Dürfen Jobcenter die Vorlage ungeschwärzter Kontoauszüge verlangen?

Dossier

Die 1.000 Augen der Jobcenter - Veranstaltungsreihe in Berlin, März 2016„Immer wieder stellt sich in der Praxis die Frage, ob bzw. in welcher Form Jobcenter Kontoauszüge von Antragstellern erheben dürfen. Die Frage ist deshalb so relevant, weil Kontoauszüge teilweise sehr sensible Daten enthalten können, etwa besondere Warenbezeichnungen, Hinweise auf Straf- und Bußgeldzahlungen, Aussagen über bestimmte Parteizugehörigkeiten und besondere Arten personenbezogener Daten etc. Insgesamt können Kontoauszugsinformationen auch ein recht umfangreiches Bild über den Kontoinhaber vermitteln. Gleichwohl dürfen und müssen Jobcenter in vielen Situationen die Vorlage von Kontoauszügen verlangen. (…) Rund um die Kontoauszüge hat sich mit der Zeit eine relativ konkrete Ausgestaltung dieses Erforderlichkeitsprinzips ergeben, die nicht nur durch interne Arbeitsanweisungen der Jobcenter sondern auch durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (…) und Äußerungen der Datenschutzaufsichtsbehörden geprägt ist…“ Rechtliche Erläuterungen von Sven Venzke-Caprarese vom 29. Mai 2017 bei den datenschutz-notizen externer Link. Siehe u.a. Infos zur Rechtsgrundlage:

  • Bundessozialgericht: Jobcenter dürfen bis zu zehn Jahre Kontoauszüge speichern – aber nicht leistungsrelevante Kontodaten dürfen geschwärzt werden New
    „Die Vorgeschichte: Eine Frau bezog von Mai 2011 bis April 2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Jobcenter Oberspreewald-Lausitz. Anschließend forderte sie das Jobcenter auf, die bei ihr angeforderten Kontoauszüge von Girokonten aus ihrer Leistungsakte zu entfernen. Das Jobcenter lehnte dies ab (…) Mit Urteil vom 14.05.2020 [Az. B 14 AS 7/19 R] wies auch das Bundessozialgericht (BSG) die Klage [dagegen] ab. (…) Im Terminbericht des BSG wird dazu ausgeführt: Das Jobcenter beanspruche zu Recht, “sich bei Antragstellung Kontoauszüge vorlegen zu lassen und Kontoauszüge mit Angaben zu Zahlungseingängen für einen Zeitraum von zehn Jahren nach Bekanntgabe der Leistungsbewilligung zu speichern.“ – Der Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sei “auch bei einer zehnjährigen Speicherung verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Zwar sind davon überwiegend Leistungsbezieher betroffen, die für nachträgliche Korrekturen wegen nicht angegebener Einnahmen keinen Anlass geben. Jedoch können zum einen nicht leistungsrelevante Angaben über Zahlungsempfänger auf Kontoauszügen geschwärzt werden. Zum anderen ist die Einsicht in die Kontoauszüge auf zulässige Zwecke beschränkt. Das haben auch die Datenschutzbeauftragten zu sichern. Unter Berücksichtigung dessen ist die Speicherung der Kontoinformationen im Interesse der Allgemeinheit an der Sicherung eines rechtmäßigen Mitteleinsatzes auch den Leistungsbeziehern zumutbar, die von Rückforderungen wegen verschwiegener Einnahmen nicht betroffen sind, zumal sie ohnehin in weitem Maße für Änderungen im laufenden Bewilligungszeitraum benötigt werden.“ (…) Allen Menschen, die Leistungen nach SGB II („Hartz IV“) oder nach SGB XII (Sozialhilfe) beantragen sei empfohlen, 1. nicht leistungsrelevante Angaben über Zahlungsempfänger auf Kontoauszügen zu schwärzen, bevor sie Kontoauszüge vorlegen, 2. zu fordern, dass nur Kontoauszüge mit Angaben zu Zahlungseingängen in der (elektronischen) Akte des Jobcenters gespeichert werden und 3. bei Nichtbeachtung des BSG-Urteils durch ein Jobcenter – mit Bezug auf das Urteil des BSG – unmittelbar beim Datenschutzbeauftragten des jeweiligen Jobcenters Beschwerde einzulegen und Abhilfe zu fordern.“ Meldung vom 19. Mai 2020 von und bei dieDatenschützer Rhein Main (ddrm) externer Link
  • Rechtswidrig! Jobcenter Frankfurt Ost verlangt Vorlage ungeschwärzter Kontoauszüge
    “Bei der Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main gingen in den letzten Tagen Anfragen von Menschen ein, die Weiterbewilligungsanträge auf Leistungen nach SGB II („Hartz IV“) stellen wollten und dabei mit Aushängen in den Jobcentern Frankfurt Nord und Frankfurt Ost konfrontiert wurden. (…) Insbesondere die Aufforderung des Jobcenters Frankfurt Ost, ungeschwärzte Kontoauszüge vorzulegen, erscheint vor dem Hintergrund einer Stellungnahme des Bundesdatenschutzbeauftragten rechtlich mehr als zweifelhaft. (…) Warum das Jobcenter Frankfurt Ost eine von der Stellungnahme des Bundesdatenschutzbeauftragten abweichende Praxis verfolgt? Ggf. kann eine Anfrage auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes hier weitere Erkenntnisse erbringen…” Meldung vom 26. Juli 2019 von und bei der Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main externer Link und dazu:

