Endlich: Richterbund stellt Schwarzfahren als Straftatbestand infrage

Dossier

Schwarzfahr-Kampagne Plakat 2017„… Der Deutsche Richterbund (DRB) hat die Wertung des Schwarzfahrens als Straftatbestand infrage gestellt. Bei der Vorschrift sei zu überlegen, ob die Regelung noch „Sache des Staats“ sei, sagte der DRB-Vorsitzende Jens Gnisa im Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb). Allein die Berliner Justiz sei jährlich mit 40.000 Schwarzfahrten befasst, während sie unter Personalknappheit leide. „Die Dinge passen da nicht zusammen.“ Verkehrsbetriebe könnten sich selbst durchaus besser gegen Schwarzfahrer wehren, sagte Gnisa. Sie verzichteten aber darauf, um Geld zu sparen. Stattdessen setzten sie darauf, dass der Staat mit seiner Strafjustiz dies für sie übernehme. Gnisa sagte kurz nach Veröffentlichung des Interviews, er plädiere nicht für eine Streichung des entsprechenden Paragrafen. Der Richterbund spreche sich lediglich dafür aus, „das sogenannte Schwarzfahren als Tatbestand im Strafgesetzbuch zu überprüfen“, ließ er mitteilen. (…) Derzeit kann Schwarzfahren auch ins Gefängnis führen. Im Zuge der Debatte um die Berliner Justizvollzugsanstalt Plötzensee und die Flucht von neun Gefangenen kam auch das Thema Schwarzfahren wieder auf die Agenda. Dort verbüßen laut Justizverwaltung derzeit 102 Männer eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe, davon 69 wegen Erschleichens von Leistungen, also wiederholten Fahrens mit öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Ticket. Sie wurden von Gerichten zu einer Geldstrafe verurteilt, können oder wollen diese aber nicht zahlen und müssen daher die Ersatzfreiheitsstrafe antreten…“ Beitrag vom 4. Januar 2018 in der Zeit online externer Link. Siehe dazu auch:

  • Corona-Aussetzung endet: Bald wieder volle Knäste / Ersatzfreiheitsstrafen abschaffen: Neun-Euro-Dauerticket jetzt! New
    • Ersatzfreiheitsstrafen: Bald wieder volle Knäste
      „Im Koalitionsvertrag der „Ampel“ wurde eine Reform des Strafrechts versprochen, die noch auf sich warten lässt. Die pandemiebedingte Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafen endet aber bereits. Geldstrafen werden in Deutschland oft für klassische Armutsdelikte wie die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrschein verhängt. Wer dann – eigentlich erwartungsgemäß – nicht zahlen kann, dessen Freiheitsentzug lässt sich der Staat etwas kosten: Je nach Bundesland waren dies im Jahr 2020 zwischen 126 und knapp 219 Euro pro Tag und Person. Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im April dieses Jahres hervor. (…) Im Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode haben die Ampel-Parteien SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP vereinbart, das Strafrecht systematisch zu überprüfen und dabei einen Fokus auf überholte Straftatbestände, die Modernisierung des Strafrechts und die Entlastung der Justiz zu legen. (…) Die Berliner Justizsenatorin Lena Kreck (Die Linke) will auf der am heutigen Mittwoch beginnenden Justizministerkonferenz im bayerischen Hohenschwangau erneut einen Beschlussvorschlag einbringen, mit dem die Länder von der Bundesregierung eine Anpassung des Strafrechts fordern, damit niemand mehr wegen einer Geldstrafe aufgrund dieses Straftatbestands ins Gefängnis muss. Sinnlos finden das zum Teil auch diejenigen, die nach bisheriger Rechtslage die Betroffenen einsperren müssen: Die Initiative „Freiheitsfonds“, die mit Spendengeldern solche Gefangenen freikauft und eine Petition gestartet hat, um die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein zu fordern, wird laut einem Bericht der taz teilweise sogar von stellvertretenden Gefängnisdirektoren denjenigen empfohlen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen „Beförderungserschleichung“ antreten sollen. Ihnen „legen wir schon bei der Ankunft das Anmeldeformular für den Freiheitsfonds vor“, wird der stellvertretende Anstaltsleiter der JVA Plötzensee, Detlef Wolf, in dem Artikel zitiert. Auf seiner Internetseite rühmt sich der Freiheitsfonds nicht nur, bisher 417 Personen freigekauft und ihnen insgesamt 84 Haftjahre erspart zu haben – so sei es auch gelungen, mit 424.583 Euro an Spendengeldern dem Staat 4,6 Millionen Euro Haftkosten zu ersparen. Zumindest theoretisch – denn die Kapazitäten dafür werden ja zurzeit noch bereitgehalten.“ Beitrag von Claudia Wangerin vom 1. Juni 2022 bei Telepolis externer Link, siehe auch:
    • Ersatzfreiheitsstrafen abschaffen: Neun-Euro-Dauerticket jetzt!
