70 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs: Behauptungen und Antworten

Artikel aus der Zeitung gegen den Krieg, Nr. 39, Ostern 2015

Zeitung gegen den KriegAm 8. Mai vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Das Datum wird hierzulande – ähnlich wie vor einem Jahr die hundertste Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkriegs – vor allem als ein historisches Datum gesehen: ein Gedenktag für Geschichtsbücher. Die Herausgeberinnen und Herausgeber der Zeitung gegen den Krieg –ZgK haben eine andere Sicht auf diesen Tag. Das Erinnern an das Ende des Zweiten Weltkriegs ist gerade deshalb so wichtig, weil die Lehren aus diesem Krieg heute brandaktuell sind. Das zeigt sich in unseren Antworten auf vier gängige Behauptungen, die im Zusammenhang mit dem 8. Mai 1945 an Stamm- und anderen Tischen zu hören sind.

Erste Behauptung: Die heutige Bundesrepublik Deutschland hat ihre Lehren aus dem Faschismus gezogen. Sie ist immun hinsichtlich eines neuen Marsches in einen Krieg.

Antwort: Bereits die Terminologie zeigt, dass die offizielle Politik und die in Deutschland dominierende politische Klasse keine tiefgreifenden Lehren aus Faschismus und Zweitem Weltkrieg gezogen haben. Das Verständnis, dass es am 8. Mai eine „Befreiung vom Faschismus“ gab, ist keineswegs vorherrschend. Jahrzehntelang war im Westen die Terminologie von dem Begriff einer „Niederlage im Jahr 1945“ geprägt. Bis heute überwiegt das Verständnis von einem „Zusammenbruch“. Die Landung der Alliierten in der Normandie wurde bis vor kurzem als „Invasion“ bezeichnet. Die – zu kritisierenden – Bombardements deutscher Städte durch britische und US-amerikanische Flugzeuge werden auch heute noch als isoliertes Leid dargestellt, das der Bevölkerung – zum Beispiel derjenigen in Dresden – widerfuhr. Die Tatsache, dass die deutsche Wehrmacht bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Guernika, Spanien, eine systematische Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung praktiziert hatte, dass diese dann im Zweiten Weltkrieg hunderte Städte und Tausende Dörfer dem Erdboden gleichgemacht hatte und dass einzelne Waffen des NS-Regimes wie die V-2-Raketen allein dem Zweck der Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung dienten – all das ist in den aktuellen Debatten zum Zweiten Weltkrieg kaum präsent. Kurz: Die spezifische deutsche Verantwortung für diesen Krieg ist in der deutschen Öffentlichkeit nicht verankert bzw. diese wird auch heute noch mit „Gegenrechnungen“ relativiert.

Zweite Behauptung: Mit der Wiedervereinigung und dem „Zwei-plus-vier-Vertrag“ des Jahres 1990 wurde ein Schlussstrich gezogen. Nach diesem Vertrag ist es nicht sinnvoll, immer aufs Neue alte Wunden aufzureißen. Insbesondere sind seither Forderungen nach Reparationen vom Tisch.

Antwort: Der Zwei-plus-vier-Vertrag war in erster Linie die juristische Grundlage für die Vereinigung von BRD und DDR. Er enthält Vereinbarungen über die Anerkennung der bestehenden Staatsgrenzen in Europa und den Verzicht auf alliierte Souveränitätsrechte in Deutschland. Zuvor war jahrzehntelang argumentiert worden, die Nachkriegszeit könne nur durch eine deutsche Wiedervereinigung und einen Friedensvertrag beendet werde. Doch mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag wurde bewusst der Weg eines Friedensvertrags mit einer Aussöhnung mit allen Ländern, die unter dem NS-Militär gelitten hatten – Reparationen eingeschlossen – vermieden. Die Unterzeichnenden beim 2+4-Vertrag waren ausschließlich die Vertreter der beiden deutschen Staaten BRD und DDR und die Vertreter der Siegermächte USA, Frankreich, Großbritannien und Sowjetunion. Die übrigen Länder, die in Europa vom Zweiten Weltkrieg betroffen waren, blieben ausgeschlossen. Um zu begründen, dass eine breiter definierte „Staatengemeinschaft“ dem Zwei-plus-Vier-Vertrag zugestimmt habe, beruft sich die deutsche Regierung auf die sogenannte Charta von Paris. In dieser nahmen im November 1990 die Teilnehmerstaaten der KSZE einstimmig und „mit großer Genugtuung Kenntnis“ vom Zwei-plus-Vier-Vertrag. Doch einerseits ist „Kenntnisnahme“ nicht Zustimmung. Andererseits betraf die „Kenntnisnahme“ naturgemäß vor allem die Themenbereiche, die in diesem Vertrag niedergelegt wurden – und nicht diejenigen, die ausgeklammert blieben. Ausgeklammert blieb insbesondere das Thema der Reparationen. Das Argument „Man kann doch nicht 70 Jahre nach Kriegsende mit sowas kommen“ überzeugt bereits juristisch nicht. Der Adel und die Militärs forderte „ihre“ nach dem Zweiten Weltkrieg enteigneten Grundstücke und Besitztümer nach der Wende ebenfalls zurück. Teilweise wurden diese ihnen zugesprochen, teilweise wurden sie entschädigt.

