BVerfG kreiert Sonderrecht für Geheimdienstaktivitäten: Im besonderen Fall der NSA-Selektorenlisten hat das Vorlageinteresse des Untersuchungsausschusses zurückzutreten

Yes, we scan. Deal with it!? Plakat von Markus Beckedahl  Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Bundesregierung die NSA-Selektorenlisten nicht an den NSA-Untersuchungsausschuss herausgeben muss. Zwar umfasst das Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses dem Grunde nach auch die NSA-Selektorenlisten. Die Selektorenlisten berühren aber zugleich Geheimhaltungsinteressen der Vereinigten Staaten von Amerika und unterliegen deshalb nicht der ausschließlichen Verfügungsbefugnis der Bundesregierung. Eine Herausgabe unter Missachtung einer zugesagten Vertraulichkeit und ohne Einverständnis der Vereinigten Staaten von Amerika würde die Funktions- und Kooperationsfähigkeit der deutschen Nachrichtendienste und damit auch die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung nach verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Einschätzung der Regierung erheblich beeinträchtigen. Das Geheimhaltungsinteresse der Regierung überwiegt insoweit das parlamentarische Informationsinteresse, zumal die Bundesregierung dem Vorlageersuchen in Abstimmung mit dem NSA-Untersuchungsausschuss so präzise, wie es ohne eine Offenlegung von Geheimnissen möglich war, Rechnung getragen hat. Sie hat insbesondere Auskünfte zu den Schwerpunkten der Zusammenarbeit von Bundesnachrichtendienst (BND) und National Security Agency (NSA), zum Inhalt und zur Zusammenstellung der Selektoren, zur Filterung der Selektoren durch den BND sowie zur Anzahl der abgelehnten Selektoren erteilt. Insofern besteht nicht die Gefahr des Entstehens eines kontrollfreien Raumes und damit eines weitgehenden Ausschlusses des Parlaments von relevanter Information…“ BVerfG-Pressemitteilung vom 15. November 2016 externer Link zum Beschluss 2 BvE 2/15 vom 13. Oktober 2016 externer Link und unser Kommentar sowie neu einer von Heiner Busch vom 17. November 2016 beim Grundrechtekomitee:

  • Dem Kaiser, was des Kaisers ist: Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die NSA-Selektorenliste
    „Nachdem das Bundesverfassungsgericht schon im Oktober die G-10-Kommission abgebügelt hat, sind am Dienstag (15. November 2016) auch die Bundestagsfraktionen der Linken und der Grünen sowie die Vertreter*innen beider Parteien im NSA-Untersuchungsausschuss, Martina Renner und Konstantin von Notz, mit ihrer Klage gescheitert: Die Bundesregierung darf (…) dem Untersuchungsausschuss des Bundestags auch weiterhin eine Liste von (inaktiven) Selektoren vorenthalten. (…) Ärgerlich an dieser Entscheidung ist nicht nur ihr Ergebnis: Nicht nur die parlamentarische Kontrolle der Kooperation zwischen NSA und BND, sondern jeglicher grenzüberschreitender Zusammenarbeit der Geheimdienste, ist künftig auf die paar informatorischen Brosamen reduziert, die die Regierung von ihrem Tisch herunterfallen lässt. (…) Seit dem Volkszählungsurteil von 1983 haben linksliberale Kreise in diesem Land gedacht, dass das Bundesverfassungsgericht ihr natürlicher Verbündeter sei. Spätestens nach einer Entscheidung wie dieser sollte man sich darüber bewusst werden, dass das Gericht in starkem Maße von den politischen Kräfteverhältnissen abhängt – und deshalb auch manchmal zu katastrophalen Ergebnissen kommt.“ Kommentar von Heiner Busch vom 17. November 2016 beim Grundrechtekomitee externer Link
  • Anm.: Dieser Entscheidung des BVerfG fehlt nicht nur jede Basis im Grundgesetz, da Art. 44 GG bei der garantierten parlamentarischen Kontrolle kein Sonderrecht für die Geheimdienste kennt. Sie macht vor allem den Bock zum Gärtner, weil ein ausländischer Geheimdienst (NSA), der gegen deutschen Verfassungsrecht verstößt, aus nachvollziehbaren Gründen kein Interessen daran hat, dass dies offenkundig wird. Außerdem führt das BVerfG mit seiner Entscheidung einem Verzicht auf Schutz von Grundrechten durch die Legislative bereits dann ein, wenn sich die Exekutive ohne ausreichend überprüfbaren Nachweis auf den Zweck der „Terrorismusbekämpfung“ beruft (Glauben statt Wissen). Das erleichtert den für die Geheimdienste Verantwortlichen ihr möglicherweise verfassungswidriges Verhalten einer parlamentarischen Kontrolle zu entziehen. Anbetracht dessen, was bisher über die Zusammenarbeit von BND und NSA bekannt ist, ist diese Entscheidung beim besten Willen nicht nachvollziehbar – zumindest mit Blick auf Art. 20 Abs.3 GG.
  • Siehe auch: Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: G 10-Kommission ist im Organstreitverfahren nicht parteifähig und scheitert daher mit dem Antrag auf Herausgabe der NSA-Selektorenlisten
    „Die G 10-Kommission ist im Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht parteifähig. Sie ist weder oberstes Bundesorgan, noch ein durch das Grundgesetz oder durch die Geschäftsordnung mit eigenen Rechten ausgestatteter Teil des Bundestages. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden und damit im Organstreitverfahren gestellte Anträge der G 10-Kommission, die sogenannte NSA-Selektorenlisten herauszugeben oder zur Einsichtnahme bereit zu stellen, verworfen. (…) Einer Ausweitung des verfahrensrechtlichen Parteibegriffs steht entgegen, dass die G 10-Kommission keine verfassungsrechtlich notwendige Institution ist. Sie dient dem Grundrechtsschutz. Die Schutzdimension der Grundrechte kann aber nicht durch die G 10-Kommission im Organstreitverfahren geltend gemacht werden, sondern ist dem Verfassungsbeschwerdeverfahren vorbehalten“ BVerfG-Pressemitteilung Nr. 72/2016 vom 14. Oktober 2016 zum Beschluss 2 BvE 5/15 vom 20. September 2016 externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=107111
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