Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz der Streitkräfte im Inneren („Luftsicherheitsgesetz“)

Quelle: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 2012  externer Link  (2 PBvU 1/11).   Siehe dazu:

  • Das Urteil beim Bundesverfassungsgericht externer Link. Darin am Ende: Abweichende Meinung des Richters Gaier zum Plenumsbeschluss vom 3. Juli 2012. Aus dem Text: „… Das Bundesverfassungsgericht wird gerne als Ersatzgesetzgeber bezeichnet; mit der nun getroffenen Entscheidung des Plenums läuft das Gericht Gefahr, künftig mit der Rollenzuschreibung als verfassungsändernder Ersatzgesetzgeber konfrontiert zu werden.  (…) Hiermit zieht unsere Verfassung aus historischen Erfahrungen die gebotenen Konsequenzen und macht den grundsätzlichen Ausschluss der Streitkräfte von bewaffneten Einsätzen im Inland zu einem fundamentalen Prinzip des Staatswesens. Mit anderen Worten: Die Trennung von Militär und Polizei gehört zum genetischen Code dieses Landes. (…) Es handelt sich um gänzlich unbestimmte, gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der täglichen Anwendungspraxis viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, persönliche Bewertungspräferenzen und unsichere, wenn nicht gar voreilige Prognosen lassen. Jedenfalls bei Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte ist das nicht hinnehmbar. Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen. Wie ist beispielsweise zu verhindern, dass im Zusammenhang mit regierungskritischen Großdemonstrationen – wie etwa im Juni 2007 aus Anlass des „G8-Gipfels“ in Heiligendamm – schon wegen befürchteter Aggressivität einzelner teilnehmender Gruppen „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze“ eintretende massive Gewalttätigkeiten mit „katastrophalen Schadensfolgen“ angenommen werden und deswegen bewaffnete Einheiten der Bundeswehr aufziehen? …“
  • Ein weiterer Tabubruch: Bundesverfassungsgericht lässt den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu
    Die strikte Trennung von innerer Gefahrenabwehr durch die Polizei und äußerer Gefahrenabwehr durch das Militär war eine bewusste Reaktion der Väter (und Mütter) des Grundgesetzes auf den offenen oder verdeckten Einsatz der Reichswehr im Innern in der Weimarer Republik. Diese Trennung wurde zwar schon mit der Notstandsgesetzgebung im Jahre 1968 gelockert (Einfügung des Art. 87a Abs. 4 GG). Dennoch blieb es bei einer strikten Unterscheidung bei der Regelung des Katastrophen-Notstandes und des Staats-Notstandes. Kampfeinsätze der Bundeswehr im Innern, die auf die Vernichtung des Gegners gerichtet sind, blieben prinzipiell ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht weicht nun mit seiner heutigen Entscheidung die bisherige Trennung von Polizei und Militär weiter auf.
    Die Regelungen für den Katastrophenschutz nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG, ließen bisher – auch nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtes – den Einsatz der Streitkräfte im Innern mit militärischer Waffengewalt nicht zu. Die 16 Richter des Plenums haben nun entschieden, dass die „Verwendung spezifischer militärischen Waffen bei Einsätzen der Streitkräfte nach diesen Vorschriften nicht grundsätzlich“ ausgeschlossen ist. Damit ist ein fundamentales Prinzip unserer Verfassung – unter Umgehung einer Verfassungsänderung durch den Gesetzgeber – durchbrochen. Wenn auch in engen Grenzen, ist damit die Tür für eine weitere Militarisierung im Innern aufgestoßen
    …“ Artikel von Wolfgang Lieb vom 17. August 2012 bei den Nachdenkseiten externer Link
  • Bundesverfassungsgericht erlaubt Militäreinsatz im Inneren zur Sicherung von Kapitalinteressen
    Zugegeben – meine Überschrift ist etwas provokativ. Aber es ist die wesentlichste Schlussfolgerung, die sich aus der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ziehen lässt. Wer dies nicht glaubt, mag nur einmal die täglichen Nachrichten vor seinem Auge Revue passieren lassen: Statt Demo-kratie bestimmt ausschließlich nur noch „der Markt“. Und nicht irgendein Markt, sondern der Kapitalmarkt. Und die Bundesregierung kennt keine sozialen Belange mehr, wenn es um die Wirtschaft und deren Belange geht. Das Militär ist eines ihrer Repressionsinstrumente, nun auch im Innern für die Sicherung ihrer destruktiven Wirtschaftspolitik höchstrichterlich legitimiert. Einer