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Updated: 18.12.2012 15:51
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"Frontbericht" aus Strasbourg: Die NATO-Gipfelstadt im Ausnahmezustand

Foto: Bernard SchmidDie Einwohner/innen der Elsassmetropole Strasbourg waren vergangene Woche, anlässlich des Jubiläumsgipfels der NATO in ihrer Stadt, einer regelrechten Belagerungssituation unterworfen. Die Polizei erprobte offenkundig eine Form der "Strategie der Spannung": die Verrücktesten unter den "Randalierern" und Polit-Hooligans ungestört ihr Werk verrichten lassen, und zur selben Zeit die Masse der Demonstrierenden angreifen! Die Demo litt zudem an einem seriösen Mangel, nämlich den an einem tauglichen Ordnungsdienst, u.a. wohl aufgrund der schwachen Präsenz der französischen Gewerkschaften. - Während mehrere Gebäude (äußerst sinnlos) in Flammen aufgingen, warfen die "Sicherheits"kräfte von Hubschraubern aus Tränengas in die Menge. Auflösungserscheinungen und Chaos prägten zeitweise die Demonstration. Die Berichterstattung am Tag danach wird durch die "Gewalt"frage dominiert...

Foto: Bernard SchmidSamstag, o4. April 2009. Um die Mittagszeit erfahren wir im Stadtzentrum von Strasbourg: Keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren heute! Eine der vielen Auflagen und Schikanen, die in den letzten Tagen die Einwohner/innen der ostfranzösischen Metropole ebenso wie die Zugereisten treffen: Nach dem Aussetzen aller Zugverbindungen von und nach Deutschland (stattdessen verkehren Ersatzbusse, die aber durch die Polizeikräfte nach Belieben aufgehalten werden) in den letzten 48 Stunden, der Einrichtung von No-Go-Areas in Gestalt der so genannten "roten" und "orangefarbenen" Zonen ist dies nur ein weiteres Glied in einer Kette wahnwitziger "Sicherheits"maßnahmen.

Die Militarisierung der Stadt

Foto: Bernard SchmidVon 40.000 Einwohner/inne/n der farblich markierten Zonen wurden zahllose personenbezogene Daten erhoben, einige von ihnen durften ihre Wohnung nicht ohne einen telefonischen Anruf bei den "Sicherheits"organen und nur mit triftiger Begründung verlassen. Mehrere Bewohner in höheren Stockwerken gelegener Wohnungen mussten diese gar ganz räumen, um dort positionierten Scharfschützen Platz zu machen. Überwachungskameras wurden zu Hauf' installiert und rund 40.000 Polizisten, deutsche und französische, mobilisiert. Der in Strasbourg lehrende Hochschulprofessor für Soziologie, Roland Pfefferkorn, übertitelte einen Beitrag für die südfranzösische kommunistische Wochenzeitung ,La Marseillaise' - der diesen Donnerstag erscheinen wird - deshalb: "Eine Stadt als Geisel genommen."

Foto: Bernard SchmidFür eine Dauer von 14 Tagen wurde das Schengen-Abkommen (zum freien Personenverkehr innerhalb der EU, zwischen den Beitrittsländern zu dem Abkommen) außer Kraft gesetzt, um wieder Personenkontrollen an der deutsch-französischen Grenze durchführen zu können - ähnlich wie etwa beim EU-Gipfel im Dezember 2000 in Nizza an der französisch/italienischen Grenze. Ein deutsches Demonstrantenpäarchen aus Konstanz erzählt mir, die beiden hätten einen Umweg von über 100 Kilometer über Freiburg und Colmar fahren müssen, um sich Strasbourg und Colmar nähern zu können: "Beim ersten Anlauf wurden wir aufgehalten, nicht durchgelassen und nach Hause geschickt. Wir hatten eine dritte Person im Auto, die angeblich wegen ,Gewalt gegen die Polizei' in den Polizeidateien gespeichert war. Alles Unfug, der Mensch wartet lediglich auf ein Bagatellverfahren wegen einer harmlosen Rangelei, in die er verwickelt wurde: Die Polizei kam hinzu, als er versuchte, sein eigenes Fahrrad zu <stehlen>, weil er den Schlüssel verloren hatte - was die Beamten nicht unmittelbar einsehen konnten. Die ganze Sache wird sich alsbald aufklären. Aber wir mussten deshalb nach Konstanz zurückfahren und zu zweit wieder losfahren, um letztendlich über einen riesigen Umweg nach Strasbourg zu gelangen..." Später erfahre ich über Freunde in Köln, dass ein ganzer Sonderzug aus NRW nicht durchkam und alle Insassen an der Grenze abgewiesen worden seien. 6.000 Demonstrierwillige aus Deutschland seien in Kehl blockiert worden.

Rauchsäulen am Horizont

Foto: Bernard SchmidDie Hoffnung, an diesem Samstagmittag mit der Straßenbahn zur Endhaltestelle Aristide-Briant fahren und von dort in circa 20 Minuten zum Auftakt der Großdemonstration an diesem Nachmittag gegen den NATO-Gipfel laufen zu können, hat sich also nicht erfüllt. Es bleibt nur, dorthin zu gehen, denn ein Taxi käme laut Auskunft auf 15 bis 20 Euro - das kommt nicht in die Tüte. Zudem dürfen auch Taxis nur eingeschränkt verkehren. Die Europabrücke zwischen Strasbourg und Kehl (auf der französischen bzw. deutschen Seite), wo die Großdemonstration um 15 Uhr loslaufen soll, ist rund sieben Kilometer entfernt.

