Geflüchtete und Migrantinnen in (Aus)bildung und auf dem Arbeitsmarkt

lunapark21 - zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie. Heft 33: Wletwirtschaft - schwere Last an dünnem Seil, Frühjahr 2016Artikel von Gisela Notz in lunapark21 – zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie, Heft 33, Frühjahr 2016 externer Link. Wir danken!

„Sie wollen arbeiten, zur Schule gehen und sich frei in Deutschland bewegen können!“ Das titelte der Tagesspiegel bereits am 5. Oktober 2012, als rund 70 Asylbewerber und -bewerberinnen mit ihrem Protestmarsch von Würzburg aus in Berlin ankamen, um auf die menschenunwürdige Situation in den Asylantenheimen aufmerksam zu machen. Sie protestierten u. a. gegen Arbeitsverbote und Abschiebepraxis. Seitdem ist viel passiert. Die Anzahl der Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, stieg bis vor kurzem stetig an. Als Geflüchtete erscheinen vor allem junge Männer. Rund 40 Prozent der Geflüchteten, die in Deutschland angekommen sind, sind weiblich; weltweit sind es über 50 Prozent.

Migrantinnen und Geflüchtete in Deutschland

Die Gründe für die Einwanderung nach Deutschland und Europa sind vielfältig: Persönliche, kulturelle, religiöse, politische, soziale, wirtschaftliche Gründe, umwelt- und klimabedingte Veränderungen und nicht zuletzt gewaltsame Konflikte und Kriege. Das Völkerrecht zieht eine Trennlinie zwischen Menschen, die zur Flucht gezwungen sind (Flüchtlinge), und Menschen, die aus eigenem Antrieb ihr Land verlassen (Migranten). Diese Trennlinie zu ziehen, ist nicht immer einfach. Auf dem Arbeitsmarkt haben sie ähnliche Probleme.

Frauen flüchten vor Krieg, Armut und Umweltkatastrophen; aber auch vor geschlechterbasierterGewalt, der sie besonders in Kriegsgebieten ausgesetzt sind. Menschen auf der Flucht leben unter äußerst schwierigen Verhältnissen – die Situation von Frauen auf der Flucht ist aufgrund geschlechtsspezifischer Diskriminierungen besonders dramatisch. In der alltäglichen Praxis der bundesdeutschen und europäischen Flüchtlingspolitik findet dies jedoch keine Berücksichtigung. Auch bei den Protesten und wichtigen Forderungen von Organisationen und Gruppen, die sich für die Geflüchteten einsetzen, werden die Frauen leider oft vergessen.

Willkommen in der multikulturellen Gesellschaft?

Migration und Integration sind konstitutive Merkmale der deutschen Sozial- und Gesellschaftsstruktur und zu einer gesellschaftlichen Daueraufgabe geworden. Die viel verwandten schwammigen Begriffe von der „multikulturellen Gesellschaft“ und einer „neuen Willkommenskultur“ könnten als ein Indikator für ein sich wandelndes Politik- und Selbstverständnis in Deutschland gelesen werden. Der großen Solidarität der Bevölkerung mit den Geflüchteten stehen jedoch Abwehrbewegungen gegenüber und die Zahl der fremdenfeindlichen Übergriffe (nicht nur) auf die Unterkünfte Geflüchteter, steigt. Während der Januar- und der ersten Februarwoche zu Beginn des Jahres 2016 verging in der Bundesrepublik kein Tag, an dem nicht mindestens eine Unterkunft attackiert wurde. Deshalb fragen Geflüchtete auch, wie weit „Refugees welcome“ tragen kann, solange ihr Alltag von der Ausgrenzung in Sammelunterkünften, von rassistischen Sondergesetzen wie dem Asylbewerberleistungsgesetz und der Angst vor Abschiebung bestimmt ist. Warum werden die Grenzen nicht geöffnet, wie es unter anderem Pro Asyl fordert? Warum werden diejenigen, die die Geflüchteten politisch unterstützen, immer wieder in ihrer Arbeit behindert? Politikerinnen und Politiker lamentieren über „Flüchtlingsproblematik“ anstatt sich über Rassismus und die Angriffe von Nazis und Pegida zu empören und dagegen aktiv zu werden. Parteien und Politiker nutzen die „Willkommenskultur“, um Deutschland trotz massiver Asylrechtsverschärfungen als (fremden-) „freundliches“ Land darzustellen. Die positive Einstellung hängt oft damit zusammen, dass Einwanderung angesichts des demografischen Wandels und des prognostizierten Fachkräftemangels in der Wirtschaft notwendig und für Deutschland vorteilhaft sein kann. Laut der Bundesagentur für Arbeit kann der deutsche Arbeitsmarkt jährlich 350.000 Geflüchtete aufnehmen. Nicht jeder könnte eine bezahlte Arbeit finden; aber viele. Der Weg für Geflüchtete und Migrantinnen in den Arbeitsmarkt sei lang, es könne 12 bis 13 Jahre dauern, bis 75 Prozent der Geflüchteten eine bezahlte Arbeit finden können.

