Wehrhahn-Prozess: Alle Karten sind auf dem Tisch. Vorsortiert.

Dossier

Inzwischen sind es bei Prozesseröffnung am 25.1.2018 schon 18 Jahre seit dem Wehrhahn-Anschlag geworden...Der »Wehrhahn-Anschlag« wirft sattsam bekannte Fragen zur Arbeit der Polizei und Inlandsgeheimdienste in Nordrhein-Westfalen auf. Anfang der 2000er Jahre existierten in mehreren Städten des bevölkerungsreichsten Bundeslandes schlagkräftige Nazistrukturen. (…) Hinweise darauf gab es zur Genüge, Antworten jedoch nicht. Sämtliche Anfragen, darunter auch eine des damaligen Dortmunder CDU-Bundestagsabgeordneten Erich G. Fritz, verschwanden im Geheimhaltungsdschungel der parlamentarischen Kontrollgremien von Land und Bund. Ähnlich dubios wirken die Ermittlungen nach dem »Wehrhahn-Anschlag«. Mehr als 16 Jahre wollen die Behörden benötigt haben, um Ralf S. als Beschuldigten auszumachen. Dabei hatten antifaschistische Organisationen wie der mittlerweile aufgelöste »Koordinierungskreis antifaschistischer Gruppen in Düsseldorf und Umland« (Antifa-Kok) bereits am Tag nach der Tat auf eine mögliche Verbindung von Ralf S. zu dem Anschlag hingewiesen. S. betrieb damals einen »Survival Security & Outdoor«-Laden auf der Gerresheimer Straße, in dem sich regelmäßig auch die neofaschistische »Kameradschaft Düsseldorf« traf – in unmittelbarer Nähe zur S-Bahnstation Wehrhahn…“ – so beginnt der Artikel „Was wussten die Geheimdienste?“ von Markus Bernhard am 24. Januar 2018 in der jungen welt externer Link zum Auftakt des Wehrhan-Prozesses. Siehe dazu Vorgeschichte und Prozessbeobachtung:

  • Tatverdächtiger des Wehrhahn-Anschlags freigesprochen – Forderung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses New
    Mehr als 20 Jahre nach einem Rohrbomben-Anschlag auf eine Gruppe Sprachschüler in Düsseldorf ist fraglich, ob der Verantwortliche jemals gefunden und zur Rechenschaft gezogen wird. Ein lange als Attentäter verdächtigter Mann aus der rechten Szene ist seit Donnerstag rechtskräftig freigesprochen. Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe bestätigte ein Urteil des Düsseldorfer Landgerichts, das 2018 in einem späten Prozess auf Freispruch entschieden hatte, weil gegen den heute 54-Jährigen am Ende eindeutige Beweise fehlten. (Az. 3 StR 124/20) (…) Der Rechtsextremist, der nur 500 Meter vom Tatort entfernt wohnte, war damals schnell in Verdacht geraten – auch weil er direkt gegenüber der Sprachschule einen Militaria-Laden hatte. Aber 2002 musste die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen. Erst Jahre später, als ein früherer Mithäftling behauptete, der Mann habe ihm die Tat gestanden, nahmen die Ermittlungen wieder Fahrt auf.  In dem Prozess am Düsseldorfer Landgericht gab es allerdings keine eindeutigen Spuren oder Beweise, und Zeugen konnten sich nach der langen Zeit kaum erinnern oder verwickelten sich in Widersprüche. Das war den Richtern zu wenig, sie entschieden auf Freispruch. Dieser Freispruch sei auf rund 100 Seiten rechtsfehlerfrei begründet, sagte der Vorsitzende BGH-Richter Jürgen Schäfer bei der Urteilsverkündung. Die Beweiswürdigung sei grundsätzlich Sache des Tatrichters und vom Revisionsgericht im Ergebnis hinzunehmen – selbst in Fällen, in denen ein anderer Schluss nähergelegen hätte. Damit steht dem Angeklagten nun auch eine Entschädigung zu…“ Meldung vom 14. Januar 2021 in der Westdeutschen Zeitung online externer Link, siehe dazu:

    • Revisionsverfahren im Wehrhahnprozess gescheitert. Einziger Tatverdächtiger damit endgültig freigesprochen. Prozessbeobachtung kommentiert das Ergebnis.