Foto: Bernard SchmidWir gehen also los. Begleitet von einer kubanischen Journalistin, befinde ich mich in einem Pulk von Leuten, die auch aus Paris angereist sind; ungefähr zur Hälfte handelt es sich um Mitglieder Union syndicale Solidaires (SUD-Gewerkschaften), unter ihnen der prominent gewordene "Globalisierungskritiker" und Sozialaktivist Christophe Aguitton. Zur anderen Hälfte handelt es sich um Angehörige des ,Mouvement de la paix' (Bewegung für den Frieden), die historisch in der Zeit des Kalten Krieges besonders stark war und sich aus KP-Mitgliedern und -Sympathisanten, aber auch christlichen Aktivisten zusammensetzt. Die Leute vom ,Mouvement de la paix' sind eher mittleren und höheren Alters, ertragen aber die Strapazen des beginnenden Fußmarschs erstaunlich gut.

Foto: Bernard SchmidNach fast einer Stunde Fußweg bei 20 Wärmegraden - einen von Grün umsäumten Rheinarm entlang, an zahllosen Spaziergängern und Fahrradfahrern vorbei, aber auch an abgestellten Autos, die Anreisende von Zentralfrankreich bis nach Frankfurt am Main verraten - erreichen wir das Quartier Neudorf. Eine ganz hübsche, angenehme Wohngegend eigentlich, nicht protzig wohlhabend wie manche andere Teile von Strasbourg, aber auch nicht heruntergekommen, voll von kleinen Läden und Kneipen. Die Zahl der herbeiströmenden Demonstranten wächst, nunmehr überwiegen - zeitweilig - zum ersten Mal die offenkundig aus Deutschland kommenden Menschen. Eine Reihe von Leuten tragen schwarze Pappschilder mit der Aufschrift "Nein zur NATO", unterzeichnet: "Die Linke". Andere tragen Transparente von deutsch-türkischen (oder -kurdischen) Organisationen. Ich begegne auch drei Menschen, die ich von der Vorbereitung der Antimilitarismustagung im Oktober vorigen Jahres im Berliner Mehringhof kenne. Dann ist der größere Pulk deutschsprachiger Demonstranten vorübergezogen, und gleichzeitig beginnt der Himmel sich zu verfinstern.

Foto: Bernard SchmidSeit längerem sehen wir am Horizont Rauch aufsteigen, von dem wir erst nicht wussten, ob er mit dem heutigen Mobilisierungstermin und der Demo irgend etwas zu tun. Jetzt aber verdichtet der Rauch sich zu einer dicken, allmählich stinkenden Säule am Horizont. Da niemand etwas darüber weiß, auch die befragten Anwohner nicht, hole ich mir telefonisch Auskunft bei Menschen, die zu Hause in Paris am Computer sitzen. Google News hilft: "Gewalttätige Demonstranten", wird mir vorgelesen, "haben sich an die Spitze gesetzt und hauen alles kaputt. Was da brennt, ist ein Zollhaus zwischen Deutschland und Frankreich." Laut der Homepage des Kabelfernsehsenders LCI. Ein Zollhaus? Mutmaßlich ein altes, vielleicht leer stehendes, vermute ich (übrigens richtig), denn im Prinzip gibt es ja gar keine Grenzkontrollen mehr. Außer eben an Tagen wie diesem...

Foto: Bernard SchmidIch rufe noch weitere Menschen an, auch solche, die vor einem deutschen Radio oder Fernsehgerät sitzen könnten, mir aber auch keine nähere Auskunft zu erteilen vermögen. Einen der Umstehenden höre ich etwas von einem "Hotel Ibis" sagen, das da brennt, kann es aber nicht zuordnen. Wir schreiben etwa 14.30 bis 14.45 Uhr. Der Rauch steht inzwischen schwarz über uns und verhängt fast den ganzen Himmel, er weht von der Seite der "Europabrücke" und der Grenze her zu uns herüber. Die Entfernung dorthin beträgt laut Ortskundigen rund zwei Kilometer. Um uns herum stehen zahlreiche Polizeibusse, ein Räumpanzer und mit Schilden bewehrte Einheiten. Ein wenig weiter weg stehen Jugendliche aus dem Stadtteil - Neudorf -, ein paar spielen dicht hinter der Szene in einem Straßengraben Fußball, andere beobachten neugierig die Szene.