      Es gibt wohl kei­ne Straf­tat, die objek­tiv betrach­tet weni­ger Scha­den anrich­tet als eine Fahrt ohne Fahr­schein. Züge und Bus­se fah­ren und die Mit­fah­ren­den sind in kei­ner­lei Gefahr, wenn ein Mensch kein Ticket gelöst hat. Doch weil Ver­kehrs­un­ter­neh­men Ein­nah­men benö­ti­gen und in unse­rer zuneh­mend neo­li­be­ra­len Gesell­schaft kein kos­ten­lo­ser Nah­ver­kehr erwünscht scheint, lan­den wei­ter­hin Men­schen im Gefäng­nis, die zu häu­fig ohne Fahr­schein ange­trof­fen wurden. Das Fah­ren ohne Fahr­schein nun ent­kri­mi­na­li­sie­ren zu wol­len, ist eine halb­her­zi­ge Ent­schei­dung. Zwar ent­fal­len die hohen Kos­ten der Inhaf­tie­rung von ver­ur­teil­ten Fahr­schein­lo­sen, doch die Fahr­schein­kon­trol­le bleibt wei­ter­hin ein gro­ßer Auf­wand, des­sen Nut­zen frag­lich ist. Ticket­au­to­ma­ten wer­den betrie­ben, Zugriffs­teams machen Jagd auf Schein­freie in den Fahr­zeu­gen. Ver­kehrs­ver­bün­de pfle­gen Buchungs­sys­te­me mit Abo­ver­trä­gen, Fir­men­ra­bat­ten, Daten­er­fas­sun­gen. Seit Anfang Juni ist alles auf ein­mal ganz leicht und wir fah­ren 3 Mona­te lang für kol­lek­tiv bezahl­ba­re neun Euro – sogar durch Deutsch­land statt in den Knast. Das soll­ten wir drin­gend beibehalten!Kommentar von Daniel Lücking vom 02.06.2022 im ND online externer Link
  • Armutsdelikte: Ins Gefängnis für Fahren ohne Ticket 
    „… Eigentlich säße er noch im Gefängnis. Gut acht Monate sollte Peter O. absitzen, weil er mehrmals erwischt wurde, als er ohne gültigen Fahrschein fuhr. In Deutschland ist das eine Straftat, beschrieben in Paragraf 265a: Wer die Beförderung durch ein Verkehrsmittel erschleicht, kann mit bis zu einem Jahr Haft bestraft werden, heißt es darin. Eine Initiative kaufte den 42-Jährigen nach sechs Monaten gegen Zahlung einer Geldstrafe von 1225 Euro frei. So wie O. ging es 2019, 2020 und 2021 Tausenden Menschen in Deutschland. Das zeigt nach Recherchen von NDR und des BR-Politikmagazins Kontrovers eine Abfrage unter den Justizministerien der Länder. Die Menschen wurden entweder direkt zu einer Haftstrafe verurteilt – oder sie bekamen eine Geldstrafe, die sie nicht bezahlen konnten. Ersatzweise mussten sie deswegen ins Gefängnis. (…) Nicht alle Bundesländer erheben die genaue Zahl der in Haft sitzenden Menschen gleichermaßen, deswegen bleibt eine Dunkelziffer. Die Verurteilungen aufgrund „Erschleichens von Leistungen“ werden gleichmäßiger erfasst: 2019 wurden mehr als 46.000 Menschen verurteilt, im Corona-Jahr 2020, als weniger Bahn gefahren wurde, waren es fast 40.000 Menschen. Vor allem die regionalen Unterschiede sind groß. Rheinland-Pfalz und