Krankenkassen drehen Gematik den Geldhahn zu – Versicherte fordern Stopp des aus dem Ruder gelaufenen Projekts

"Meine Krankenakte gehört mir!"Beitrag der Initiative Patientendaten vom 15. Januar 2015:

Obwohl für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) inzwischen mehr als 1 Mrd. Euro ausgegeben wurden, ist es der Entwicklungsgesellschaft Gematik, die für das Projekt verantwortlich ist, bisher nicht gelungen, ein funktionsfähiges System aufzubauen, das die versprochenen Vorteile ermöglichen würde. Nun haben die gesetzlichen Krankenkassen, die vom Gesetzgeber zur Finanzierung der Gematik verpflichtet wurden, die Haushaltsmittel für das Jahr 2015 in Höhe von weiteren knapp 60 Mio. Euro gesperrt [1]. Die Gematik wird damit praktisch handlungsunfähig.

Wahnsinn Teil 1 – die eGK als Schlüssel zum größten IT-Netz der Welt

Dieser Eklat ist das Ergebnis eines gigantischen Projekts, das zunehmend aus dem Ruder läuft. Was viele Versicherte nicht wissen: Die neue Gesundheitskarte „funktioniert“ nur in Verbindung mit der geplanten Vernetzung zwischen den IT-Systemen der Arztpraxen, Krankenhäuser, Apotheken und Krankenkassen, der sogenannten Telematikinfrastruktur. Rezepte, Arztbriefe etc., die zum Nutzen der Versicherten besser zwischen den Leistungserbringern ausgetauscht werden können sollen, werden nicht auf der eGK gespeichert, sondern auf Großrechnern im neuen Gesundheitsnetz, sobald dieses funktionsfähig ist. Mit Hilfe der eGK des Patienten können Arztpraxen, Krankenhäuser etc. dann darauf zugreifen. Die Gematik beschreibt das Projekt als „eines der größten und anspruchsvollsten IT-Projekte der Welt“ [2]. In diesem Netz aus rund 200.000 Ärzten, mehr als 20.000 Apotheken und über 2.000 Krankenhäusern sollen die Daten von 70 Millionen gesetzlich Versicherten ausgetauscht und verwaltet werden. „Die Frage ist nur: Wollen wir mit unseren Patientendaten als Versuchskaninchen für extrem ambitionierte IT-Projekte dienen?“ gibt Hanni Müller von der Initiative Patientendaten zu bedenken. „Alleine die Dimension macht Angst und lässt die Frage nach der Beherrschbarkeit eines solchen Netzes mit Millionen von Zugriffsberechtigten aufkommen. Schon lange haben Ärzte, Patientenverbände und Datenschützer das Projekt eGK kritisiert, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, endlich auszusteigen. Stattdessen sollten Standards für einen Austausch von Patientendaten entwickelt werden, der auf einer dezentralen Speicherung basiert.“

Wahnsinn Teil 2 – die eGK als Millionengrab für Mitgliedsbeiträge

Schaut man sich an, was hinter dem Konflikt zwischen Krankenkassen und Gematik steht, wird eine zusätzliche Dimension des Wahnsinns deutlich: Den Versicherten wird die Einführung der eGK damit schmackhaft gemacht, dass bessere Behandlungsmöglichkeiten durch einen besseren Informationsaustausch im Gesundheitssystem zur Verfügung stehen würden. Tatsächlich geht es um Geld. Für die Krankenkassen sollen Einsparungen erzielt werden, die sie nun endlich realisieren wollen, um die Kosten für die Einführung der eGK auszugleichen. Bereits 2006 hat die Beratungsgesellschaft Booz Allen Hamilton allerdings in einer Kosten-Nutzen-Analyse der eGK festgestellt, dass das Projekt nur dann rentabel werden könnte, wenn viele Versicherte die freiwilligen Funktionen wie die elektronische Patientenakte nutzen [3], die bisher gar nicht verfügbar sind.

Wahnsinn Teil 3 – die eGK als Instrument der Wirtschaftsförderung

Die an dem Aufbau des Gesundheitsnetzes beteiligten IT-Firmen verdienen durch die Aufträge, auch wenn bisher kein Nutzen für die Versicherten in Sicht ist. Darüber hinaus wittern sie ein gutes Geschäft, wenn sie die Patientendaten, die im Netz gespeichert werden sollen, für eigene Zwecke nutzen können: Gesundheitsdaten haben ein riesiges Marktpotential. Lobbyverbände und Vertreter von IT-Unternehmen im Gesundheitsbereich fordern daher verstärkt eine Lockerung des bisher geltenden Datenschutzes, um neue Geschäftsideen mit Patientendaten realisieren zu können [4]. Diese Forderungen fallen bei Bundesgesundheitsminister Gröhe auf fruchtbaren Boden, der immer wieder das große wirtschaftliche Potential betont, das in IT-Innovationen für das Gesundheitswesen stecke [5]. Er will nun die Krankenkassen mit dem neuen eHealth-Gesetz dazu zwingen, die Haushaltsmittel für die Gematik frei zu geben [6]. Die US-amerikanische Cerner Corporation, führender Anbieter von Krankenhaus-Informationssystemen (KIS) in den USA, hat die Auswertung von Patientendaten zum Geschäftsmodell gemacht. Gematik-Geschäftsführer Arno Elmer tritt mehrmals jährlich öffentlich zusammen mit dem Geschäftsführer von Cerner Deutschland, Holger Cordes, auf, um für innovative Visionen im Umgang mit Patientendaten zu werben. „Das Ganze ist ein Wirtschaftsförderungsprogramm zu Gunsten der IT-Industrie, das mit Geldern aus dem Gesundheitswesen finanziert wird“, kritisierte schon 2005 der Vorsitzende der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Bayern Dr. Janusz Rat [7].