Foto: Bernard SchmidWir gehen ein Stückchen weiter, wo die Auffahrt zu einer Brücke beginnt. Es ist noch nicht die Europabrücke, sondern jene Brücke, die in das alte Hafengebiet von Strasbourg führt - das auf einer von Rheinarmen umgebenen Insel liegt. Jenseits dessen liegt der Grenzübergang in Richtung Kehl. Der Rauch wird bei b end und erschwert allmählich das Atmen. Die umstehenden Leute meinen, er sei mit Tränengas durchmischt, einige waschen sich die Augen aus. Ein Handverkäufer der Tageszeitung ,junge Welt', ein wohl über 50jähriger mit bayerischem Akzent, meint zu uns: "Was da brennt, sind Computer in einem Fremdenverkehrsbüro, die brennen lange. Daher der ganze schwarze Rauch, der sich aus dem Plastik entwickelt." Auf seiner Höhe stoßen wir auf eine Reihe der französischen Bereitschaftspolizei (CRS), die quer über die Straße zur Brücke aufgestellt ist. Sie hindern uns nicht am Weitergehen, aber bedeuten uns, dass wir die dahinter liegende Zone "auf eigene Gefahr betreten. Jetzt müsst Ihr Euch entscheiden, ob Ihr vorwärts oder zurück wollt, wir machen hier nämlich zu." Es sieht nach einer Mausefalle aus. Nach kurzem Zögern entscheiden wir uns dennoch, weiterzugehen. Einige Demonstranten bleiben zwar zurück, aber viele gehen ebenfalls noch durch die Absperrung, bevor diese auf ein Tor verengt und dann abgeriegelt wird. Wir sehen und hören direkt hinter uns Polizisten, die mit schweren Hämmern Absperrgitter mit Riegeln auf den Asphalt rammen und befestigen. Zunächst lassen sie noch eine schmale Öffnung frei. Ständig kreisen zwei, später dann vier Helikopter über unseren Köpfen.

Foto: Bernard SchmidEs ist vielleicht 15 Uhr, und die Situation lässt sich nur mit den Vokabeln "Ungewissheit" und "Nervosität" beschreiben. Wir gehen über die Brücke geradeaus weiter, in Richtung auf die schwarze Rauchsäule zu, die inzwischen aus zwei unterscheidbaren dunklen Kolonnen besteht. Nach einigen hundert Metern und während es bergab auf die Inselfläche geht, sehen wir in kurzer Entfernung von uns eine Demonstration auf uns zulaufen. Zunächst einen kurzen Abschnitt, aus dem dann ein immer längerer Bandwurm wird. Sie läuft uns entgegen und biegt dann, von uns aus gesehen, nach links ein. Eigentlich, ja eigentlich hätte zu diesem Zeitpunkt hier gar keine Demonstration entlang laufen sollen. Aber wir erhalten rasch Aufklärung, als wir inmitten der ziemlich durcheinander laufenden Demonstrantenmenge Alain B., einen befreundeten marxistischen Philosophielehrer aus dem Elsass, begegnen. Alain erzählt uns: "Die Menge, die zur Auftaktkundgebung erschienen war, wartete am Fuße der Europabrücke auf die Demonstration. Dort war eine Rednertribüne aufgebaut. Doch als es sichtbar zu brennen anfing, wurde die Menge angegriffen und mit Tränengas beworfen. Daraufhin setzte sich der Demozug in Bewegung, viel zu früh und in entgegengesetzter Richtung, als ursprünglich geplant war. Zum Glück wurde ein heftiger Zusammenstoß vermieden. Das hatte böse ins Auge gehen könne: Die Menge lief plötzlich auf eine CRS-Einheit zu, die zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht mit ihrem Auftauchen gerechnet hatte. Die Männer saßen in den Mannschaftsbussen und ahnten zuvor nicht, dass es gleich losgehen würde. Sie hätten auch mit Panik reagieren, und das Ganze hätte übel enden können. Ein Glück, dass diese Abteilung einen Kommandanten hatte, der ruhig Blut bewahrte und die Situation rettete: Er stellte für jeden Mannschaftsbus einen Mann, mit Knüppel bewaffnet, nach drau b en ab und lie b die übrigen in den Fahrzeugen sitzen. Wir konnten ruhig an ihnen vorbeiziehen. Aber das hätte auch ganz anders verlaufen können..."

Andere Zeugen berichten später übereinstimmend, dass die Menge zuvor unterhalb der Europabrücke attackiert und deshalb überstürzt aufgebrochen war. Renée Le M., ein Mitglied im vierköpfigen Vorsitzendenkolleg der Antirassismusbewegung MRAP - einer größeren französischen NGO - berichtet, sie habe sich zu diesem Zeitpunkt in der Nähe der Rednertribüne unterhalb der Europabrücke befunden: "Ich war in der Nähe der Leute vom ,Mouvement de la Paix', die nun wirklich als <ungefährlich> eingestuft werden können. Zunächst rasten ungefähr zehn CRS-Mannschaftsbusse in Gegenrichtung zur Aufstellungsrichtung der Menge, mit Blaulicht und in Hochgeschwindigkeit, quer durch die Menge. Die Busse waren leer bzw. mit nur einem Mann besetzt, fuhren also offenbar nicht zu einem Einsatz. Dann kam es zu verstärkten Angriffen. Aus Helikoptern wurden Tränengasgranaten auf uns abgeworfen. Die Leute flüchteten in Panik."