      Im Jahr 2000 wurden bei einem rassistisch motivierten Sprengstoffanschlag in Düsseldorf-Wehrhahn zehn Menschen zum Teil schwer verletzt. Über Jahre konnte, nicht zuletzt aufgrund schwerer Ermittlungspannen, kein*e Täter*in ermittelt werden. Als Anfang 2017 die Festnahme eines mutmaßlichen Täters vermeldet wurde, begann die Mobile Beratung im RB Düsseldorf eine umfangreiche Prozessbeobachtung am Landgericht Düsseldorf. Nachdem der Angeklagte im Oktober 2018 nach 34 Prozesstagen vom Vorwurf des versuchten Mordes in zwölf Fällen freigesprochen worden war, wurde Ende letzten Jahres ein Revisionsverfahren eröffnet, zu dem heute, den 14. Januar 2021, das Urteil gesprochen wurde. Da der Bundesgerichtshof keine Rechtsfehler erkennen konnte, bestätigte er den Freispruch. Die Mobile Beratung, aber auch Betroffene und deren Unterstützer*innen sehen sich damit vor den Kopf gestoßen. Der Prozessbeobachter der Mobilen Beratung, Dominik Schumacher, kommentiert dies entsprechend: „Damit stehen Überlebende und Beobachter*innen vor einem Scherbenhaufen der Aufklärung“. Die Mobile Beratung unterstützt ausdrücklich die zivilgesellschaftliche Forderung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses.“ Pressemitteilung vom 14.01.2021 bei mobile-beratung-nrw externer Link
    • Wir sind wütend: BGH bestätigt Freispruch gegen #Neonazi im #Wehrhahn-Attentat. Die Straffreiheit für einen der schwersten rechtsterroristischen Anschläge seit 1990 ist fatal. Unsere Solidarität & unser Mitgefühl gilt den Überlebenden. „Damit stehen Überlebende und Beobachter:innen vor einem Scherbenhaufen der Aufklärung“, kritisiert @mbrnrw  „Ein bedeutender rechtsterroristischer Akt in der Geschichte der Bundesrepublik bleibt damit ungesühnt und unaufgeklärt““ Thread des Verbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt vom 14.1.2021 externer Link
  • Im Zweifelsfall für den Angeklagten – ist richtig. Immer. Nur: Woher kommen die Zweifel im Wehrhahn-Prozess?
    „… Man hat die Hintergründe nicht wirklich ernst genommen. Kurz nach dem Anschlag hat Gerhard Schröder zwar den „Aufstand der Anständigen“ gegen rechts ausgerufen. Aber wir hatten da die Situation, dass der Anschlag auf überregionaler Ebene wie auf Bundesebene als rechtsextrem galt – in Düsseldorf selbst jedoch nicht. Die Staatsanwaltschaft hat immer wieder erklärt, es gebe keine Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund. Der damalige Oberbürgermeister Joachim Erwin (CDU) hat Anspielungen darauf gemacht, dass die Opfer Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion seien und vielleicht alte Rechnungen nicht gezahlt hätten. Also die klassische NSU-Nummer, man müsse mal bei den Opfern gucken, ob die nicht selbst schuld sind…“ – so der Linken-Stadtrat Frank Laubenburg in dem Interview „Das ist Schlamperei“ mit Anett Selle am 31. Juli 2018 in der taz online externer Link, worin die – auch aus anderen Fällen keineswegs unbekannte – Vorgehensweise nachgezeichnet wird, die der Entstehung von „Zweifeln“ nachhaltig förderlich ist und war. Und das potenzielle Wirken von V-Leuten (wessen wohl) war (auch hier) nicht Gegenstand des Verfahrens. Zum Freispruch-Urteil drei weitere Beiträge:

    • Pressemitteilung der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Düsseldorf am 30.07.2018: Urteil im Wehrhahnprozessexterner Link unterstreicht zur Argumentation des Gerichts: „… Die Sichtweise der Mobilen Beratung auf die Beweislage ist deckungsgleich mit den Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage: „Natürlich handelte es sich um einen Indizienprozess. Wenn jedoch solch eine überwältigende Menge von belastenden Indizien gesammelt wurden, zerfällt die Argumentation der Kammer, es könne sich um eine endlose Kette von Zufällen handeln“, kommentiert Dominik Schumacher, Vertreter der Mobilen Beratung. „Wenn Ralf S. nicht der Täter war, muss es ein höchstprofessioneller Doppelgänger gewesen sein, für den auf 178.000 Seiten Ermittlungsakte nicht ein einziger Hinweis existiert“, fasst Schumacher eine Schlussfolgerung der Staatsanwaltschaft zusammen. Die Mobile Beratung sieht sich dadurch erneut in ihrer Analyse bestätigt: Der Wehrhahn-Anschlag ist ohne Beteiligung von Ralf S. nicht denkbar…
