Ist der Art. 5 GG (Meinungsfreiheit) ein höheres Rechtsgut als Pflichten aus einem Arbeitsvertrag? Im Kapitalismus im Prinzip: Nein. Nur Solidarität zählt!

AI: Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht!Gesucht: Infos/ Erfahrungen/ Gerichtsurteile zu folgenden Annahmen: Der Art. 5 GG (Meinungsfreiheit) ist ein höheres Rechtsgut als Pflichten aus einem Arbeitsvertrag. Das könnte von praktischer Relevanz sein, wenn man zu einer Kundgebung während der Arbeitszeit will. (Klima)Demonstrationen ließen sich dann mit (Ankündigung und) Berufung auf Art. 5 GG besuchen – ohne Streik (mit unklarer Situation Re: Bezahlung) – aber eben auch ohne AG-Erlaubnis zu brauchen oder Urlaubstage einzusetzen. Auch warten auf Streikaufruf nicht nötig…“ Anfrage am 25.10.2019 von Uwe Fuhrmann bei Twitter externer Link – siehe dazu zwar keine Gerichtsurteile (gesucht!), aber „Zum Verhältnis von Arbeitspflicht, Meinungsfreiheit und Versammlungsrecht“ – Anmerkungen von Armin Kammrad vom 29. Oktober 2019 – wir danken und hoffen auf weitere!

 Zum Verhältnis von Arbeitspflicht, Meinungsfreiheit und Versammlungsrecht

Die Schülerbewegung „Fridays for Future“ tat und tut sich da leicht. Statt Schule Freitag regelmäßig für eine andere Klimapolitik demonstrieren – und das trotz gesetzlich verankerter Schulpflicht. Wie steht es aber mit der Teilnahme an solchen Kundgebungen von uns „ganz gewöhnlichen“ Werktätigen? Klar, wenn wir Glück haben und auch unser Chef für eine andere Klimapolitik ist, dürfen wir vielleicht zum Protest freinehmen, sei es als Urlaub, als Überstundenausgleich oder sogar bezahlt. Es gibt tatsächlich Unternehmen, die den Protest für eine andere Klimapolitik tatkräftig unterstützen, weil sie hierin auch Gewinnsteigerungsmöglichkeiten sehen. So wäre Greta Thunberg ohne die Unterstützung der vom PR-Manager und Börsenspezialisten Ingmar Rentzhog 2017 gegründeten schwedischen Aktiengesellschaft We Don’t Have Time AB nicht zu solcher bekannten Ikone geworden. Was ist jedoch, wenn der Chef da absolut nicht mitmachen will und auf Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Arbeitsvertrag besteht und keine „Fridays for Workers“ unterstützen will?

Will man sich der rechtlichen Seite dieses Problems nähern, empfiehlt sich zunächst eine Unterteilung des Arbeitsrechts, wie sie RA Rolf Geffken in der Neuauflage seines Handbuches für Beschäftigte 2019 „Umgang mit dem Arbeitsrecht“ vorgenommen hat. Das Arbeitsrecht umfasst nach ihm das Individualrecht, das bürgerliche Recht, und das Kollektivrecht der Gewerkschaften und gewerkschaftlicher Kollektive. Der Unterschied ist gravierend, wie Rolf Geffken betont: „Während der vereinzelte Arbeiter als individueller Anbieter und Besitzer seiner Arbeitskraft hoffnungslos unterlegen ist, wird erst der kollektive Anbieter der Arbeitskraft, die Gewerkschaft, zum wirklichen Kontrahenten des Unternehmers“ (S.40). Diese Unterscheidung spielt auch bei der Frage einer Teilnahme an Protesten zur Klima- und Umweltpolitik oder anderen Massenprotesten eine Rolle. Wie man, trotz Arbeitspflicht, trotzdem mitprotestieren kann, ist arbeitsrechtlich hier sogar besonders schwierig zu beantworten. Deshalb möchte ich auch meine Antwort in den individualrechtlichen und kollektivrechtlichen Aspekt unterteilen.