Thüringen stechen mit rund 300 Gefangenen aufgrund von Paragraf 265a heraus, gefolgt von Sachsen. Der Paragraf umfasst zwar auch andere Taten, wie zum Beispiel das Umgehen eines automatischen Drehkreuzes im Schwimmbad, doch oftmals, so heißt es in einigen Antworten der Justizministerien, sitze der Großteil der Menschen in Haft, weil sie ohne gültiges Ticket fuhren. (…) Bei Peter O. gerät das Leben vor gut zehn Jahren nach einer Nierenerkrankung aus den Fugen: Mehrfach in der Woche muss er zur Dialyse, er findet keinen Job, rutscht in eine Depression, ist über die Jahre immer wieder obdachlos. Um zur Dialyse oder in die Notunterkünfte zu kommen, fährt er in München oft mit der S-Bahn, oftmals ohne Ticket, das er sich nicht leisten kann. 2018 wird O. zehnmal erwischt, jedes Mal auf einer Kurzstrecke. Der Richter verurteilt ihn zu insgesamt 4050 Euro Geldstrafe, die er ebenfalls nicht zahlen kann. Er kommt in Haft. Der Fall von O. sei typisch, sagen Kriminologen. Fahren ohne gültigen Fahrschein gilt als Armutsdelikt…“ Beitrag von Melanie Marks, Svea Eckert und Markus Grill vom 18. Mai 2022 bei tagesschau.de externer Link
  • [Petition] Kein Gefängnis mehr für Fahren ohne Fahrschein – Paragraf 265a StGB abschaffen 
    Bus- und Bahnfahren ohne Ticket wird sehr hart bestraft – schlimmstenfalls mit einer Haftstrafe. Pro Jahr müssen 7.000 Menschen ins Gefängnis, weil sie weder das Ticket noch die Geldstrafen bezahlen können. Da die Verkehrsbetriebe in diesen Fällen regelmäßig Anzeige erstatten, greift der Paragraf 265a StGB, der in der Nazi-Zeit erlassen wurde (1935). Dieser erhob das sogenannte “Erschleichen von Leistungen” zu einer Straftat. So kann Fahren ohne Ticket mit Geldstrafe oder bis zu einem Jahr Freiheitsentzug geahndet werden. Die Bestrafung vor allem armer Menschen ist entwürdigend, unverhältnismäßig und sinnlos. Betroffene müssen ins Gefängnis, weil sie ohne Ticket den ÖPNV nutzen und weil viele Städte keine bezahlbaren Sozialtickets haben. Der Staat betreibt einen riesigen Aufwand und verschwendet viele Millionen Euro jährlich, um die Ersatzfreiheitsstrafe umzusetzen – und das, obwohl der Schaden im Einzelfall bei wenigen Euro liegt. Dieses Geld muss stattdessen in günstigeren Nahverkehr und soziale Angebote investiert werden! Wir fordern daher, die Abschaffung des Paragrafen 265a StGB. Für das Fahren ohne Fahrschein dürfen Menschen nicht mehr ins Gefängnis kommen…“ Petition an Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) von der Initiative Freiheitsfonds bei Campact externer Link
  • Wegen Schwarzfahrens in den Knast? Weil arm und nicht zahlungsfähig ins Gefängnis? 