    • Erwerbslose protestieren gegen ausufernde Schnüffelpraxis des Jobcenters Frankfurt 
      “… Insbesondere die Aufforderung des Jobcenters Frankfurt Ost, ungeschwärzte Kontoauszüge vorzulegen, erscheint vor dem Hintergrund einer Information des Bundesdatenschutzbeauftragten rechtlich mehr als zweifelhaft. Betroffene wehren sich! Zum Einen hat sich eine von der Aufforderung des Jobcenters Ost betroffene „Kundin“ am 01.08.2019 mit einer datenschutzrechtlichen Beschwerde an den Bundesdatenschutzbeauftragten (BfDI) gewandt. Diese Beschwerde hat die Betroffene der Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main zur Veröffentlichung in anonymisierter Form zur Verfügung gestellt. (…) Zum Anderen hat sich das Frankfurter Erwerbslosenbündnis „AufRecht bestehen“ in einem Brief vom 07.08.2019 an die Geschäftsführerin des Jobcenters Frankfurt gewandt und festgestellt: “… wir sehen uns veranlasst die neue Verwaltungspraxis der Frankfurter Jobcenter zu problematisieren, da SGB-II-Antragstellerinnen und Antragsteller einem Pauschalverlangen von Kontoauszügen ausgesetzt werden. Wir als Bündnis ‚AufRecht bestehen‘, einem Zusammenschluss aus verschiedenen Erwerbslosengruppen und –initiativen, erachten dies in mehrfacher Hinsicht insbesondere in Anlehnung an die Urteile des Bundessozialgerichtes (19.02.2009 – B 4 AS 10/08 R u. 19.09.2008 – B 14 AS 45/07 R) für hochproblematisch…” Dem schließt sich die Aufforderung an,die unbestimmte massenhafte Einsammlung von Kontoauszügen einzustellen und die Vorlagepflicht entsprechend der Bundessozialgerichtsurteile zu beschränken…” Meldung vom 19. August 2019 von und bei die Datenschützer Rhein Main externer Link
  • LfDI Baden-Württemberg veröffentlicht FAQ rund um Datenschutz und Sozialleistungen
    Der Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Baden-Württemberg hat am 23.01.2019 eine Liste häufig gestellter Fragen zum Thema Sozialleistungen veröffentlicht. Die Antworten der Aufsichtsbehörde sollen sowohl Bürgerinnen und Bürgern als auch den Sozialleistungsträgern als Information dienen. Das Dokument behandelt unter anderem, welche Aufsichtsbehörde für datenschutzrechtliche Fragen und Beschwerden über Sozialleistungsträger zuständig ist und ob Jobcenter und Sozialämter Kopien von Personalausweisen anfertigen dürfen. Weiterhin wird dargestellt, dass Jobcenter und Sozialämter bei der Beantragung von Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs auch ohne konkreten Verdacht des Leistungsmissbrauchs Kontoauszüge jedenfalls der letzten drei Monate anfordern dürfen…” Hinweis von Annika Freund vom 8. Februar 2019 bei Datenschutz-Notizen externer Link auf die FAQ externer Link
  • Noch zur Rechtsgrundlage in Rechtliche Erläuterungen von Sven Venzke-Caprarese vom 29. Mai 2017 bei den datenschutz-notizen externer Link: „… Eine Rechtsgrundlage für die Datenerhebung findet sich in § 67a Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) X. Demnach ist eine Datenerhebung zulässig, wenn ihre Kenntnis zur Erfüllung einer Aufgabe des Jobcenters nach dem SGB erforderlich ist. Die Erforderlichkeit für die Vorlage von Kontoauszügen ergibt sich z. B. aus der nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II vorgeschriebenen Prüfung der Hilfebedürftigkeit im Rahmen der erstmaligen Beantragung von Leistungen. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist in diesem Rahmen insbesondere das Vorhandensein von relevantem Einkommen und Vermögen zu prüfen. Und das geht in der Regel nicht ohne die Vorlage von Kontoauszügen. Die entsprechenden Kontoauszüge dürfen daher vom Jobcenter angefordert werden und es besteht sogar eine Mitwirkungspflicht. In der Regel reichen in diesem Rahmen aber die Kontoauszüge der letzten ein bis drei Monate. Da § 67a SGB den Jobcentern allerdings nur erlaubt, die Daten zu erheben, die (zwingend) erforderlich sind, gilt auch bei der Vorlage von Kontoauszügen der Grundsatz: So viel wie nötig aber so wenig wie möglich…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=154538
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