Im Hafenviertel

Foto: Bernard SchmidDie Demo ist bunt gemischt: kongolesische Opponenten, die gegen die Beteiligung der westlichen Großmächte an Kriegen und Massakern in ihrem Land protestieren; Studierendenverbände; die deutsche Partei DIE LINKE; die französische "Neue Antikapitalistische Partei" (der NPA); vereinzelte Grüne; die Frauenorganisation "Egalité"... Einige Menschen von ATTAC, andere mit fantasievoll selbst entworfenen Schildern und Transparenten. Eine im Elsass ansässige, marxistisch-leninistische Gruppe verbreitet ein Flugblatt, auf dem Männer in SS-Uniform zu sehen sind, mit der Aufschrift: "Verpflichte Dich... für Afghanistan". Ich finde den historischen Vergleich daneben und die SS verharmlosend, stecke die Papiererzeugnisse aber schweigend ein. In dem hektischen Zug sind die Transparente nur zum Teil entrollt, nicht alle sind gut lesbar. Der Demozug macht einen Knick, wendet sich um 90 Grad und führt quer über die Hafeninsel. Vorbei an einem auffälligen alten Postamt, das noch aus der Bismarck-Ära stammt (als Strasbourg/Straßburg zum Deutschen Reich gehörte) und von einem schönen Turm verziert wird, und einer zugemauerten alten Bierkneipe. Man erkennt diese Örtlichkeiten vom Zugfenster aus, wenn man von Strasbourg nach Süddeutschland fährt. Nach vielleicht einem knappen Kilometer kommt der Zug wieder zum Stehen. Wir sind fast auf der anderen Seite der Hafeninsel. Rechts vor uns ist inzwischen erkennbar eine unterscheidbare graue Rauchsäule, unabhängig vom schwarz hervorquellenden Qualm etwas weiter links im Hintergrund, auszumachen. Wie sich alsbald herausstellen wird, handelt es sich um das Ibis-Hotel im Hofenviertel, das brennt.

Vorne befindet sich ein Lautsprecherwagen der CGT, einige der wenigen Manifestationen gewerkschaftlicher Präsenz in der Demo, sieht man von den kleinen Gruppen der SUD-Gewerkschaften und einigen Angehörigen der FSU (größte Lehrergewerkschaft) absieht. Generell hatten die meisten französischen Gewerkschaftsverbände es im Vorfeld verweigert, den Aufruf von 60 Organisationen zum Protest gegen den NATO-Gipfel zu unterzeichnen, und die CGT hatte ihre anfänglich scheinbar gegebene (aber auf einem Missverständnis beruhende) Unterschrift sogar zurückgezogen. "Zu unmittelbar politisch." Örtlich sieht es aber oftmals anders aus, wo engagierte Gewerkschafter/innen tätig sind.

Vorrücken oder nicht?

Der Demozug kommt zum Stehen, für längere Zeit. Zusammen mit der kubanischen Journalistin hatte ich mich zwischenzeitlich bis an die Spitze nach vorne durchgearbeitet. Mehrere mit Schilden ausgestattete CRS-Einheiten versperren die Route. Eine Delegation der Organisatoren und, anscheinend, der CGT führt kurze Gespräche mit der Einsatzleitung, die daraufhin ankündigt, ihre Kräfte von der Stelle zurückzuziehen und die Route für die Demonstration zu öffnen. Es dauert einige Minuten. Ein vielleicht 55- oder 60jähriger, beleibter Mann - offenkundig ein Demonstrant - tritt vom Trottoir auf der Seite her auf die Straße, baut sich in ihrer Mitte unmittelbar vor den Polizisten auf und zieht sich splitternackt aus. Seine Klamotten und Schuhen behält er in der Hand. Die vorderen Reihen applaudieren, er tritt wieder zur Seite. Nach kurzer Zeit geht der Demonstrationszug weiter, die Mannschaftsbusse der CRS ziehen sich tatsächlich zurück. Aber nur um etwa 200 Meter. Danach kommt der Zug wieder ins Stocken und alsbald zum Stehen.

Wir sehen nicht weit vor uns eine Eisenbahnlinie und eine Brücke mit einer sehr kleinen Unterführung, auf ihr sind CRS-Einheiten stationiert. Dahinter sind nach kurzer Zeit deutlich erkennbare Löscharbeiten zu beobachten: Man sieht einzelne Feuerwehrleute aus ihren Schläuchen einen Wasserstrahl auf das gräulichen Qualm entwickelnde, ausbrennende Hotel spritzen. Wie sich nachher auf der anderen Seite der Brücke herausstellt, sieht man von hier aus nur jeweils den Feuerwehrmann, der auf der Spitze der Leiter auf der Höhe des fünften (und obersten) Stockwerks des Hotels steht.

In Pressemeldungen wird es später heißen, dieses Hotel habe ab circa 14.30 Uhr in Flammen gestanden, was sich ungefähr mit dem Zeitpunkt deckt, als ich unter den sich sammelnden Demonstrationsteilnehmern erstmals die Worte "Hotel Ibis" aussprechen hörte. Was aber auch bedeutet, wie mein Strasbourger Freund Roland kalkuliert, "dass in dem Hafenviertel mindestens anderthalb Stunden vergangen sind, ohne dass irgendwelche <Ordnungshüter> eingegriffen hätten". Er hatte sich zufällig um die Mittagszeit - beim Warten auf eine Verabredung - in räumlicher Nähe jener Gruppen von einigen Dutzend Schwarzvermummten befunden, die darauf und dran gingen, Feuer zu legen; bevor er es vorzog, sich (laut eigenen Worten mit dem Gedanken "Das wird übel enden" im Kopf) rasch zu entfernen. Roland meint, er habe die Schwarzvermummten überwiegend Deutsch sprechen hören. - Anderthalb Stunden lang hatten vermummte Brandstifter, ob es sich nun um sich selbst für geniale Rrrrrevolutionäre handelnde Menschen, Autonome oder aber (wie manche Anwesenden alsbald mutmaßen) um bezahlte respektive o. unbezahlte Provokateure oder sonst wen handeln möge, in aller Ruhe im Hafenviertel schalten und walten können. Die Stadt ist mit Polizei überzogen, es befinden sich rund 40.000 Beamte, sieben Helikopter, sechs Aufklärungsflugzeuge vom Typ AWACS, französische CRS-Einheiten mit CS-Gaspatronen und Gummigeschossgewehren, deutsche Wasserwerfer (mit Aufschrift "H III") undundund... im Einsatz. All dieses Arsenal bekommen wir im Laufe dieses Samstag Nachmittag noch zu sehen.