    Er hatte keine Geld für die S-Bahnfahrt – und ist trotzdem gefahren. Weil er Wiederholungstäter war, kam es zur Strafanzeige und zur Verurteilung. Doch ohne Job und mittellos konnte er die verhängte Strafe nicht bezahlen. Die Folge: drei Monate Knast. Man nennt das im Fachjargon Ersatzfreiheitsstrafe. Zehn Prozent der Gefängnisinsassen sitzen inzwischen genau aus diesem Grund ein. Oft sind es sogenannte Bagatelldelikte wie eben Schwarzfahren. Denn auch das ist eine Straftat. Den Staat und damit die Steuerzahler kostet die Haftunterbringung solcher Fälle immerhin um die 200 Millionen Euro pro Jahr. Ist die Konsequenz also richtig: weil arm und nicht zahlungsfähig ins Gefängnis?Video des Beitrags von Doro Werkman und Lars Tepel in der Plusminus-Sendung am 09.03.2022 bei ARD externer Link
  • Fahren ohne Fahrschein: Wie der Staat Menschen ohne Geld einsperrt
    Jedes Jahr müssen tausende Menschen in Deutschland ins Gefängnis, weil sie sich kein Ticket für Bus oder Bahn leisten konnten. Im Zuge unserer gemeinsamen Recherche mit dem ZDF Magazin Royale veröffentlichen wir erstmals interne Dokumente der Justizministerien zum System der Ersatzfreiheitsstrafen.
    Eine S-Bahnfahrt wie so viele andere. Ein Kontrolleur geht durch die Sitzreihen. „Fahrscheine, bitte“, sagt er. Mitfahrende strecken ihm Displays und Zettel entgegen. Nur eine Person nicht. Bei ihr bleibt er stehen, schreibt ihre Kontaktdaten auf und überreicht ihr einen Zahlschein über 60 Euro. Aber das wird die Person genauso wenig zahlen können wie den Fahrschein für 3,80 Euro. Und dafür ins Gefängnis gehen. 
    Die Haftstrafe ist das härteste Mittel, das einem Rechtsstaat zur Verfügung steht. Sie stellt in Deutschland die letzte Konsequenz dar. Aber nicht nur Menschen, die wegen Raub, Mord oder Totschlag verurteilt wurden, sitzen im Gefängnis – auch Menschen, die kein Geld haben, um sich ein Ticket zu kaufen. 
    Denn ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn zu fahren, ist in Deutschland eine Straftat. Wer dabei erwischt wird und die 60 Euro erhöhtes Beförderungsentgelt nicht zahlen kann, wird von den Verkehrsverbünden angezeigt. Grundlage dafür ist § 265a des Strafgesetzbuchs externer Link, „Erschleichen von Leistungen“ – ein Relikt aus dem Jahr 1935. 
    Gemeinsam mit dem ZDF Magazin Royale externer Link haben wir in den vergangenen Monaten rund um diesen Straftatbestand recherchiert. Verurteilt werden dadurch vor allem Menschen, die wenig oder gar kein Geld haben. Mehrere tausend Menschen sitzen deshalb laut Schätzungen jedes Jahr im Gefängnis. Eine genaue Zahl wird statistisch nicht erfasst. 
    Als Strafmaß ist für § 265a bis zu ein Jahr Haft oder eine Geldstrafe vorgesehen. Haftstrafen werden zwar nur selten erteilt, meist kommt es zu einer Geldstrafe. Eigentlich hat jede:r, der eine Geldstrafe erhält, die Möglichkeit, diese abzuarbeiten. Wenn man jedoch keinen Wohnsitz hat oder von einer Suchtkrankheit betroffen ist, ist dies meist nicht möglich. Dann kommt es dann zu einer Ersatzfreiheitsstrafe – die Betroffenen müssen ins Gefängnis. Oft über mehrere Monate.  Die meisten, die eine Ersatzfreiheitsstrafe unter anderem wegen Fahrens ohne Fahrschein absitzen, sind arbeitslos, jede:r Dritte suchtkrank und mehr als ein Achtel obdachlos – so geht es aus einer Studie der Soziologin Nicole Bögelein in Mecklenburg-Vorpommern externer Link hervor. 
