dabei setzen die Gewerkschaften ja vermehrt auf Organizing und auch wir haben uns, z.B. in der Pflegenotstand-Kampagne, vermehrt Community-Organizing-Methoden zugewandt, vor allem in sozial »problematischen« Stadtvierteln. Die Kampagne gegen den Personalnotstand im Krankenhaus ist dafür ein gutes Beispiel. Gesundheitsminister Spahn musste bereits erste Zugeständnisse machen, weil Druck entstanden ist. Das macht Mut.

Gerade den Community-Organizing-Ansatz finde ich sehr spannend, weil ich ihn für mein eigenes Viertel, medial als »No-Go-Area«, verschrieen, nachahmenswert finde. Aber sowohl, wenn ich mir entsprechende Initiativen vor Ort anschaue, als auch wenn ich an Bemühungen zurückdenke, die Bewegungslinke zum Organizing zu motivieren, habe ich eher die Erfahrung gemacht, dass diese Art des Engagements aufgrund des Arbeitsaufwands abschreckt.

Riexinger: Da haben wir genau umgekehrte Erfahrungen gemacht. Gerade junge Leute sind sehr interessiert daran, diese Ansätze kennenzulernen und auszuprobieren. Wir hatten spannende Seminare mit OrganizerInnen aus den USA, z.B. von der Working Families Party. Erst kürzlich haben wir eine umfangreiche Schulung durchgeführt. Entsprechend haben wir einige Pilotprojekte in sogenannten Problemvierteln gestartet, unter anderem in Plattenbauvierteln in Berlin-Neukölln. Dort stellen die Leute zum ersten Mal fest, dass sich wirklich jemand für sie interessiert. Und der Erfolg ist messbar: Wo Community Organizing stattfand, hat sich der Stimmenanteil für die LINKE entsprechend erhöht.

At last, etwas polemisch: Ist die LINKE eine Arbeiterpartei?

Riexinger: Den Begriff der Arbeiterklasse, wie ich ihn beschrieben habe, vorausgesetzt: Ja. Viele neue Mitglieder der LINKEN leben zwar in Groß- und Universitätsstädten, sind jung und urban, aber sie sind überwiegend erwerbstätig, überdurchschnittlich in sozialen und pflegerischen Berufen, in kaufmännischen und IT-Berufen, aber auch in prekären Lohnabhängigkeiten. Viele haben einen akademischen Hintergrund, sind Arbeiterkinder und/oder Kinder von MigrantInnen. Das entspricht ja genau dem Wandel der Arbeitswelt. Natürlich sind wir nicht in dem Sinne »Arbeiterpartei«, das wir die Mehrheit der Arbeitenden repräsentieren würden. Aber unter aktiven GewerkschafterInnen sind vermutlich etwa 20 Prozent Mitglieder der LINKEN. Von unseren Themen und Forderungen sind wir ganz klar eine ArbeiterInnenpartei. Dabei ist ja auch der subjektive Faktor der Klassenbildung nicht zu unterschätzen: Die Klasse entsteht ja auch im Zusammenkommen und in gemeinsamen Kämpfen, nicht ausschließlich, aber vor allem in Streiks. Und unter den ArbeiterInnen, die entsprechend aktiv sind, ist unsere Basis prozentual noch entsprechend höher. In Streiks wird miteinander geredet – hier entsteht die reale Verbindung in der Klassenpolitik.

Vielen Dank für das Gespräch!

Anmerkung:

1    Das Supplement zu Sozialismus Heft 9/2017 ist nicht mehr erhältlich, aber online als pdf abrufbar: https://www.sozialismus.de/fileadmin/users/sozialismus/pdf/Supplements/Sozialismus_Supplement_2017_09_Riexinger_Becker_NAV.pdf externer Link

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=141803
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