Wirtschaftspolitik, bei der die herrschende Politik kein Problem damit hat, dass mittlerweile in Deutschland von ca. 10 Billionen Privatvermögen 50 Prozent der Bevölkerung weniger als 2 Prozent besitzen (das untere Fünftel besitzt übrigens gar nichts bzw. hat Schulden). Militärische Gewalt also als legitimes Mittel eines Klassenkampfs von oben? Diesem Diktat horrenden Vermögens kann zweifellos nicht viel allein mit juristischen Mitteln entgegensetzt werden. Allerdings wäre das Bundesverfassungsgericht verpflichtet gewesen, alles zu tun um friedliche Lösungen zu fördern…“ Kommentar von Armin Kammrad vom 18.08.2012 externer Link zur „Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz der Streitkräfte im Inneren („Luftsicherheitsgesetz“)“ vom 03.07.2012 (2 PBvU 1/11).
    Aus dem Text: „…Der sog. „Notstand“ wird jedoch in der Regel ein Notstand der kapitalistischen Art des Wirtschaftens sein, beispielsweise, wenn sie massenhafte Verarmung erzeugt, was bereits gegenwärtig angesichts von Sparpaketen zur Vermögenssicherung im Euro-Raum ja geübt und praktiziert wird. Das Bundesverfassungsgericht gibt mit seiner jetzigen Entscheidung einer Wirtschaftspolitik, welche Verarmung erzeugt, eine unausgesprochene Garantie, dass man sich ja notfalls gegen Hungerrevolten dem Militär bedienen kann. Armut muss also nicht beseitigt werden, wenn alternativ der rebellierende Arme auch erschossen werden kann. (…) Beim Einsatz von Militär gegen antikapitalistische Militanz versagt jedoch jeglicher Verhältnisgrundsatz bereits am simplen Umstand, dass deren Opfer nicht dadurch wieder lebendig werden, weil nachträglich die Rechtswidrigkeit des Einsatz von Militär höchstrichterlich festgestellt wird. Militär droht bestenfalls mit Waffengewalt, aber tötet, wenn diese Drohung nicht akzeptiert wird bzw. nicht akzeptiert werden kann (z.B. bei Hungerrevolten). (…) Nun steht auch für das Inland fest, dass bereits die Gefährdung kapitalistischer Interessen durch einen General- oder politischen Streik, den Einsatz von Militär als „verfassungsgemäß“ rechtfertigen kann. Denn jeder konsequente und vor allem massenhafte Kampf gegen kapitalistische Interessen greift zwangsweise immer in die real existierende gesellschaftliche Grundordnung ein. Und eine andere „freiheitlich demokratische Grundordnung“ als der Kapitalismus existiert als wirtschaftliche Basis in Deutschland bis jetzt nicht…“
  • Verfassungsgericht zu Bundeswehreinsätzen im Inland: Karlsruhe fällt eine Katastrophen-Entscheidung
    Zum ersten Mal haben sämtliche Richter des höchsten deutschen Gerichts in einer fundamentalen Verfassungsfrage entschieden. Es ist jedoch keine gute Entscheidung: Die Richter haben mit ihrem Beschluss, Bundeswehreinsätze im Inneren zu erlauben, das Grundgesetz nicht interpretiert. Sie haben es verändert. Das war und ist nicht ihre Sache…“ Ein Kommentar von Heribert Prantl in Süddeutsche Zeitung online vom 17.08.2012 externer Link. Aus dem Text: „… Gewiss: nur in Ausnahmefällen. Gewiss: nur als letztes Mittel, nur als Ultima Ratio – wie es so schön heißt, wenn Juristen erlauben, was sie eigentlich nicht erlauben dürften. Gewiss: nicht zum Einsatz bei Großdemonstrationen. Man kennt solche Gewissheiten. Das Gewisse ist einige Zeit später schon nicht mehr gewiss…“
  • Bundesverfassungsgericht erlaubt Bundeswehreinsatz im Inneren / Grundgesetzänderung durch Hintertür
    Erklärungen des Friedensratschlags, der DFG-VK und von Ulla Jelpke MdB Die Linke (18. August 2012) beim Friedensratschlag externer Link. Aus der Presseerklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag: „… Auch politisch ist das Urteil verheerend. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hatte den Einsatz der Bundeswehr Im Inneren in ihrer Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. Wenn jetzt zwar das BVerfG beschwichtigend darauf verweist, dass mit dem heutigen Urteil ein Bundeswehreinsatz z.B. gegen Großdemonstrationen nicht gemeint sei, werden die Versuche zunehmen, die Grenze zwischen Polizei- und Bundeswehreinsätzen zunehmend zu verwischen. Die Bundesrepublik Deutschland steht vor einem weiteren Schritt ihrer inneren Militarisierung. Dazu sagt die Friedens- und Demokratiebewegung eindeutig und lautstark NEIN.“


Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=5076
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