    Eine Ersatzfreiheitsstrafe ist für den Staat ziemlich teuer. Ein Hafttag kostet die Steuerzahler je nach Bundesland zwischen 98 und 188 Euro pro Tag. Jede vierte Person, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt, sitzt wegen Fahrens ohne Fahrschein ein, Tendenz steigend…“ Kampagne vom 3. Dezember 2021 von und bei FragDenStaat externer Link – siehe dazu:

    • [Video] Fahren ohne Fahrschein
      Der deutsche Rechtsstaat ist gnadenlos und konsequent! Egal ob Diebstahl, Raub, Totschlag, Mord oder Fahren ohne Fahrschein. Ja, wer ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn fährt, begeht eine Straftat und wird mit aller Härte des Gesetzes bestraft. Denn kein Ticket bedeutet Geldstrafe, kein Geld für Geldstrafe bedeutet noch mehr Geldstrafe und immer noch kein Geld für mehr Geldstrafe bedeutet KNAST! Und da sitzt man dann im Jahr 2021 wegen eines Scheißgesetzes der Nazis von 1935.“ Video des Beitrags externer Link (31 min, verfügbar bis 02.12.2022) in der Sendung ZDF Magazin Royale vom 3. Dezember 2021
    • Spende-Initiative freiheitsfonds.de
      Das ZDF Magazin Royale hat im Rahmen der Recherche für 10.080 Euro sieben Menschen vor insgesamt 675 Hafttagen bewahrt und somit dem Staat circa 101.250 Euro erspart. Die Initiative freiheitsfonds.de externer Link hat in Berlin 21 Menschen, die bereits in Haft waren, mit 28.420 Euro aus dem Gefängnis befreit, damit weitere 2.130 Hafttage aufgelöst und somit dem Staat 319.000 Euro erspart. 
  • Toter in Wuppertaler JVA war wegen Schwarzfahrens im Knast
    Am 1. Dezember wurde ein 42-Jähriger tot in seiner Gefängniszelle in der JVA Wuppertal-Vohwinkel aufgefunden. Der Mann saß seit dem 29. November in Haft, ihm wurde Schwarzfahren vorgeworfen. In der Justizvollzugsanstalt Wuppertal-Vohwinkel wurde am 1. Dezember ein Mann tot in seiner Zelle aufgefunden. Der 42-Jährige hat gerade einmal zwei Tage zuvor seine Strafe angetreten. Er saß wegen des „Erschleichens von Leistungen“ ein. Dass es sich in seinem Fall um ein Schwarzfahrer-Delikt handle, teilte die Staatsanwaltschaft dann mit. Laut ihr soll sich der Mann selbst das Leben genommen haben. Es gäbe keine Hinweise darauf, dass Fremdeinwirkung den Tod verursachte, das Motiv für den Suizid sei jedoch unklar. Am 6.12. soll der Leichnam des Mannes obduziert werden. Es ist nicht das erste Mal in den letzten Jahren, nicht einmal in diesem Jahr, dass Justiz und Polizei aus Wuppertal in den Negativ-Schlagzeilen der Zeitungen auftauchen. (…) Die Wuppertaler Staatsanwaltschaft hat es sich mit der knappen Meldung über den Suizid des Mannes einfach gemacht. Sie hinterfragt weder die Rolle des Justizsystems noch der direkten Justizanstalt am Tod des Mannes. Auch die Presse hatte die Meldungen größtenteils unkritisch und unhinterfragt 1:1 übernommen. Ein Suizid ist aber nicht einfach ein „selbstverschuldeter“ Tod. Ein Suizid hat immer Gründe. Und nach denen muss man suchen. Vor allem dann, wenn dieser in einer Justizvollzugsanstalt, in einer Einzelzelle, kurz nach Haftantritt geschieht. Noch dazu in einer Stadt, in der es in letzter Zeit einige Tote zuviel in der Obhut von Polizei und Justiz gegeben hat.“ Kommentar von Tabea Karlo vom 3. Dezember 2021 bei Perspektive online externer Link
  • Die Fahrscheine, bitte. EuGH: Gültiger Vertrag bei Einstieg in Zug – auch ohne Ticket. Hohe Bußgelder unzulässig