1. Geht die Ausübung der Meinungsfreiheit den Pflichten aus dem Arbeitsvertrag vor?

Jein. Die Frage ist falsch gestellt. Mit Ausnahme von besonders Beamten, darf jeder seine Meinung nicht nur in der Freizeit, sondern auch innerhalb des Arbeitsverhältnisses vertreten – solange die Ausübung des Grundrechtes aus Art. 5 GG nicht gegen die Pflichten aus dem Arbeitsvertrag verstößt oder gar strafrechtlich relevant ist (die Bezeichnung „Kapitalist“ stellt übrigens keine Beleidigung dar). Durch Vertrag eingeschränkte Meinungsfreiheit hat beim Recht auf Teilnahme an einer Kundgebung (das Versammlungsrecht nach Art. 8 steht ja sachlich in einem engen Zusammenhang mit Art. 5 GG) eine zentrale Bedeutung, stellt jedoch keinen Verstoß gegen die Verfassung dar. Das ergibt sich aus dem Vertragsrecht: Wer nach § 611 BGB einen Arbeitsvertrag unterzeichnet, tut dies nach herrschender Rechtsauffassung freiwillig. Dass dies faktisch nicht stimmt, dass der Arbeitsvertrag „nur noch beschränkte Wahlfreiheit bietet“ und der Kapitalismus, „bereits den freien Vertrag auf dem Arbeitsmarkt abgeschafft hat“, war selbst dem Ökonom Joseph Schumpeter schon 1949 klar („Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“, 2005, S. 229f). Trotzdem ist dies bis heute ein nahezu unhinterfragtes Rechtsdogma. Zwar erwähnt hier und da auch das BAG die schwächere Verhandlungsposition des abhängig Beschäftigten. Aber Arbeitspflicht ist Arbeitspflicht, sobald man den Vertrag unterzeichnet hat (ein Arbeitsvertrag kann u.U. auch durch nur mündliche Absprache zustande kommen). Und – wie gesagt – man muss ja nicht, kann kündigen und so sein Grundrecht aus Art. 5 GG völlig unabhängig von jeder vertraglichen Verpflichtung ausüben.

Solche Einschränkungen durch das Vertragsrecht sind übrigens sogar dem Art. 5 GG selbst zu entnehmen. Enthält doch dessen Absatz 2 Schrankenbestimmungen, zu denen auch „die Vorschriften der allgemeinen Gesetze“ (z.B. BGB) gehören. Allerdings gehören neben dem BGB auch alle anderen gesetzlichen Vorschriften, die – wie z.B. Arbeitschutzgesetze, Betriebsverfassungsgesetz usw. – die Vertragsfreiheit nach dem BGB einschränken, dazu. Dies ist auch erforderlich und absolut wünschenswert. Waren vor Verabschiedung des BGB 1900 doch nicht nur die Vertreter der Arbeiterbewegung gegen das BGB. Selbst der eher konservativen und völkisch eingestellte Jurist Otto v. Gierke sah 1889 im BGB eine „einseitig kapitalistische Tendenz des reinsten Manchestertums“, und hielt es für „gemeinschaftsfeindlich“, da das BGB nur „auf die Stärkung des Starken gegen den Schwachen“ zielen würde („Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht“, S.3). Manches hat sich verbessert, doch das meiste nicht: Das Bürgerliche Gesetzbuch ist in dem Sinne bürgerlich geblieben, wie es unterschiedliche wirtschaftliche und existenzielle Machtverhältnisse formal gleichsetzt – meist zum Nachteil des schwächeren Teils und dessen verfassungsrechtlichen Grundrechte. Ein Verzicht auf Meinungsfreiheit aufgrund eines Arbeitsvertrages, ist insofern nur formal freiwillig.

Allerdings gibt es bei dieser Einschränkung auch Grenzen, die jedoch einmal nachvollziehbar, dann aber wieder kritisch gesehen werden müssen. Der Grund besteht nicht zuletzt auch in der richterlichen Interpretation und Fortentwicklung des bürgerlichen Rechts. So gibt es nach herrschender Meinung neben den vertraglichen Haupt- auch Nebenpflichten. So enthält wörtlich § 611 BGB zwar nur den Rechtsgrundsatz von Leistung gegen vereinbarte Vergütung. Hineininterpretiert werden jedoch in diesen Paragraphen jede Menge Nebenpflichten. Dies wird abgeleitet aus § 241 Abs. 2 Allgemeinen Teil des BGB, also aus jenem Teil, der für alle Schuldverhältnisse gelten soll, und entsprechend dem Vertragsgegenstand (z.B. Miet- oder Arbeitsvertrag) sehr unterschiedliche Nebenpflichten begründet. Übergreifend ist nur die Verpflichtung jeden Teils des vertraglichen Schuldverhältnisses „zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils“. Und genau diese Nebenpflichten sind es, die neben ausdrücklichen Vertragsvereinbarungen, Grundrechte Grenzen setzen können (nicht müssen), wie auch der Meinungsfreiheit.