Die These von den "bezahlen oder objektiven Provokateuren" wird alsbald die Runde machen. Doch mal sollte mit solchen Mutmaßungen äußerst vorsichtig sein, zumal sie in der jüngeren Geschichte gar zu oft angestellt wurden - auch beispielsweise (chronisch) durch die französische oder italienische KP in der Vergangenheit, wenn es darum ging, links von ihnen stehende und radikaler agierende Kräfte blitzschnell als "Agenten der Bourgeoisie" abzuqualifizieren. Insofern hat die Provokateursthese eine ungute historische Tradition. Allein, es GIBT tatsächlich Provokationen und Provokateure, und bisweilen ergibt dies ja aus Sicht eines Sicherheits- und Repressionsapparats ja auch Sinn. Auch ohne bewusst als solche handelnde ,Agents provocateurs' scheint es aber in dieser Demo Menschen gegeben zu haben, die ein solches Agieren befürworteten und "klasse" fanden. Kurz bevor die Demo auf der Insel zum Stehen kommt, spricht ein kleinwüchsiger, sehr junger Mann mich an. Er spricht Französisch, und ist vor Freude scheinbar au b er sich: "Heute haben wir es ihnen aber gezeigt! Sie wollten uns an der Bewegungsfreiheit hindern, und die Deutschen nicht herüberlassen. In ihrem Rücken (Anm.: auf der französischen Seite der Grenze) haben wir angefangen, es lodern zu lassen. Das Zollhaus, undund. Drei Mannschaftsbusse haben wir abfackeln können, die drei letzten, als sie an uns vorüber fuhren. Davon reden sind sie nicht so viel im Radio. Jetzt spielen sie sich nicht mehr so stolz auf (französischer O-Ton: maintenant, ils font moins les fiers )!" Ich höre ihn mir nur kurz an, nicke kurz, und wende mich dann ab. Ein falsches "Trittbrettfahrer"bekenntnis, oder Hinweis auf reales Agieren von Leuten, die sich für radikal hielten? Man wird es nicht so schnell erfahren.

"Verräter, Kollaborateure"

An dieser Stelle kommt der Demozug für längere Zeit zum Halten, es ist 16 Uhr. Auf dem Lautsprecherwagen der CGT, der ganz vorne zum Stehen kam, werden verschiedene Durchsagen getätigt. Man lässt eine Bewohnerin des Stadtviertels zu Wort kommen, die selbst die Demonstration unterstützt, aber die im Hafenviertel angerichteten Verwüstungen mitbekommen hat. "Ich bin eine der Euren! Aber ich halte es für keine gute Idee, jetzt unmittelbar mit dem Demozug durch das Viertel (hinter der Brücke) zu ziehen. Besser wäre es, wenn erst eine Delegation mit den Bewohnern sprechen würde. Dort drüber liegt eines der ärmsten Stadtteile von Strasbourg, der lange Zeit durch die Stadtverwaltungen systematisch vernachlässigt worden ist. Die Leute dort sind nicht gegen die Demonstration, aber sie sind aufgebracht wegen dessen, was heute Mittag passierte. Das Feuer aus dem brennenden Hotel drohte auf andere Gebäude überzugreifen. Ein Nachbarhaus musste mit all seinen Bewohnern evakuiert werden. Wir betonen, dass wir die ersten Löscharbeiten und Evakuierungsmaßnahmen alle selbst durchführen mussten: Wir, Einwohner und Kommunalpolitiker aus dem Viertel. Die Feuerwehr benötigte unnormal lange, um zum Löschen anzurücken. Eine halbe Stunde lang, nachdem sie gerufen worden war, passierte gar nichts!"