    “Wer in der EU einen Zug besteigt, schließt mit dem Beförderungsunternehmen einen gültigen Vertrag, auch wenn er keine Fahrkarte gelöst hat. Die von der EU bereits früher erlassenen Richtlinien hinsichtlich des Schutzes der Verbraucher vor sogenannten missbräuchlichen Klauseln gelten auch in diesem Fall. Das urteilte am Donnerstag der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. (…) Die belgischen Richter wollten wissen, ob »immer ein vertragliches Rechtsverhältnis zwischen der Beförderungsgesellschaft und dem Fahrgast zustande kommt, selbst wenn dieser die Dienstleistung des Beförderers ohne Fahrschein in Anspruch nimmt«, wie es im Amtsblatt der Europäischen Union vom 20.8.2018 heißt. Die Bahngesellschaft hatte das Bestehen eines Beförderungsvertrags verneint. »In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass sowohl das Eisenbahnunternehmen – durch die Gewährung des freien Zugangs zu seinem Zug – als auch der Fahrgast – durch den Einstieg in den Zug, um eine Fahrt zu unternehmen – ihre deckungsgleichen Willen bekunden, ein Vertragsverhältnis einzugehen«, erklärte der EuGH am Donnerstag in einer Pressemitteilung. Die Fahrkarte sei nur das Instrument, das den Beförderungsvertrag verkörpert. Der Vertrag selbst werde durch das Betreten des Zuges geschlossen. Allerdings können die Mitgliedsstaaten der EU die Pflichten der Vertragspartner und die Höhe der Strafen bei Nichterfüllung unter zwei Voraussetzungen eigenständig festlegen: »Erstens muss die Vertragsklausel auf einer Rechtsvorschrift beruhen, und zweitens muss diese Rechtsvorschrift bindend sein. Die Prüfung des Vorliegens dieser Voraussetzungen fällt in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts.«…”Artikel von Gerrit Hoekman in der jungen Welt vom 8. November 2019 externer Link
  • Haftstrafen für Schwarzfahren: Wer zu arm ist, kommt in den Knast 
    „… Derzeit verbüßen deutschlandweit etwa 7.000 Leute, die schwarzgefahren sind, eine Ersatzfreiheitsstrafe. Allein in Berlin laufen pro Jahr etwa 40.000 Ermittlungsverfahren wegen Beförderungserschleichung. In der Justizvollzugsanstalt Plötzensee saß zeitweise ein Drittel der Insassen Ersatzfreiheitsstrafen ab, meist wegen Schwarzfahrens. Ist diese Strafe angemessen? Löst man so das Problem? Das WDR-Politikmagazin „Monitor“ hat bei den Bundesländern nachgefragt, wie viel die Verfahren den Staat jährlich kosten. Ergebnis: 200 Millionen Euro. Selbst der Deutsche Richterbund spricht sich für die Abschaffung des Straftatbestands aus. Durch die strafrechtliche Ahndung von Schwarzfahrvergehen kämen die ohnehin schon überlasteten Gerichte an ihr ­Limit. (…) Die Gefängnisstrafen fürs Schwarzfahren – im Juristendeutsch „Ersatzfreiheitsstrafen“ genannt – sind eine Blaupause des Zustands der Gesellschaft. Paul Z. bringt das mit einem einfachen Satz auf den Punkt: „Mit der jetzigen Gesetzeslage wird Armut kriminalisiert.“ Die Soziologin Nicole Bögelein findet das auch: „Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft nur die sozial Schwachen, da die Zahlungsunfähigkeit quasi Voraussetzung zur Verhängung der Strafe ist“, sagt die Mitarbeiterin des Instituts für Kriminologie der Universität Köln am Telefon. Sie hat ein Buch über die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen geschrieben. Tatsächlich zeigt eine Studie aus Nordrhein-Westfalen von 2018: Das Delikt ist ein Prekariatsproblem. (…) Die sozialen und ökologischen Probleme, die mit dem Nahverkehr zusammenhängen, sind in der Politik bekannt. In einigen Städten wird seit dem Dieselskandal mit 1-Euro-Tickets experimentiert. Auch über Beförderungserschleichung wird seit Jahrzehnten kontrovers debattiert…“ Artikel von Eva-Lena Lörzer und Luciana Ferrando vom 7.9.2018 in der taz online externer Link
  • Wer schwarzfährt wird eingesperrt: Hunderte Menschen sitzen im Gefängnis, weil sie kein Ticket für Bus oder Bahn zahlen können. Möglich wird das durch ein Gesetz, das Arme bestraft. 