Vor allem gibt es ein besonderes politisches Argument, weshalb eine solche „Verjährung“ bestritten werden muss: Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland in Bonn haben seit 1953 so gut wie alle Reparationsforderungen mit dem Verweis ins Leere laufen lassen, dass sich diese Frage erst mit der Wiedervereinigung und in diesem Zusammenhang mit einem Friedensvertrag stellen könne. 1990 kam es – einigermaßen überraschend – zur Wiedervereinigung. Und plötzlich sollte es nun keinen Friedensvertrag mehr geben. Das Wort „Reparationen“ oder ein vergleichbarer Terminus tauchen im Zwei-plus-vier-Vertrag“ schlicht erst gar nicht auf.

Dritte Behauptung: Die Lehren, die Deutschland aus dem Zweiten Weltkrieg zog, bestehen darin, dass von deutschem Boden nie mehr Krieg ausgehen wird und dass die Europäische Union ein Bündnis des Friedens ist.

Antwort: Die Europäische Union ist aktiv daran beteiligt, dass die Militarisierung in Europa voranschreitet. EU-Kommissionspräsident Juncker und die deutsche Verteidigungsministerin von der Leyen forderten im März 2015 den Aufbau einer EU-Armee. Die deutsche Regierung ist innerhalb der NATO aktiv daran beteiligt, dass erneut westliche Angriffswaffen – auch atomare – Russland direkt bedrohen. Es findet eine Politik der militärischen Einkreisung Russlands statt. Der neue NATO-Oberbefehlshaber in Europa, Philipp M. Breedlove, stellt ausdrücklich die These in Frage, dass es keinen neuen Krieg geben könne, der von Europa ausgeht. Die Bundeswehr spielt eine zentrale Rolle in Kriegsplänen, die sich direkt gegen Russland richten (siehe die Seiten 7 und 8). Schließlich war die Bundeswehr 1999 aktiv an dem Angriffskrieg   gegen die Bundesrepublik Jugoslawien beteiligt. Sie ist heute in Afghanistan, Kurdistan, Mali und in anderen Teilen der Welt aktiv.

Übrigens: Hier wäre ein Rekurs auf den Zwei-plus-vier-Vertrag sinnvoll. In diesem steht: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen externer Link.“ (Art. 2 Satz 3). Tatsächlich verstieß der Kosovo-Krieg gegen das Völkerrecht. Es gab auch kein Mandat des UN-Sicherheitsrats.

Vierte Behauptung: Vor 70 Jahren endete ein Krieg, den ein verbrecherisches Regime zu verantworten hatte. Jegliche Parallelen mit heute verbieten sich.

Antwort: Selbstverständlich war der NS-Staat eine verbrecherische Struktur. Und niemand, der mit Verstand ausgestattet ist, wird eine Regierung Merkel mit dem NS-Regime oder die Unionsparteien und die SPD, die diese Große Koalition tragen, mit der NSDAP gleichsetzen. Doch der Verweis „Verbrecher-Regime“ greift deutlich zu kurz, um Faschismus und den Zweiten Weltkrieg zu begreifen. Das NS-Regime war kein Geschichtsunfall. Es hatte vor allem strukturelle Wurzeln in der kapitalistischen Wirtschaftsweise und ging aus der großen Weltwirtschaftskrise hervor. Kapital, Krise und Krieg bilden eine fatale Einheit. Dies mündete vor 68 Jahren in die folgende Einsicht: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den sozialen […] Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren Zusammenbruch […] kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und eine Sozialordnung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht. […] Die Zeit vor 1933 hat bereits zu große Zusammenballungen industrieller Unternehmungen gebracht […] Sie wurden für die Öffentlichkeit […] unkontrollierbar.“ Die hier zusammengefassten Einsichten sind deshalb so wertvoll und wichtig, weil sie von der CDU stammen, weil sie Teil des ersten Programms dieser vor knapp 70 Jahren neu gegründeten Partei sind. In diesem „Ahlener Programm“ wurden diese entscheidenden Einsichten festgehalten: Das „kapitalistische Wirtschaftssystem“ führte zu Kapitalkonzentration („Zusammenballung“ von „Unternehmungen“), die öffentlich-demokratisch nicht mehr „kontrollierbar“ waren. Es mündete in der Weltwirtschaftskrise, die allein in Deutschland mit 6 Millionen Arbeitslosen verbunden war, und in den Faschismus. Aufgrund dieses strukturellen Zusammenhangs ist eine „Neuordnung“ der Gesellschaft erforderlich, bei der nicht mehr das kapitalistische Gesetz der Profitmaximierung – „das Gewinnstreben“ – im Zentrum steht. Um eine Wiederholung von Faschismus und Krieg zu verhindern, ist eine „gemeinwirtschaftliche Ordnung“ erforderlich, bei der „die Würde des Menschen“ im Mittelpunkt steht.

Und was haben wir derzeit? Eine derart „unkontrollierbare Zusammenballung“ von Kapital- und Geldmacht, wie es sie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gab. Eine tiefe europaweite Krise, die nur von derjenigen der Jahre 1929-32 übertroffen wird – die allerdings in Griechenland, Spanien, Portugal und – mit wenigen Abstrichen – in Italien ähnliche Formen angenommen hat. Schließlich sind wir Zeuginnen und Zeugen einer Politik, wie sie durchaus auch die Regierung Merkel und die EU verfolgen, die, insbesondere in Griechenland, die Würde des Menschen grundsätzlich missachtet – und dies nur aus einem Grund: weil die Profitmaximierung im Zentrum steht und weil Zinsgewinne wichtiger sind als zum Beispiel Kindersterblichkeit.

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