Es wechseln sich daraufhin einige andere Durchsagen ab, auf Französisch, aber auch übersetzt auf Englisch und von wechselnden Leuten - darunter auch dem Verf. dieser Zeilen - auf Deutsch. Emissäre, die nach vorne losgeschickt worden sind, berichten, die Polizei habe angeordnet, die Straße vor uns (d.h. hinter der Eisenbahnbrücke) sei noch nicht passierbar, da die Feuerwehr noch mit Löscharbeiten beschäftigt sei. Tatsächlich kann man diese noch immer beobachten, und dichter grauen Qualm steigt weiterhin aus dem fünfstöckigen Hotel auf. Aus dem Lautsprecherwagen wird einerseits die Polizei dazu aufgefordert, die Demo durchzulassen, andererseits aber auch zur Bildung von Ketten im vorderen Teil des Zuges, um verantwortungslose Handlungen zu verhindern: "Macht Eure Polizei selbst!" Aber aus der Menge dahinter ertönen Rufe, die diese Aufforderung als Akt von Verrätern einstufen. Man hört unter anderem: "Collabos! Collabos!" (Kollaborateure) Die Polizei hatte lt. Lautsprecherdurchsage zunächst von "fünf Minuten" gesprochen, aber die Zeit zieht sich in die Länge. Auf der rechten Seite, in Zugrichtung, kommt es zu einem heftigen Gerangel: Auf dieser Demohälfte versucht eine Gruppe von Halbvermummten den Durchbruch. Sie schimpft auf "Kollaborateure der Polizei" und versucht die vorderen Reihen, wo sich inzwischen eine doppelte Kette gebildet hat, zu durchstoßen. Es kommt zu einem minutenlangen heftigen Gerangel. An den direkt darüber gelegenen Fenstern werden die Rollläden dicht verschlossen. Einige Meter weiter ringt und kämpft ein mediterran aussehender Mann, irgendwo im Alter zwischen 30 und 40, mit einem blauen Fußballschal mit mehreren Menschen, die wie Landsleute von ihm wirken. Seine Tasche wird dabei ramponiert. Daraufhin frage ich ihn, was denn los gewesen sei. In Französisch mit Akzent empört er sich darüber, dass man ihn und Andere daran hindere, durchzukommen und weiterzulaufen.

Die Zeit zieht sich noch weiter in die Länge, die angekündigten "fünf Minuten" werden utopisch. Vom Lautsprecherwagen aus wird davor gewarnt, weiterzumarschieren: "Ihr wisst nicht, was Euch hinter der Eisenbahnlinie erwartet! Dahinter stehen massive CRS-Einheiten! Lauft nicht in die Falle!" Die Beamten hatten sich zwar von der Höhe der Eisenbahnlinie zurückgezogen, stehen aber offenkundig dahinter stationiert. Da der Weg dorthin aber eigentlich frei ist, beschlie b e ich zusammen mit der kubanischen Journalistin, dort hinüber zu gehen. Wir laufen durch die Unterführung, wo mehrere dick vermummte junge Leuten auf den Stangen an der Stra b enseite sitzen, und kommen in eine schmale Straße. Diese gehört offenkundig zu den ärmsten Stra b enzügen, die Strasbourg aufweist - in Paris würde man eine solche Gegend nicht im Stadtgebiet, sondern in einer der Trabantenstädte (Banlieues) wie La Courneuve vorfinden, aber im Unterschied zur Hauptstadt werden die Unterklasssenviertel in Strasbourg zum Stadtterritorium hinzugerechnet. Am Anfang der Straße liegen ein arabisches Restaurant - ,La Medina' - und kleinere Häuser, aus deren Fenstern offenkundig nordafrikanische Frauen (mit oder ohne Kopftuch) und Männern schauen. Dahinter liegen mehrere niedrige, kurze Plattenbauten - und das brennende Ibis-Hotel, das wir nun unmittelbar sehen können, in vielleicht 200 Metern Entfernung. Es lässt sich vielleicht 30 Meter in die Straße hineingehen, dann stößt man auf Absperrgitter, dahinter stehen CRS-Polizisten.

In Berührung mit dem Stadtteil

Von hinten her drängen zunehmend Leute nach. Leute, die offenkundig zu verschiedenen Organisationen (darunter die Lehrergewerkschaft FSU) gehören, rufen mit drängender Stimme dazu auf, im vorderen Bereich eine Kette zu bilden. Ich reihe mich spontan ein oder werde eingereiht. Aber von hinten her wächst der Druck. Nun fliegen von der Bahnlinie, die 30 Meter hinter uns liegt, Steine und Wurfgeschosse. Sie werden auf die Absperrgitter der Polizei geworfen, gehen aber zum grö b eren Teil im vordersten Bereich der Demo nieder und drohen uns zu treffen. Wir rufen "Non", aber es fliegen weitere Steine, faustgroße Teile aus dem Bahnschotter. Ein CRS-Mann zieht daraufhin eine Tränen- oder Pfeffergasgranate und wirft sie in Richtung auf die Bahngeleise, wo einige Vermummte hin- und herlaufen. Aber der Luftstrom oder leichte Wind treibt das grünliche beißende Gas, das offenkundig schwerer ist als Luft, sofort zu uns herunter. In den vordersten Reihen bekommen wir eine geballte Ladung ab. Ich greife zu meiner Wasserflasche und muss mir die Augen ausspülen, für kurze Zeit bin ich außer Gefecht gesetzt.