Weil es sich jedoch um eine Verpflichtung beider Teile handelt, ergeben sich auch für beide Teile Nebenpflichten. Eine sog. Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ist sogar mit §§ 618 BGB gesetzlich verankert. Was speziell die Meinungsfreiheit im Arbeitsprozess betrifft, legt das BetrVG sogar ein Beschwerderecht fest. Wenn ein Betriebsrat besteht, besteht nach § 45 BetrVG sogar auf Betriebsversammlungen ein sehr umfangreiches Recht auf freie Rede, was sogar umweltpolitische Fragestellungen beinhalten kann, sofern sie mit betriebliche Belangen verbunden sind. Auf diese Möglichkeit, Klimaproteste in den Betrieb über die Betriebsversammlung einzubringen, macht auch jüngst „Students for Furture“ aufmerksam (vgl. express Nr. 10/2019, S. 3). Interessant ist dieser Vorschlag auch, weil damit ein kollektives Verhalten zum Protest von „Friday for Future“ gefördert und das Resultat sein kann (dazu mehr unter Pkt.2 unten).

Umgekehrt bestehen arbeitsvertragliche Nebenpflichten für die abhängig Beschäftigten. Zu nennen ist hier besonders die sog. „Treuepflicht“, wozu auch gehört, dass sich der Arbeitgeber auf die vereinbarte Leistungserfüllung durch Arbeit verlassen muss. Allerdings gilt hier nicht mehr die, vom ersten BAG-Präsidenten und früheren Nazi-Juristen, Hans Carl Nipperdey, ausformulierte Treue im Sinne von Gefolgschaft. „Treue“ als Nebenpflicht kann heute nur noch sinnvoll im Sinne des Vertragsrechtes verstanden werden, auch wenn es unter § 242 BGB noch sehr altertümlich heißt „Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern“. Tatsächlich prägte Nipperdey 1952 leider sehr erfolgreich die waghalsige Rechtsauffassung, dass ein Streik gegen die „Verkehrssitte“ verstoßen würde, da nicht „sozialadäquat“. Er konstruierte dazu ein „Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“, was leider bis heute noch als Rechtsgrundsatz überlebt hat, obwohl es gar nicht wörtlich im BGB zu finden ist. Er leitet dies schlichtweg aus dem Schadensersatzanspruch einer Verletzung von „sonstigen Rechte“ aus § 823 BGB ab  – wie schon vor ihm im Kaiserreich das Reichsgericht 1906. Das BAG beschränkte diese Rechtsfortbildung nicht nur auf unmittelbare Eingriffe, sondern auf jede Beeinträchtigung. Das führte letztlich dazu, dass die Klassenauseinandersetzung immer vertraglicht werden muss (Stichwort: „Friedenspflicht“) und damit dem Streik Grenzen durch das bürgerliche Recht gesetzt wurden.

Doch ergibt sich daraus auch, dass die Rechtmäßigkeit bei der Einschränkung von Grundrechten noch nicht allein mit dem Verweis auf Gesetze, wie im BGB, immer erledigt ist. Gerade das BGB ist auch ein von der richterlichen Rechtsetzung geformtes Recht. Vieles ist gerade beim Arbeitsrecht reine Interpretation der Arbeitsgerichte. So ließe sich beispielsweise durchaus aus den arbeitsvertraglichen Nebenpflichten auch ein Recht ableiten, was im Falle von „Fridays for Future“ zumindest unbezahlte Arbeitsbefreiung ermöglichen würde, schlichtweg wegen der Bedeutung für den abhängig Beschäftigten (Fürsorgepflicht). Aber das ist meine Ableitung und hat nichts Allgemeinverbindliches. Wer es trotzdem riskieren will, sollte zumindest darauf achten beim Fernbleiben vom Arbeitsplatz nicht eine fristlose Kündigung zu riskieren. Allerdings ist bei einer Abmahnung auch Vorsicht geboten, da deren Bedeutung ja darin besteht, Vertragsverletzungen für die Zukunft auszuschließen. Natürlich ist alles auch eine Frage des Kräfteverhältnisses und der Solidarität. Da haben uns die Schüler von „Fridays for Future“ sogar vorgemacht, dass man geltendes Recht durch massenhafte Aktion ändern, bzw. zumindest aktuell, außer Kraft setzen kann.

