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Martin Dieckmann

Opfer fordern keine Opfer

Redebeitrag auf der Friedenskundgebung in Hamburg am 16. September 2001

In einer solchen Situation, jetzt, da wir noch unmittelbar unter dem Eindruck der Bilder aus New York stehen, ist es sehr wichtig, bei den eigenen Gefühlen zu bleiben - und zugleich so klar und nüchtern wie möglich bei der kritischen Vernunft der Analyse. Das Eine mit dem Anderen zu verwechseln, ist verhängnisvoll. Nichts wäre falscher, als die Vernunft durch die Gefühle zu ersetzen, in einer emotional hoch aufgeladenen Situation zu glauben, aus dem Schrecken dieser Bilder heraus zum richtigen Handeln überzugehen. So wie die Feuerwehrleute in New York, die ich verstehen kann, wenn sie nach Rache rufen. Aber dieser Ruf nach Rache versetzt Menschen nur in einen Zustand extrem verstärkter Ersatzgefühle. Diese nehmen den Platz der Empathie, des Mitgefühls, ein. Und nicht weniger falsch ist es, wenn an die Stelle der eigenen Gefühle eine scheinbar kalte Vernunft rückt, jene "Coolness" der Generäle und Politiker. Aber auch wir, die Linken, müssen uns davor hüten, jetzt die enorme Verunsicherung der Menschen hier zu Lande wie in den USA mit der klaren politischen Analyse einfach nur "cool" zu konfrontieren. Nach dem Motto: Wir haben es ja gewusst, wir haben es euch doch gesagt. Denn wir haben es gewusst und wir haben es auch nicht gewusst.

Was mich beeindruckt hat in den vergangen Tagen und Tächten, das war die Selbstverständlichkeit, mit der die vielen jungen Menschen zu den verschiedenen Plätzen - zum Beispiel vor der US-Botschaft in Berlin - gezogen sind. Ich versuche die Ereignisse durch ihre Augen, ihre Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, meine Nichten und Neffen sind mehr als zwanzig Jahre jünger. Ich habe vor wenigen Tagen mit Auszubildenden gesprochen. Und ich habe da erst bemerkt, dass "New York" für diese jungen Menschen etwas ganz anderes ist als für mich. "New York" ist für sie ein Teil ihrer Lebenswelt, so wie es Amsterdam oder Paris für mich in ihrem Alter waren. Ich gehöre zu einer Generation, die den Krieg im eigenen Lande, als Einbruch in die eigene Lebenswelt, nicht mehr - und noch nicht - erlebt hatte. Für viele von uns war aber "Krieg" ein entscheidendes Motiv für das eigene politische Handeln, in der Auseinandersetzung mit der niemals wahrhaftig verarbeiteten Kriegserfahrung der Eltern, im Engagement gegen Hochrüstung und Kriege gegen und in der Dritten Welt. Aber "Krieg" war nie unsere eigene, persönliche Erfahrung. So haben wir - in der Entfernung zum wirklichen Kriegsgeschehen nach 1945 - es leichter gehabt, kühl und klar politisch zu analysieren. Diese jungen Menschen heute aber erleben sehr früh, wie der Krieg mitten in ihre Lebenswelt einbricht. Und wie reagieren sie? So, dass erstaunlich viele von ihnen auf sehr ehrliche Weise ihr Gefühle - Mitgefühl - artikulieren und dies, wie selbstverständlich, zugleich mit der Sorge vor eskalierenden kriegerischen Auseinandersetzungen. Kann man ihnen leichthin sagen: Wo ward ihr, als Bagdad, Belgrad bombardiert wurden? Könnten wir uns unserer scheinbar klaren politischen Überzeugung so sicher sein, wären wir in ihrem Alter mit solchen Erfahrungen wie dem New Yorker Massaker konfrontiert worden?

Diesen Menschen gegenüber haben wir eine Verantwortung - wir müssen jetzt all die politischen Analysen, über die wir verfügen und die wir zu verbessern haben, zur Aufklärung bringen. Aber dazu müssen wir bei uns selbst viel ändern. Zum hundersten Mal könnten wir dem Ritual verfallen und den Imperialismus anklagen. Und wir fänden dann niemals den Zugang zu denen, die ein Leben vor sich haben, dem noch viel mehr von diesem Schrecken droht. Wenn es darum geht, bei sich zu bleiben - also bei den eigenen Gefühlen und zugleich der klärenden, kritischen Vernunft -, dann geht es auch um die Sprache, in der wir uns mitteilen. Wir selbst müssen sprechen, wir selbst, so, wie wir selbst diese Tage erlebt haben und erleben. Wir selbst, die schon viel wussten, aber das, was sich ereignet hat, in dieser Form und Gestalt nicht haben erahnen können.

Denn dieses Massaker war kein Befreiungsschlag gegen den Imperialismus, es ist eine extrem reaktionäre Aktion von extrem reaktionären Kräften gewesen. Deren Inhalte prägen auch die Form dieser Aktion, deshalb sieht der Schrecken so schrecklich aus. Wie auch immer wir die Täter und ihre Organisationen nennen wollen - ob Fundamentalisten, Islamisten, egal, in keinem Fall aber: Moslems! -, es handelt sich um Kräfte, deren Ideologie und Praxis schon vom Ausgangspunkt her eine radikale Enteignung aller sozialen und politischen Freiheitsbedürnisse der Menschen im Nahen Osten und anderswo darstellt. Enteignung deshalb, weil hier zugespitzte soziale und politische Gegensätze umgedreht werden in rassistische Haltungen. Kräfte, deren Kampfziele "Kreuzritter und Juden" sind, und die den Anstrengungen für ein Ende der Gewaltherrschaft und für eine freie Gesellschaft weiter den Weg versperren. Der "Gegenschlag", nach dem jetzt so laut gerufen wird, wird die Situation noch gefährlicher machen, weil er die Sprache dieses reaktionären Anschlags spricht. Dieser "Gegenschlag" wird noch mehr Opfer fordern. Aber Opfer fordern keine Opfer.