Wahnsinn Teil 4 –Schikanierung von kritischen Versicherten

Für Versicherte, die die eGK daher nicht nutzen, sieht die Realität inzwischen so aus, dass sie zwar Beiträge zu ihrer Krankenversicherung bezahlen und damit einen Anspruch auf medizinische Leistungen haben, aber z.T. massiv schikaniert werden, wenn sie diese in Anspruch nehmen wollen. Die Techniker Krankenkasse beispielsweise stellt Ersatzbescheinigungen nur für jeweils einen Tag aus, so dass man sich für jeden Arztbesuch eine neue Bescheinigung holen muss. Eine Versicherte soll während eines mehrwöchigen Krankenhausaufenthalts jeden Tag bei ihrer Krankenkasse anrufen, um täglich eine neue Ersatzbescheinigung zu beantragen. Einzelne Krankenkassen weigern sich, die Ersatzbescheinigungen vor einem Arztbesuch zur Verfügung zu stellen, oder wollen diese nicht per Post zuschicken, sondern nur in die Arztpraxis faxen. Einzelne Ärzte wiederum weigern sich, ihre Fax-Nummer bekannt zu geben, andere können angeblich keine Überweisung mehr ausstellen, wenn die Ersatzbescheinigung nur einen Tag gültig ist. Manche weisen sogar Patienten mit einer Ersatzbescheinigung ab und verweigern die Behandlung, auch wenn sie aufgrund ihrer Kassenzulassung verpflichtet sind, Kassenpatienten zu behandeln.

Die Initiative Patientendaten fordert daher, den eGK-Wahnsinn endlich zu stoppen, bevor weitere Millionen an Mitgliedsbeiträgen sinnlos ausgegeben und die Sicherheit der Daten aller gesetzlich Versicherten in dem geplanten Gesundheitsnetz in beispielloser Form gefährdet werden.

1: http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/eklat-um-elektronische-gesundheitskarte-a-1011547.html externer Link

2: https://www.gematik.de/cms/de/egk_2/egk_3.jsp externer Link

3: http://dasalte.ccc.de/crd/whistleblowerdocs/20060731-Gesundheitstelematik.pdf?language=de externer Link

4: http://www.heise.de/newsticker/meldung/Elektronische-Gesundheitskarte-Mit-Koerpertrackern-vernetzen-2454873.html externer Link;
http://www.medizinrechts-beratungsnetz.de/medizinrechtstag/2014-berlin/cordes-dmrt-2014-berlin.pdf externer Link

5: http://www.bmg.bund.de/ministerium/meldungen/8-nationaler-it-gipfel.html externer Link

6: http://www.heise.de/newsticker/meldung/Elektronische-Gesundheitskarte-Wer-blockiert-dem-wird-gekuerzt-2517531.html externer Link

7: Dr. Janusz Rat, „KZV-Chef: Gesundheitskarte ist Wirtschaftsförderungsprogramm für IT-Industrie“, 12.12.2005, www.facharzt.de externer Link, für Mitglieder unter http://www.hippokranet.com/de/members/mycontacts?ref=http%3A%2F%2Fwww.facharzt.de%2Fcontent%2Fred.otx%2F188%2C41059%2C0.html externer Link


Die Initiative Patientendaten externer Link ist ein Zusammenschluss von Mitgliedern gesetzlicher Krankenkassen, die die elektronische Gesundheitskarte und die geplante Vernetzung im Gesundheitswesen, die sog. Telematikinfrastruktur, aus Datenschutzgründen ablehnen. Über die Telematikinfrastruktur sollen alle Leistungserbringer im Gesundheitssystem (Ärzte, Kliniken, Therapeuten, Apotheken) und die Krankenkassen vernetzt werden, um den routinemäßigen Austausch von Patientendaten zu ermöglichen. IT-Experten haben jedoch erhebliche Sicherheitsbedenken und weisen darauf hin, dass der Schutz personenbezogener Daten in einem derartigen System nicht gewährleistet werden kann. Die Initiative Patientendaten fordert daher, die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur zu stoppen.
Die Initiative Patientendaten ist Mitglied im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und Partner der Aktion „Stoppt-die-e-Card“.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=73597
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