Ärztlicher Widerstand gegen elektronische Gesundheitskarte und Telematik-Infrastruktur

Dossier

elektronische Gesundheitskarte - Merkel durchleuchtet„… Sehr geehrte Patientinnen und Patienten, Kolleginnen und Kollegen, im Gesundheitswesen passiert derzeit etwas Aussergewöhnliches: Über 40% der niedergelassenen Hausärzte und Fachärzte verhalten sich nicht gesetzestreu und verweigern den Anschluss ihrer Praxen an die sogenannte Telematik-Infrastruktur. Und ein großer Anteil derer, die ihre Praxen unter Zwang haben anschliessen lassen, lehnen die Telematik-Infrastruktur trotzdem ab. (…) Im Juli werden tausende Ärzte Widerspruch einlegen gegen die erste kassenärztliche Abrechnung, die den 1%-Abzug ausweist. Ich selbst werde dem Widerspruch den Text in der Anlage als Begründung beifügen. Der Titel lautet: ‚Mein ärztliches Gewissen und die Arztgeheimnis-Cloud‘ (…) Diese Cloud ist anders als jede andere. Hier werden nicht Fotos gespeichert oder Musik oder Filme, sondern die intimsten und persönlichsten Informationen über Menschen. Patientenakten unterliegen aus guten Gründen dem Arztgeheimnis. Daher nenne ich die Cloud die Arztgeheimnis-Cloud. Das Gesundheitsministerium und die IT-Firmen sprechen von ‚Zentraler Telematik-Infrastruktur‘ und von der ‚elektronischen Patientenakte‘. Wie viele Prozent der Patient*innen verstehen diese Begriffe? Kann der Datenschutz bei dauerhafter zentraler Speicherung gewährleistet werden?…“ Öffentlicher Brief von Wilfried Deiss, Hausarzt-Internist, bei patientenrechte-datenschutz.de vom 30. Juni 2019 externer Link. Siehe dazu:

  • TI-Verweigerung unter Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen: Mehrere Musterklagen gegen Honorarabzug beim Sozialgericht Stuttgart anhängig New
    Die Klagen sind Anfang Januar 2020 beim Sozialgericht Stuttgart eingereicht und begründet worden, die Argumente zwischen den Musterklägern und der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) wurden ebenfalls ausgetauscht. Die KVBW hat auch die Beiladung der Gematik zum Verfahren beantragt. „Wir warten nun auf einen Termin zur mündlichen Verhandlung durch das Sozialgericht“, erklärt Dr. Werner Baumgärtner, Vorstandsvorsitzender von MEDI GENO Deutschland. Gleiches gilt auch für die Musterverfahren zur unzureichenden  Erstattung der Installations- oder Betriebskosten für Praxen, die den TI-Konnektor installiert haben…“ Meldung vom 26. Juni 2020 bei patientenrechte-datenschutz.de externer Link
  • TI (-tanic) – Eisberg voraus? Bündnis für Patientendatenschutz im Gesundheitswesen veröffentlicht erste Ergebnisse 
    „“Am vergangen Samstag, 25.01.2020, versammelten sich mehr als 20 Verbände und Initiativen, die sich schon seit Jahren mit den Risiken und Nebenwirkungen der elektronischen Gesundheitskarte, der Telematik-Infrastruktur (TI)  und der elektronischen Patientenakte auseinandersetzen, zu einer ersten Konsensus-Konferenz in Kassel. Das Bündnis aus Ärzten *, Psychotherapeuten, engagierten Patienten, Patientenvertretern und IT-Spezialisten einigte sich auf die gemeinsamen Ziele: Schutz der Patientenrechte bezüglich Privatsphäre und Datenschutz in Einklang mit der EU-Menschenrechtskonvention; Verteidigung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung; Erhalt der Freiwilligkeit statt Zwang; Verteidigung des jahrhundertealten ethischen Prinzips des Berufsgeheimnisses in den Medizinberufen; und vor allem forcierte Öffentlichkeitsarbeit. Das Bündnis will die bisherigen Einzelaktionen konzentrieren und vor allem die Information der Patienten ins Visier nehmen. Vorgesehen sind juristische Maßnahmen zur Durchsetzung höchster Datenschutz-Standards im Gesundheitssystem, wie das bei intimsten medizinischen Daten selbstverständlich sein sollte, aber derzeit noch nicht feststellbar ist. (…) Die TI entspricht nicht den erforderlichen höchsten Sicherheits-Standards. Wir appellieren deshalb an die Bundesregierung und an die Bundestags-Abgeordneten: Setzen Sie die TI-Zwangsvernetzung aus, ehe in diesem höchst sensiblen Bereich ein unumkehrbarer Vertrauensverlust in die Digitalisierung entsteht! Das Gesundheitswesen ist kein Experimentierfeld, in dem man sich – Geschwindigkeit über Sorgfalt und Sicherheit stellend – Fehler erlauben kann! Treten Sie in einen offenen und ernsthaften Dialog über die vorhandenen Alternativen mit denjenigen Experten, die unabhängig sind und tatsächlich praktisch in den jeweiligen Feldern arbeiten! Treten Sie in einen offenen und ernsthaften Dialog mit der Basis, wo täglich Hunderttausende von Patientenkontakten stattfinden! Beim derzeitigen Stand der Unsicherheit fühlen wir uns verpflichtet, den Datenschutzgesetzen Vorrang vor dem SGB V einzuräumen und den Anschluss an die TI nicht zu vollziehen bzw. den Stecker zu ziehen…“ Gemeinsame Pressemitteilung vom 27. Jan 2020 des Bündnisses für Patientendatenschutz im Gesundheitswesen externer Link
  • “Meine Praxis bleibt bis auf weiteres TI-frei“ 
    Unter dieser Überschrift begründet Dr. med. Ewald Proll, Arzt für Psychiatrie / Psychotherapie aus Wuppertal auf seiner Homepage externer Link polemisch, gründlich und gut, warum er sich weigert, seine Praxis an die Telematik-Infrastruktur der gematik anzuschließen.Einige Auszüge: „TI heißt ‚Telematik-Infrastruktur‘. Auf der Homepage der gematik steht: … ‚Die Telematikinfrastruktur vernetzt alle Akteure und Institutionen des Gesundheitswesens miteinander und ermöglicht dadurch einen organisationsübergreifenden Datenaustausch innerhalb des Gesundheitswesens.‘ Klingt verlockend. Vorläufig schließe ích meine Praxis trotzdem nicht an dieses System an – auch wenn wenn ich damit gegen das Gesetz verstoße. Dafür werde ich nach §291 SGB 5 Abs. 2b mit Honorarabzug bestraft: ich kann nämlich ohne Anschluss keinen Versichertenstammdatenabgleich machen…“ Beitrag vom 28. Januar 2020 bei patientenrechte-datenschutz.de externer Link
  • Arzt über Zugriff auf Gesundheitsdaten: „Bei mir liegen sensible Daten“ – und verweigert die IT-Infrastruktur 
    Arztpraxen werden zur Digitalisierung gezwungen, kritisiert Psychotherapeut Andreas Meißner. Im kommenden Jahr will er Klage einreichen. Im Interview von Svenja Bergt vom 29.12.2019 in der taz online externer Link sagt er dazu: „… Einerseits befürchte ich, dass die Daten der Patienten nicht gut geschützt werden. Informatiker sagen, dass es hundertprozentige Sicherheit gar nicht geben kann. Und das ist umso problematischer, weil die Patientendaten zentral gespeichert werden sollen. Andererseits geht es um die Kosten: Die Milliarden, die die Entwicklung der elektronischen Gesundheitskarte und der ganzen IT-Infrastruktur dahinter schon gekostet haben, die hätten wir gut in anderen Bereichen brauchen können. Zum Beispiel in der Pflege oder in der ländlichen Versorgung mit Ärzten. (…) Ich glaube, auch wenn wir Ärzte das System einfach installiert bekämen und die Haftung und die Kosten woanders lägen, etwa beim Gesundheitsministerium –, selbst dann würde ich es nicht machen. Denn ich kann nicht garantieren, dass die Daten sicher sind. Und wie soll ich meinen Patienten ein System erklären, dass ich selbst nicht einmal verstehe? (…) die Daten, die bei mir liegen, sind besonders sensibel. Diagnosen wie Schizophrenie sind schon etwas anders als Blutwerte. Aber es gibt auch andere Fachgruppen wie Kinderärzte, Augenärzte oder Zahnärzte, die sich weigern. Ich glaube, der zentrale Punkt ist der Zwang. Es gibt den Zwang für uns Ärzte, sich dieser Infrastruktur anzuschließen. Es gibt den Zwang für Patienten, die elektronische Gesundheitskarte zu nutzen. Und den neuesten Zwang hat der Bundestag gerade erst beschlossen: dass nämlich die Abrechnungsdaten aller gesetzlich Versicherten an ein Forschungszentrum am Gesundheitsministerium weitergeleitet werden. Ohne Möglichkeit, dem zu widersprechen. So etwas sorgt für ein grundtiefes Misstrauen. (…) Ich werde einen Widerspruch gegen den Honorarabzug einreichen. Der wird abgelehnt werden, und dann klage ich. Gemeinsam mit anderen, es wird auch Branchenverbände geben, die Musterklagen machen. Ich hoffe vor allem, dass in der Konsequenz der Datenschutz einen höheren Stellenwert bekommt…“
  • Anm.: Was in diesem Zusammenhang auch beachtet werden sollte: Die Arbeitgeber haben einen großes Interesse an den Gesundheitsdaten ihrer abhängig Beschäftigten; ebenso die Argen und Jobcenter. Bis jetzt bietet das Arztgeheimnis hier einen gewissen Schutz. Existiert erst einmal eine solche Cloud, ist es für Gesetzgeber und Rechtsprechung einfach, Ausnahmen auf die zentrale Speicherung von Patientendaten zu kreieren. „Gründe“ für Ausnahmen vom Datenschutz fand man bisher immer.
  • Zur Kritik siehe unser Dossier: [Das Digitale Versorgungsgesetz (DVG)] „Statt“ Gesundheitskarte: Smartphone-Kontrolle?
  • Siehe auch: Gegen den Gläsernen Patienten – Klage gegen die Gesundheitskarte-Telematikinfrastruktur
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=151345
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