2. Nur Solidarität zählt!

Wichtig ist beim kollektiven Verhalten zunächst, dass die Teilnahme an einem außerbetrieblichen Protest, zwar eine Wahrnehmung des Rechts auf Versammlung nach Art. 8 GG ist, jedoch noch kein Streik und in sofern Art. 9 GG gar nicht tangiert. Wird im Betrieb – wie auch immer – eine Teilnahme am Klimaprotest durchgesetzt, ist die Teilnahme kein Streik, auch kein politischer. Erst eine Versammlungsteilnahme gegen den erklärten Willen des Arbeitgebers kann als zeitlich begrenzter Streik interpretiert werden.

Nach Art. 9 GG (aber auch mittelbar nach Art. 12 GRCh und Art. 11 EMRK) dürfen Arbeitskämpfe „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ geführt werden. Und eines ist wohl unstrittig: Ohne entsprechende klimatische Umweltbedingungen lässt sich hier nichts wahren oder gar fördern. Es ist also in sofern schon fraglich, ob sich solcher Streik nicht bereits aus dieser Beschränkung ableiten lässt. Zu einem politischen Streik wird er ja erst durch seinen Adressaten, der nicht mit dem Arbeitgeber identisch sein wird, den man die Arbeit streikbedingt verweigert (Ausnahme vielleicht: Autoindustrie, wo eine betriebliche Orientierung auf mehr klimafreundliche Kfz denkbar wäre). Das Hauptproblem besteht jedoch im bürgerlichen Recht: Mit wem sollen die Protestierenden einen Vertrag abschließen? Wie oben erwähnt, ohne Vertragsrecht kein Streikrecht – so soll es angeblich unumstößlich sein und bleiben.

Maßgeblich sind hier die Gewerkschaften. Sie könnten zum politischen Streik für eine andere Umweltpolitik durchaus aufrufen. Zwar riskieren sie u.U. Schadensersatzforderungen, aber machen dann zumindest aus einer nur individualrechtlichen Problematik ein kollektives Problem, wie umgekehrt die Gewerkschaft umso stärker ist, je mehr Unterstützung sie von unten bekommt.

Zu beachten sind hierbei besonders zwei rechtliche Aspekte:

  1. ist das Verbot von politischen Streiks eine spezielle deutsche Angelegenheit, die sich bereits in der EU stark von anderen staatlichen Regelung mehr oder weniger unterscheidet; nach EU-Recht ist dieses Verbot nicht bindend.
  2. ist dieses Verbot Ausfluss des bürgerlichen Rechts, was von seiner ganzen Anlage her immer schon streikfeindlich war; das Recht sichert hier gewissermaßen nur jenen Status quo, den auch die Klimapolitik der Bundesregierung kaum antasten will.

Im Endeffekt, müssten man es einfach probieren. Recht soll der gesellschaftlichen Praxis dienen und nicht umgekehrt. Es ist auch gar nicht gesagt, dass eine Teilnahme an Protest gegen den erklärten Willen des Unternehmers wirklich zu Nachteilen (Entlassungen) führen. Schließlich braucht der Betrieb „seine Leute“ – auch wenn sie nun massenhaft die Arbeit temporär aus Protest verweigern. Und wo kein Kläger ist auch kein Richter. Anders gesagt: Gerade die entschlossene Teilnahme aus den Betrieben, kann zum Einlenken und Absehen von Bestrafung führen. Bei den Schülern war es genau so herum. Und es hat funktioniert, wenn bisher leider nur dort.

Anmerkungen von Armin Kammrad vom 29. Oktober 2019 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=156411
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