    • „Lügen schützt vor Strafe“ von Sebastian Weiermann am 31. Juli 2018 in neues deutschland online externer Link hebt hervor: „… Indizienprozesse sind immer eine komplizierte Angelegenheit. Richter müssen Aussagen gewichten, Hinweise, die keine Beweise sind, bewerten und dann ein Urteil fällen. Im Hinterkopf haben sie dabei immer den Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Das ist gut und richtig! Trotzdem können und müssen auch solche Prozesse zu Verurteilungen führen können. Gerade wenn die Indizienkette so lang und fest ist, wie im Fall von Ralf S. Den Anschlag am Wehrhahn hatte er angekündigt und gegenüber mehreren Menschen gestanden. Dazu war S. in die Düsseldorfer Neonazi-Szene eingebunden und hatte kein Geheimnis aus seinem Weltbild gemacht. Dass Ralf S. nicht verurteilt wurde, liegt an zwei Faktoren. Erstens, er hatte sich als dauerlügender Dummkopf präsentiert. Das Gericht zweifelte einfach an seinen Geständnissen. Zweitens, vor 18 Jahren, als der Anschlag begangen wurde, war nur schlampig ermittelt worden. An rechten Terror aus Düsseldorf glaubten die Ermittler nicht. Ein Problem, das sich immer wieder in Prozessen gegen Neonazis zeigt…
    • „Entsetzen über Freispruch“ von Claudia Wangerin am 01. August 2018 in der jungen welt externer Link zu Reaktionen auf das Urteil: „… 2014 saß Ralf S. in Castrop-Rauxel eine Ersatzfreiheitsstrafe ab. Dort soll er, wie erst Anfang 2017 bekannt wurde, vor einem Mitgefangenen mit dem Wehrhahn-Anschlag geprahlt haben. Die Aussage des Belastungszeugen überzeugte den Richter allerdings nicht. »Das Urteil des Landgerichts Düsseldorf im Wehrhahn-Prozess hat mich bestürzt«, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, laut einer Vorabmeldung der Rheinischen Post am Dienstag. Es sei »nicht nur schmerzhaft, sondern zutiefst enttäuschend«. Rechtsterroristische Kreise würden sich durch den Freispruch bestärkt fühlen, warnten die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Düsseldorf und die Opferberatung Rheinland. Der ehemalige Düsseldorfer Ratsherr Frank Laubenburg (Die Linke) erklärte am Dienstag, das Urteil sei »angesichts der Indizienkette gegen den Angeklagten nicht nachvollziehbar«. Es sei aber auch »Folge der fatalen Ermittlungs- und Öffentlichkeitsarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft unmittelbar nach dem Anschlag«. Laubenburg forderte daher einen Untersuchungsausschuss auf Landesebene…
  • Der Wehrhahn-Prozess: Wer alles gerichtlich bestätigt bekommt, kein Nazi zu sein…
    „… Für die Strafkammer muss das ein seltsames Gefühl sein: Vor einigen Wochen hat sie den Mann, der angeklagt ist, in Düsseldorf vor 18 Jahren einen Sprengstoffanschlag auf jüdische Sprachschüler aus Russland verübt zu haben, mangels dringenden Tatverdachts aus der Untersuchungshaft entlassen. Und jetzt sagt ein Zeuge aus, der sich erst auf diese Nachricht hin gemeldet hat, und berichtet ausführlich, wie sich der Angeklagte, der Ex-Soldat Ralf S., ihm gegenüber als der Täter geoutet habe. Der Zeuge, der da am Montag im Düsseldorfer Landgericht spricht, ist ein früherer Mithäftling, Holger P., 47 Jahre alt, ein hagerer, bleicher Mann mit Zopf und Rasputinbart. Und was er sagt, belastet den Angeklagten an diesem letzten Verhandlungstag vor den Plädoyers. Diese sind für Donnerstag angesetzt. P. spricht ruhig, konzentriert, lässt sich durch Nachfragen nicht aus der Ruhe bringen. Zehn Menschen, überwiegend jüdische Sprachschüler russischer Herkunft, waren am 27. Juli 2000 durch eine mit dem Sprengstoff TNT gefüllte Bombe am S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn verletzt worden, einige von ihnen lebensgefährlich. Eine junge Frau verlor ihr ungeborenes Kind. Und darüber soll sich, sagt P., im Frühjahr beim Hofgang im Hochsicherheitstrakt des Düsseldorfer Gefängnisses folgendes Gespräch entfaltet haben: S. habe ihm erzählt, er sei der Täter; eigentlich habe er den Anschlag anders geplant gehabt, die hätten „alle draufgehen sollen“. P. habe erwidert, es sei doch ein ungeborenes Kind umgekommen, und habe zur Antwort erhalten: Das nenne man wohl gelungene Euthanasie…“ – aus dem Artikel „Erinnerung eines späten Zeugen“ von Joachim Knäpper am 23. Juli 2018 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link – dem hinzuzufügen wäre, dass – Glaubwürdigkeit vorausgesetzt – die Kammer auch schon früher hätte seltsame Gefühle entwickeln müssen. Oder hat.