Mehrere Leute, die etwas abbekommen haben, bitten an der CRS-Absperrung um Durchlass, die zunächst verweigert wird. Aber ein auf der Seite stehender Beamter (der selbst unter dem Helm mit der Wirkung des Gases zu kämpfen hat) bedeutet ihnen, dass er die Verantwortung übernimmt, einige Leute durchzulassen, die etwas abbekommen hatten. Ich schlüpfe mit durch und befinde mich nun auf der anderen Seite, entfernt von der Demo, in der kleinen Straße. Dort werde ich Zeuge, wie das Hotel in den oberen Etagen lichterloh in Flammen steht, im unteren Bereich ist es bereits vollständig ausgebrannt. Die Feuerwehr ist immer noch am Löschen. Ich sehe eine Reihe von Menschen aus dem Stadtteil herumstehen, jüngere und ältere Menschen, Französisch mit elsässischem Akzent stehende "Ureinwohner" und Personen aus maghrebinische Familien. Die Bevölkerung ist offenkundig sehr jung und gehört zu den "sehr einfachen Leuten", in Paris würde man sie als Banlieuebewohner einstufen. Auf meine Bitte, meine Wasserflasche aufzufüllen, geht eine Frau in ihr Haus und holt mir bereitwillig Wasser. Ich frage, was denn mit dem Hotel passiert sei. Ob Molotow-Cocktails hineingeworfen wurden? "Nein, da waren Typen mit Benzinkanistern zu Gange. Sie haben Benzin hineingeschüttet und es in Brand gesteckt. Und nicht nur das Hotel, auch unsere Apotheke in dieser Straße hat gebrannt! Auch das Tierschutzheim (SPA) hat etwas abbekommen", meinen zwei junge Mädchen. Trotz meines Aufklebers von der ,Union syndicale Solidaires', der mich eigentlich als Demonstrant verrät, spüre ich keinerlei Feindseligkeit. Aber die Anwohner sind konsterniert über das Handeln der ,casseurs' (Kaputtmacher), wie "Randalierer" im Französischen bezeichnet werden - in den 70er Jahren hie b der damalige Landfriedensbruchparagraph in Frankreich ,Loi Anti-Casseurs'.

Ich frage die Leute, ob sie die ,casseurs' am Werk gesehen hätten. Jaja, meint ein junges Mädchen, da seien einige vermummte Menschen vorbeigekommen. Sie hätten die Frage, ob sie etwas mit der Demonstration zu tun haben, bejaht. "Aber dann haben sie mir nichts, Dir nichts Feuer gelegt." Viele sprachen Deutsch, aber einige auch Französisch, es könnten dem Vernehmen nach auch andere Nationalitäten darunter gewesen sein. Eine daneben stehende Frau meint: "Gestern abend war ich genau hier in der Gegend, da sah ich ein Auto mit seltsamen Leuten an Bord kommen. Es war ein Auto mit deutschem Kennzeichen, es hatte Männer mit äu b erst kurzen Haaren an Bord. Sie trugen einen Aufkleber mit einem Symbol, das ich nicht identifizieren konnte. Das kam mir sehr seltsam vor." Sie suggeriert, es hätten auch beispielsweise Nazis als Provokateure agieren können, verfügt aber nicht über weitere Einzelheiten. Es stellt sich heraus, dass die Dame, die diese Aussage tätigte, keine Anwohnerin ist, sondern selbst als Demonstrantin aus Paris anreiste. - In derselben Minute sieht man eine ältere, magere Frau in Tränen ausbrechen: "Es ist kaputt! Es ist kaputt!" Die elsässische Frau wird von einer maghrebinischen Nachbarin und anderen Umstehenden getröstet. Es stellt sich heraus, dass ihr Auto bei den Steinwürfen von der Eisenbahnbrücke offenbar schwer beschädigt worden ist. Mehrere Anwohner bekommen Angst um ihre Autos: "Ich habe unseres auch in der Nähe geparkt. Wir hatten schon etwas befürchtet, aber wo sollten wir es denn hinstellen? Wir hatten keine Wahl", meint die Maghrebinerin. Die so genannten besseren Viertel von Strasbourg waren in den vergangenen Tagen ohnehin eine No-Go-Area für alle, die keine Sondergenehmigung zu ihrem Betreten aufwiesen. Nein, die Frau möchte jetzt lieber nicht nachsehen gehen, wie es um ihr Auto steht.

"Warum sollte die Demo überhaupt hier durchziehen?" , fragen die jungen Mädchen, "hier gibt es überhaupt nichts." Ja, warum nicht durch die so genannten besseren Viertel? Die Route, die durch das Hafenviertel führt - so weit wie möglich weg vom Zentrum, und quer durch ein peripher gelegenes Unterklassenviertel - war die einzige, die durch die Behörden genehmigt worden war. Und das auch in letzter Minute, denn noch am Freitag stand nicht fest, ob überhaupt eine Demonstration stattfinden könnte, bis dahin war nur die Auftaktkundgebung erlaubt worden. (Letztendlich konnte die Demo aber, faktisch, nicht wirklich stattfinden.)

Hinter der nächsten Straßenecke, an der das brennende Hotel steht, warten zahlreiche CRS-Mannschaftsbusse. Und dahinter geht es offenkundig zur Europabrücke. Aber die Demonstration wird hier heute nicht mehr entlang kommen. Sie hat sich zerstreut, die Spitze ist nach den Auseinandersetzungen am Bahndamm wohl auseinander gestoben. Ich finde die kubanische Journalistin wieder. Feuerwehrleute führen einen offenbar verletzten, behelmten CRS-Mann an uns vorbei. Wir gehen zurück zu der Unterführung an der Brücke, und sehen Dutzende von Steinen aus dem Bahnschotter auf dem Boden liegen. Die CRS bedeuten uns, dass wir hier nicht durchgehen sollen. Wir fragen nach einem Umweg, aber der uns Auskunft erteilende Beamte meint, er sei nicht aus Strasbourg und kenne sich überhaupt nicht aus. Wir fragen, woher er (oder seine Einheit) denn sei, aber er darf keine Auskunft geben. Dem Akzent nach stammte er selbst aus einem anderen Teil des Elsass, aber wie wir später erfahren, wurden CRS-Einheiten bis nach Südfrankreich und in den Paris Raum für den heutigen Einsatz mobilisiert. 50 Meter rechts von der Brücke, hinter dem nächsten Haus, klettern wir den Bahndamm hoch und beziehen oben auf den Geleisen Stellung. `