Tatsächlich würde das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland ohne Einwanderung bis 2060 um mehr als 20 Millionen zurückgehen. Dass die Einwanderung auch volkswirtschaftlich positive Effekte hat, stellte unlängst Holger Bonin vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim fest:  Die „Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft“ zahlten über 22 Milliarden Euro mehr an den Staat, als sie zurückerhielten. „Unser Land“ profitiert also von qualifizierter Zuwanderung. Und, oft vergessen: Gleichzeitig verlieren die Herkunftsstaaten wertvolle Fachkräfte.

Migrantinnen auf dem bezahlten Arbeitsmarkt

Um Menschen eine Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, sind vor allem zwei Voraussetzungen notwendig: Das erste ist eine menschenwürdige Unterkunft und das zweite ist eine Integration in den existenzsichernd bezahlten Arbeitsmarkt. Nur wenn Menschen ein Dach über dem Kopf haben, können sie auch festen Boden unter die Füße bekommen und nur, wenn sie eine Arbeit im ersten Arbeitsmarkt finden, können sie auch wirtschaftlich unabhängig und selbständig werden. Das trifft auf Frauen und Männer, auf Migrantinnen und Geflüchtete zu. Als Selbstverständlichkeit wird das weder in den politischen Debatten gesehen, noch durch gesetzliche Regelungen unterstützt.

Der komplizierte Zugang zum Arbeitsmarkt wird oft mit mangelhaften Sprachkenntnissen oder – besonders häufig bei Frauen – mit einem niedrigen Qualifikationsniveau begründet. Insgesamt liegt das Qualifikationsniveau der Einwandernden jedoch auf einem hohen Niveau. So lag in den Jahren 2000 bis 2010 bei Migrantinnen und Migranten aus Drittstaaten und aus anderen EU-Mitgliedsländern der Anteil der akademisch Ausgebildete weit über dem Akademikeranteil der in Deutschland lebenden Bevölkerung ohne „Migrationshintergrund“.

Das Vorurteil der geringen Bildungsbereitschaft beginnt bereits mit Blick auf die familiäre Sozialisation. Aus Studien des Deutschen Jugendinstituts geht hervor, dass sich Personen mit Migrationshintergrund aus allen drei Migrationsgenerationen hinsichtlich des Umfangs familialer Bildungsaktivitäten grundsätzlich nicht von Personen ohne Migrationshintergrund unterscheiden. Allerdings existieren signifikante Unterschiede beim Bildungserfolg. Während in der 2. Generation bereits deutlich mehr Personen im Bildungssystem erfolgreich sind als in der 1. Generation (57 % gegenüber 46 %), nimmt dieser Anteil in der 3. Generation nochmals auf nunmehr 69  Prozent zu. Hier übertrifft er sogar die Gruppe ohne Migrationshintergrund (64 %). Dennoch sind an Hauptschulen junge Menschen mit Migrationshintergrund nach wie vor über- und an Gymnasien unterrepräsentiert. 40 Prozent machten 2012 einen Hauptschulabschluss und mehr als 11 Prozent verließen die Schule ohne einen solchen. Das sind mehr als doppelt so viele wie unter den Gleichaltrigen ohne Migrationsgeschichte. Das ist ein Grund dafür, dass 30,5 Prozent – mehr als dreimal so viele wie bei den deutschen Jugendlichen – ohne abgeschlossene Berufsausbildung bleiben. Besonders schwierig ist die Situation für Mädchen und junge Frauen mit einem „Migrationshintergrund“.

Allerdings haben es Jugendliche mit Migrationshintergrund, auch wenn sie qualifizierte Schulabschlüsse und Abitur vorweisen können, immer noch schwer, in Deutschland einen Beruf zu erlernen und auszuüben. Das ist ein Skandal und das bestätigt, dass noch immer die soziale Herkunft dafür ausschlaggebend ist, welchen Platz jemand in der Gesellschaft einnehmen wird. Während 77 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien ein Studium aufnehmen, sind es bei den Kindern von Nichtakademikern lediglich 23 Prozent. Nach einer Studie des Deutschen Studienwerks handelt es sich hier um „Selektionsprozesse entlang sozialer Merkmale im Bildungsverlauf“. Die stabile „soziale Selektivität“ ist freilich nicht nur für die Teilnahme am Studium von Bedeutung. „Das Handicap der Herkunft“ ist ebenso ein klassenspezifisches und zieht sich auch durch andere Lebensbereiche. Junge Frauen mit Migrationshintergrund trifft es doppelt. Die Benachteiligungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt haben meist keine individuellen Ursachen, denn „mögliche Bildungsprobleme ausländischer Kinder und Jugendlicher sind weniger ausländerspezifisch als eher schichtspezifisch begründet“. So nachzulesen im Ausländerbericht der Bundesregierung. Aus diesen Befunden wird die Gleichzeitigkeit und Überlagerung verschiedener struktureller Ungleichheitsverhältnisse deutlich. Erklärungsversuche, die kulturell argumentieren, verschleiern damit die faktischen rechtlichen und gesellschaftlichen Benachteiligungen.