    „… In kaum in einem anderen Bereich des Strafrechts ist der Zusammenhang zwischen Armut und Strafe so plastisch wie beim Schwarzfahren. Schwarzfahren ist neben Ladendiebstählen – insbesondere von Lebensmitteln und dem sogenannten Containern ein klassisches Armutsdelikt. Das bedeutet: Die meisten Schwarzfahrerinnen haben keine Kohle für einen Fahrschein und könnten ohne Nutzung des öffentlichen Verkehrsmittel nicht zur Arbeit, zur Schule, zum Jobcenter, zu Freundinnen und Familie oder anderswohin kommen. (…) Wer erwischt wird und nicht zahlen kann, wird irgendwann eingesperrt. Das sieht das Gesetz im Moment so vor. Allein in Berlin sind um die 150 Menschen betroffen. (…) Die Norm wurde im Jahre 1935 als Straftatbestand erlassen. Der Grund dafür war, dass man eine Strafbarkeitslücke schließen wollte. Denn das Schwarzfahren konnte nicht unter den Betrugstatbestand gefasst werden – weil niemand anwesend ist, den man betrügen kann. Dies ist beim einfachen Einsteigen in Verkehrsmittel mangels menschlicher Einlasskontrolleurinnen ja nicht der Fall. Die juristische Auslegung des Tatbestandmerkmales beim Schwarzfahren ist das „Erschleichen“. Das ist äußerst problematisch. (…) Die ganze Debatte ums Schwarzfahren könnten wir uns sparen. Es ist keine utopische Zukunftsvision, den fahrscheinfreien ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr) zu fordern. Es wäre leicht, in der Mobilität eine Gleichheit zu schaffen, die allen unabhängig von Einkommen und Vermögen eine Teilhabe ermöglicht. Zudem – für die Ökos unter uns – ist ÖPNV deutlich umweltfreundlicher als Individualverkehr. Denn das Hauptziel des ÖPNV ist ja, dass viele Menschen ihr Auto stehen lassen können und stattdessen Bus und Bahn nutzen.“ Beitrag von Belma Bekos vom August 2018 bei Ada externer Link
  • [Schwarzfahren] Ersatzfreiheitsstrafen: ungerecht, sinnlos und teuer
    „Wer eine Geldstrafe nicht zahlen kann, muss nach dem deutschen Strafgesetzbuch eine so genannte Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. Die Zahl der dafür verwendeten Haftplätze steigt seit Jahren. Dabei geht es um Bagatelldelikte wie „Schwarzfahren“. Dass man dafür ins Gefängnis geht, halten Fachleute für falsch. Meist träfe es harmlose und hilfebedürftige Menschen, denen andere Maßnahmen wie etwa soziale Arbeit deutlich mehr helfen würden. Und die Haftstrafen kosten den Steuerzahler Millionen.“ Bericht von Ralf Hötte und Achim Pollmeier vom 11. Januar 2018 bei Monitor externer Link in dem die Kriminologin Nicole Bögelein von der Universität Köln die dahinterstehende Systemlogik mit den folgenden Worten gut auf den Punkt bringt: „Wir inhaftieren Personen, die nicht zahlen können. […] Die sind arm, haben kein Geld. Und in der Regel haben sie sehr viele soziale Probleme. Als Gesellschaft leben wir damit, dass wir den mit Strafe begegnen, anstatt verstärkt mit einer Hilfe“. (Videolänge: 6:39 Min., in der ARD-Mediathek abrufbar bis zum 11. Januar 2019)
    • Anm.: Der Hauptadressat ist hier sowie so der Gesetzgeber, da er verfassungsrechtlich nach dem Sozialstaatsgebot eigentlich verpflichtet ist, ALLEN Mobilität (z.B. durch kostenloses Sozialticket) zu ermöglichen. Wer sich aufgrund von Versäumnissen des Gesetzgebers keine Teilnahme am öffentlichen Verkehr leisten kann, begeht deshalb auch keine Straftat…

Siehe auch im LabourNet:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=126231
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