BVerfG: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Verurteilung als „faktischer Leiter“ einer nicht angemeldeten Versammlung – und ein Kommentar von Armin Kammrad

Demonstrationsrecht verteidigen!„Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats die Verfassungsbeschwerde eines Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung angenommen, der aufgrund der tatsächlichen Ausübung der Leitungsfunktion bei einer nicht angemeldeten öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel nach § 26 Nr. 2 VersammlG schuldig gesprochen worden war. Zur Begründung hat sie insbesondere angeführt, dass die Gesetzesauslegung der Fachgerichte, der zufolge auch der „faktische Leiter“ einer nicht angemeldeten Versammlung als tauglicher Täter nach § 26 Nr. 2 VersammlG angesehen werden kann, weder gegen das strafrechtliche Analogieverbot noch gegen das Schuldprinzip verstößt. Die Entscheidungen im konkreten Fall sind auch mit der Versammlungsfreiheit vereinbar, da der Gefahr einer – vom Gesetzgeber nicht gewollten – Sanktionierung der bloßen Teilnahme an einer nicht angemeldeten Versammlung durch eine restriktive Auslegung der Rechtsfigur des „faktischen Versammlungsleiters“ Rechnung getragen worden ist. (…) Nach den fachgerichtlichen Feststellungen organisierte der Beschwerdeführer am 11. Februar 2017 eine Demonstrationsveranstaltung auf einer Brücke, an der vier weitere Aktivisten der Anti-Atom-Bewegung mitwirkten. Im Rahmen der Veranstaltung seilten sich zwei Personen unter Zuhilfenahme eigens mitgebrachter Kletterausrüstung von der Brücke ab und spannten ein schwarzes, beschriftetes Banner auf, wobei sie vom Beschwerdeführer unterstützt wurden und dessen per Funk gegebenen Anweisungen folgten. Nach Aufforderung durch den Beschwerdeführer rollten beide Kletterer das Banner unverzüglich ein und seilten sich auf. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts waren die teilnehmenden Personen aus verschiedenen Orten angereist, hatten das Banner und die Kletterausrüstung bereits mitgeführt und die Presse vorab von der Veranstaltung informiert, eine Anmeldung der Versammlung aber unterlassen. (…) Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt, da sie unbegründet ist…“ BVerfG-Pressemitteilung Nr. 55/2019 vom 15. August 2019 zu Beschluss 1 BvR 1257/19 vom 9. Juli 2019 externer Link – siehe dazu einen umfangreichen Kommentar von Armin Kammrad vom 15. August 2019 – wir danken!

Das ungeliebte Versammlungsrecht: Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit mit dem Inhalt von Art. 8 Grundgesetz

Ich habe mich anlässlich der obigen Entscheidung für einen Kommentar dazu entschieden, weil deren praktische Bedeutung anbetracht des Rechts „sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“ (Art. 8 Abs.1 GG) weit über den konkreten Fall hinausgeht. Hier ist die fehlende Anmeldung sogar leicht nachvollziehbar: Die Abseilaktion wäre bei vorheriger Anmeldung mit großer Wahrscheinlichkeit von der Polizei zielgerichtet unterbunden worden, obwohl nun gerade bei dieser Aktion der höchstgerichtlich geforderte (z.B. BVerfGE 69, 315) enge Zusammenhang von Art. 5 (Meinungsfreiheit) und Art. 8 GG durch das Transparent eigentlich nicht zu übersehen ist.

Tatsächlich sind alle die Versammlungsfreiheit beschränkenden Gesetze an der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung dazu zu messen. Denn es soll (oder schon sollte?) ja gerade verhindert werden, dass der Gesetzgeber das Versammlungsrecht – und damit einen zentralen Bestandteil der Verfassung – aushebelt. Diesem Anliegen müsste auch das Verfassungsgericht entsprechen. Dem kommt jedoch die Kammerentscheidung des Ersten Senats nicht einmal ansatzweise nach, wenn sie das Recht vertritt: „Als Leiter einer Spontanversammlung ist daher nach der Rechtsprechung namentlich anzusehen, wer den Ablauf der Versammlung, die Reihenfolge der Redner und schließlich auch die Unterbrechung oder Schließung der Versammlung bestimmt, wobei es darauf ankommt, dass der Leiter diese Funktionen übernommen hat und die Teilnehmer mit deren Ausübung durch ihn einverstanden sind“ (PM). Somit findet man immer einen „faktischen Leiter“ und sei es nur, weil dieser – wie in diesem Fall – über Funkkontakt die Sicherheit der sich abseilenden Menschen überwacht. Es wäre deshalb eher Aufgabe des Gerichtes gewesen, das Grundrecht auf Nichtanmeldung einer Versammlung zu verteidigen, statt eine nicht angemeldete Versammlung in ein, dem Grundrecht nachgeordnetes Versammlungsgesetz zu pressen.