Neben uns stehen eine Reihe von Pressefotographen - einige von ihnen sind mit Helmen ausgerüstet und wie Kriegsberichterstatter ausstaffiert - und Gruppen von CRS-Polizisten. Letztere achten nicht auf uns. Unter uns, jenseits des Bahndamms, bietet sich eine konfuse Szene, aus der wir nicht richtig schlau werden. Zu unserer Linken - von dort, woher die Demo ursprünglich kam - steht ein Teil des Demonstrationszugs blockiert. Dort, wo zuvor der Lautsprecherwagen der CGT stand, der verschwunden ist, sind eine Reihe von geplätteten Holzkisten - wie sie für Äpfel oder Tomaten benutzt werden - auf beiden Seiten der Straße zu einer Art notdürftiger Barrikade aufgeschichtet, die aber keine halbe Minute einem Ansturm standhalten dürfte. (Später erzählt uns ein älterer Demonstrant: "An der Stelle haben wir kehrt gemacht, denn wir befürchteten, dass die Leute, die diese Holzkisten aufgeschichtet hatten, sie anzünden würden. Das hätte eine schöne Mausefalle ergeben, zwischen den brennenden Holzkisten und dem Bahndamm. Das war uns nicht geheuer". Tatsächlich haben die Holzkisten aber nicht gebrannt.) Auf unserer Rechten wiederum zieht ein anderer Teil des Demonstrationszugs, auf scheinbar wirre Weise, zwischen dem Bahndamm und dem rechts vor uns liegenden Hafenbecken im Kreis herum. In seiner Mitte befindet sich der Lautsprecher des ,Mouvement de la Paix', daneben laufen einige Menschen aus türkischen Vereinen oder türkisch-kurdischen kommunistischen Organisationen. Alles in allem ein, vom "Gewaltniveau" her, äußerst harmloses Spektrum. Immer wieder sehen wir Tränengasgranaten niederprasseln und explodieren, ihnen entweichen helle Schwaden. Offenkundig versuchen die oben auf dem Bahndamm stehenden Beamten, auf diese Weise - unter dem Druck des Tränengases - den (an dieser Stelle sehr kurzen) Zug zu dirigieren. Wir sammeln einige leere Tränengasgranaten ein, Aufschrift: "Nobel Sécurité / CS / 09-PB-02". An mehreren Stellen lodern kleine Feuer in dem Gras am Bahndamm, die durch die Explosion solcher Granaten entzündet wurden.

Später befindet sich ein Video auf Youtube, das eine Szene zeigt, die offenkundig an diesem Bahndamm aufgenommen worden ist. Dort sieht man CRS-Beamte mit Steinen auf unter ihnen stehende Demonstranten werfen. (Vgl. http://www.dailymotion.com/user/feeld/video/x8vw7c_manif-des-crs-caillassent-des-anti_news externer Link)

Nach einigen Minuten zieht sich der kleine Demoblock, in dessen Mitte der Lautsprecherwagen des ,Mouvement de la paix' vor sich hintuckert, auf die (vom Bahndamm her gesehen) linke Seite zurück, hinter die improvisierte "Barrikade" aus Holzkisten. Der gesamte Demozug setzt sich nun in umgekehrte Richtung in Marsch, in Richtung Innenstadt. Aber es handelt sich schon nicht mehr um eine Demonstration, sondern bereits um die Auflösung, um die kollektive Rückkehr der Demonstranten zu ihren Häusern, Bussen, Autos oder Zügen. Die Uhr zeigt zwischen 17.30 und 18 Uhr. Es geht rückwärts vorbei an den Örtlichkeiten im Hafengebiet, durch die wir auf dem Herweg gezogen waren. Dort zeigt sich ein Bild der Verwüstung. Auf dem Boden liegen zahllose zurückgelassene Kleidungsstücke und, in größerer Menge, leere Hüllen von verschossenen Tränengasgranaten. Ihren Fundorten nach zu schließen, wurden sie dorthin abgeschossen oder -geworfen, wo die größte Menschenmenge konzentriert war. Zwei Bushaltestellen und mehrere Telefonzellen sind komplett entglast, die Scheiben an dem Postamt aus der Bismarck-Ära sind eingeworfen. Die Demonstration zieht wie eine geschlagene Truppe von dannen. Unterwegs werden wir an den Brücke und an einem in der Nähe liegenden Bahnübergang durch starke Polizeikräfte gestoppt. Schlussendlich wälzt sich die Menge unweit davon über abgestellte Güterzüge oder unten ihnen hindurch, überquert die Bahngeleise und ein Schrebergartenviertel. Danach geht ein merkwürdiger Nachmittag zu Ende.

Artikel von Bernard Schmid vom 6.4.09


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