Ich habe gesagt, wir haben eine Aufgabe darin, ohne die eigenen Gefühle durch scheinbare Coolness zu ersetzen, den Menschen hier unsere politischen Analysen zu vermitteln. Also Aufklärung, damit aus dem Willen zum Tun auch ein richtiges Handeln folgt. Ich kann und will hier nicht in der notwendigen Ausführlichkeit darüber sprechen, welche Entwicklungen in grausamer Folgerichtigkeit zu jetzigen Situation geführt haben. Ich möchte dies nur an selbst erlebten Situationen schildern, begonnen vor zehn Jahren, im ersten Golfkrieg - endend mit der Zeit vor dem New Yorker Massaker. Seit mehr als der Hälfte meines Lebens beschäftige ich mich intensiv mit den Entwicklungen im Nahen Osten. 1989, als die Mauer in Berlin fiel und mich Kollegen glücklich umarmten und ich auch den Menschen im Osten alles Glück wünschte, ahnte ich - zusammen mit einigen politischen Freunden - einen kommenden Krieg. Wir, das waren Menschen, die sich mit dem Nahen Osten beschäftigten, insbesondere mit der Intifada, dem palästinensischen Aufstand gegen die israelische Besatzungspolitik. Alles in der Region dort und vor dem Hintergrund der neuen Weltpolitik sprach dafür, dass es Krieg geben würde. Wir wussten nicht, von wem er ausgehen würde. Aber wir ahnten, dass es Krieg geben würde - es wurde der Golfkrieg 1991, gegen den Irak.

In diesem Krieg waren wir täglich in Gedanken und Gefühlen bei unseren politischen Freunden, jüdischen Israelis und Palästinensern aus der radikalen, demokratischen Linken, die dort in gemeinsamen Projekten arbeiteten. Wie hätten wir Mitgefühl trennen können nach Täterland und Opferländern? Wie hätten wir die Solidarität mit Menschen trennen können von der Klarheit der politischen Analyse? Dieser Krieg vor zehn Jahren sollten nach den Worten des damaligen US-Präsidenten, des Vaters des jetzigen Bushs, eine "Neue Weltordnung" begründen sollen. In Wahrheit ist diese erneut zum Krieg geworden, der jetzt zurück gekehrt ist - und nicht die Weltmacht angreift, sondern Menschen in New York tötet. In diesen zehn Jahren ist duch fortgesetzte Demütigung, Bruch von Vereinbarungen, durch Entrechtung der Menschen zum Beispiel in den besetzten Gebieten Palästinas, und durch Krieg gegen Wohngebiete der soziale und politische Konflikt weiter scharf gemacht worden. Mit welcher Leichtigkeit konnte so der berechtigte Kampf für Freiheits- und Menschenrechte von reaktionären Kräften enteignen werden! Und wieder saßen wir zusammen, zehn Jahre nach dem Golfkrieg, die verdammt nüchterne Analyse zeigte uns in immer neuen Variationen nur ein und dieselbe Schlussfolgerung: dass es Krieg geben würde. Wie nach 1989 wussten wir nicht, von wem er ausgehen würde. Dass er auf diese Weise einschlagen würde, haben wir nicht ahnen können.

Was zeigt das? Dass es nicht stimmt, dass dies völlig aus dem Nichts geschehen ist. Schon 1991 rief man vom Irak aus dazu auf, den Krieg zurück in die Hauptstädte des "Westens" zu tragen. Man hat aber nicht mehr dorthin geschaut, wohin vor zehn Jahren der Krieg geschickt wurde. Der Schock jetzt ist lähmend, aber in der momentanen Erstarrung liegt auch eine Chance. Denn plötzlich, wie durch einen kurzen grellen Blitz, ist die ganze Welt ausgeleuchtet. Menschen, die nie etwas anderes wahrgenommen haben, als ihre unmittelbare Lebenswelt, auch nie ein anderes New York als diese begeisternde Stadt, - sie alle sehen nun in diesem Moment die Welt, zu der die Weltmächte und die regionalen Kriegsparteien sie gemacht haben. Die Propagandawelle rollt an, die Bilderflut, mit der dieser Blick in die Welt überspült wird. Wir müssen diese Chance nutzen und durch das, was wir zur Aufklärung beitragen können, das kleine Fenster zur Welt weiter öffnen. Wenn wir dabei bei uns bleiben, wenn wir nicht die Gefühle durch die Gedanken und die Gedanken nicht durch Gefühle ersetzen, können wir hoffen, dass gerade diese jungen Menschen ihre Trauer nicht in blinde Wut verwandeln, sondern in einen Friedenswillen, der den Widerstand gegen die Eskalation des Krieges stark macht.

Martin Dieckmann ist Fachgruppenleiter beim ver.di-Bundesvorstand und Mitglied von "REGENBOGEN - für eine neue Linke"


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