Eine wirklich annehmbare verfassungskonforme Auslegung von Art. 8 GG gab demgegenüber der frühere Verfassungsrichter Konrad Hesse, der bereits 1999 die Regelung eines Verbots bei fehlender Anmeldung im VersG (§ 15) kritisierte („Grundzüge des Verfassungsrechts“, C.F.Müller Verlag, 1999, Rdnr.408), weil sie nicht Spontanversammlungen berücksichtigt, „die nur um den Preis einer Verfälschung oder eines Verlustes ihres Sinnes rechtzeitig hätte angemeldet werden können“, was wohl auf diesen Streitfall eindeutig zutrifft (vgl. oben). Zwar akzeptiert nun auch die 2. Kammer ausdrücklich spontane Versammlungen, allerdings nur um ihnen den eigentlichen verfassungsrechtlichen Inhalt zugleich wieder zunehmen. Während Hesse als früherer Richter des gleichen Senats zu Spontanversammlungen noch vertrat: „Die Strafbestimmung des § 26 Nr.2 ist nicht anwendbar“ (a.a.O.), versucht nun die 2. Kammer durch eine Einpassung von Spontanversammlungen in die Bestimmung von § 26 Nr.2 mit ihrem Konstrukt eines „faktischer Leiters“ diese durch den Gesetzgeber trotzdem regelbar und strafrechtlich verfolgbar zu machen. So ändern sich die Zeiten – leider auch bei der höchstrichterlichen Handhabung von Grundrechten.

Doch weicht die Kammer auch aus einem weiteren Grund von der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ab, ohne dies jedoch kenntlich zu machen. Sofern nämlich der spontane Charakter einer Versammlung anerkannt wird, darf die Ausübung des Versammlungsrechts nur zum Schutz anderer, mindestens gleichwertiger Rechtsgüter unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzt werden. Hier sollte die Kammer des Ersten Senats vielleicht mal selbst im Archiv der BVerfGE nachschauen (vgl. BVerfGE 69, 348f). Doch die Kammer setzt sich mit dieser („eigenen“) Anforderung nicht einmal ansatzweise auseinander. Stattdessen wird der für die Demokratie des Grundgesetzes gefährliche Weg beschritten, dem Gesetzgeber bei der Rechtskonstruktion zur strafrechtliche Verfolgung im Falle einer Grundrechtswahrnehmung behilflich zu sein – oder wie es in der BVerfG-PM selbst heißt: „§ 26 VersammlG verwendet mit dem Tatbestandsmerkmal des „Leiters“ einen auslegungsfähigen Rechtsbegriff, den die Norm selbst nicht definiert“ Irrtum: Art. 8 GG ist so eindeutig, dass eine – zumindest nicht verfassungskonforme – Auslegung gar nicht möglich ist; nicht wer seine Grundrechte wahrnimmt, muss dies verfassungskonform begründen, sondern wer sie durch Gesetz einschränken will. Auch das ein Anspruch aus der Vergangenheit?

Faktisch unterstützt mit dieser kritikwürdigen Entscheidung der 2. Kammer des Ersten Senats nur die Angriffe auf Artikel 8 und auch Artikel 5 Grundgesetz – und zwar ohne Not, freiwillig und wohl eher ideologisch als sachlich geprägt. Doch so wenig Grundrechtsorientierung dürfen wir nicht stillschweigend hinnehmen. Demokratie ohne Freiheit zur praktizierten Opposition ist keine.“

Kommentar von Armin Kammrad vom 15. August 2019 – wir danken!

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