Jugendliche müssen bei ihrer Berufswahl und Berufsausübung oft gravierende Einschränkungen wegen ihres Familienhintergrunds in Kauf nehmen. Wenn jemand einen türkischen oder arabisch klingenden Namen hat, wird er oder sie oft auch dann nicht zum Bewerbungsgespräch eingeladen, wenn er oder sie die besseren Zeugnisse hat. Nach einer Studie des Instituts für Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn erhielten Jugendliche mit türkischen Namen insgesamt 14 Prozent weniger positive Antworten (in kleineren Unternehmen sogar 24  Prozent), obwohl bei ihnen Deutsch Muttersprache war.

Obwohl sie eine immer größer werdende Personengruppe darstellen, werden Migrantinnen und Migranten an der Teilhabe auf dem existenzsichernden Arbeitsmarkt und damit oft auch an der politischen Partizipation und an der gesellschaftlichen Mitgestaltung systematisch behindert. Allzu oft haben sie keine andere Wahl, als prekäre Arbeitsverhältnisse anzunehmen, von denen sie nicht leben können. Der Zuwachs von Frauenarbeitsplätzen ist in den letzten Jahren fast ausschließlich auf nicht-existenzsichernde Teilzeitarbeit, Mini-Jobs und ungesicherte Selbstständigkeit zurückzuführen. Die Spielräume für Frauen mit Migrationshintergrund sind doppelt begrenzt, da sie häufig auf dem Arbeitsmarkt nicht eingestellt werden, ihre Zeugnisse aus dem Herkunftsland nicht aner­kannt werden oder es schwierig ist, entsprechende Abschlüsse in Deutschland zu bekommen. Aber selbst, wenn sie sie bekommen, betrifft sie eine unterqualifizierte Beschäftigung stärker als im Inland Geborene, für die sie bereits weit verbreitet ist.

Migrantinnen im Dienstleistungsbereich

Der kontinuierlich wachsende Dienstleistungsbereich zeigt deutlich die Aufteilung des Arbeitsmarktes. Je höher die erwartete Qualifikation, die Absicherung und die Bezahlung sind, desto „weißer und männlicher“ ist die Belegschaft. In den gut bezahlen Positionen der Wirtschaft ist das nicht anders. Migrantinnen sind in der Tendenz stärker von Arbeitsplätzen im Niedriglohnbereich, Erwerbslosigkeit und sozialer Ausgrenzung betroffen als Nichtmigrantinnen. Es ist absehbar, dass sich  das durch die neue Entlassungswelle, die mit der kommenden Welle der Digitalisierung („Industrie 4.0“) verbunden sein wird, noch verschärft. Wie sich das auf den prognostizierten oder bereits bestehenden Mangel an Facharbeitskräften auswirken wird, ist noch nicht abzusehen. Auch viele qualifizierte und hochqualifizierte Frauen, vor allem aus den armen Ländern der Welt, müssen sich mit nicht-existenzsichernden Teilzeitstellen, Mini-Jobs und anderen Niedriglohnarbeiten im Handel, im Dienstleistungssektor und in fremden Haushalten abfinden, weil der Arbeitsmarkt für sie keine anderen Stellen bereitstellt. Sie putzen, kochen, servieren und betreuen Kinder und Alte. Konstant zugenommen hat vor allem die Beschäftigung in privaten Haushalten. Die Verantwortlichkeit für Haus- und Sorgeaufgaben (modern: Care-Arbeiten) wird an migrantische und geflüchtete Frauen abgegeben. Dabei entstehen Dienstbotinnenmodelle, durch die bürgerliche Kleinfamilien aus den Mittel- und Oberschichten auf Kosten von Frauen, die aus den armen Ländern der Welt kommen, begünstigt werden. Ohne die modernen „Perlen“ müssten die Arbeitgeberinnen ihre Erwerbsarbeit einschränken und die ungeliebten Arbeiten selbst übernehmen. Care-Arbeit wird kommerzialisiert und verwandelt sich zu einer äußerst schlecht bezahlten Ware, die man auf dem Dienstleistungsmarkt „einkaufen“ kann. Das führt zur  Beibehaltung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und zu neuen Unterschichtungen (auch) unter Frauen.

Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin und Historikerin und lebt und arbeitet in Berlin. Zuletzt von ihr erschienen: Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes, Stuttgart: Schmetterling, theorie.org 2015.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=95958
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