  • Wehrhahn-Prozess: Ganz bestimmt gar kein Nazi nicht…
    Mit Beschluss vom heutigen Tage hat die 1. große Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf den Haftbefehl gegen den Angeklagten Ralf S. aufgehoben und seine Entlassung aus der Untersuchungshaft angeordnet. Aufgrund des vorläufigen Ergebnisses der Hauptverhandlung sieht das Gericht keinen dringenden Tatverdacht mehr. Die Prozessbeobachtung der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus war an jedem der Prozesstage anwesend und berichtete. Die Entlassung aus der Untersuchungshaft ist auch für die Mobile Beratung überraschend: „Sogar ein Freispruch ist jetzt denkbar. Ralf S. hat im Verlaufe des Prozesses versucht, sich als harmlosen Spinner darzustellen. Es sieht fast so aus, als könnte er damit durchkommen.“ Ohne die juristische Einschätzung der Strafkammer bewerten zu wollen, schätzt die Mobile Beratung ein: Nach den bisherigen Erkenntnisse, gehen wir weiterhin von der Täterschaft des Angeklagten aus. Der Wehrhahn-Anschlag ist ohne eine Beteiligung von Ralf S. nicht denkbar. Die Indizienkette der Staatsanwaltschaft zeichnet ein deutliches Bild“, erklärt Dominik Schumacher von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus. „Die jetzige schwierige Lage ist nicht unwesentlich auf die gravierenden Ermittlungsfehler im Jahr 2000 zurückzuführen“, kritisiert Schumacher abschließend. Die Hauptverhandlung wird am 5. Juni 2018 um 9:30 Uhr fortgesetzt werden…“ – aus der Mitteilung „Wehrhahn-Prozess: Mobile Beratung weiterhin von Schuld des Angeklagten überzeugt“ am 17. Mai 2018 bei der mobilen beratung externer Link zur Verkündung des Gerichtes. Siehe dazu auch:

    • „Mutmaßlicher Attentäter kommt frei“ von Malene Gürgen am 17. Mai 2018 in der taz online externer Link zur Begründung des Gerichtes: „… Aufgrund des vorläufigen Ergebnisses der an bislang 25 Tagen durchgeführten Hauptverhandlung und nach Anhörung von 60 Zeugen und drei Sachverständigen sieht das Gericht keinen dringenden Tatverdacht mehr“, begründet das Landgericht die Entscheidung. Ausschlaggebend sei insbesondere gewesen, dass mehrere Zeugenaussagen sich als nicht hinreichend belastbar erwiesen hätten. Die Staatsanwaltschaft war zunächst nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. Ralf S. war schon kurz nach dem Anschlag, bei dem im Juli 2000 zehn MigrantInnen durch eine selbstgebaute Rohrbombe zum Teil schwer verletzt wurden, ins Visier der Polizei geraten. Dem damaligen Betreiber eines Landes für Neonazimilitaria unweit der S-Bahnstation Wehrhahn konnte jedoch zunächst kein dringender Tatverdacht nachgewiesen werden. Für seine erneute Festnahme 17 Jahre später sorgte er selbst: Gegenüber einem Mitinsassen hatte er während einer Haftstrafe geprahlt, „an einem Bahnhof Kanaken weggesprengt“ zu haben…
  • Wehrhahn-Prozess: Verfassungsschutz klärte genauso auf, wie die Polizei – gar nicht…
    „… Der Anschlag erfolgte ja an einem Ort, an dem die späteren Opfer täglich um die gleiche Zeit von einem Sprachkurs kommend vorbeigingen. Das ließ den Schluss zu, dass es sich um einen Anschlag auf diese Gruppe gehandelt hat, es also eine rassistisch oder antisemitisch motivierte Tat war. Die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft hat aber sehr schnell erklärt, sie ermittele in alle Richtungen. Im Prinzip nicht falsch, verbunden war das aber immer wieder damit, neonazistische Motive als unplausibel darzustellen. Die Staatsanwaltschaft hat zum Beispiel geleugnet, dass es in Düsseldorf eine gewaltbereite rechte Szene gibt. Die Ermittlungsarbeit lief zudem nur schleppend an. Obwohl der Anschlag in einem Viertel mit hohem migrantischen Bevölkerungsanteil stattfand, gab es keine mehrsprachigen Flugblätter und auch keine mobile Wache vor Ort. Es ist vieles unterlassen worden, um schnell wichtige Hinweise zu erhalten, zum Beispiel zu der Frage, ab wann genau die Plastiktüte mit dem Sprengkörper am Geländer des S-Bahn-Zugangs hing. Die Ermittlungsarbeiten waren, und das ist noch zurückhaltend formuliert, ausgesprochen dilettantisch…“ – die erste Antwort des ehemaligen Linken-Stadtrates Frank Laubenburg auf die Fragen von Markus Bernhardt in dem Gespräch „»Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz?«“ am 19. Februar 2018 in der jungen welt externer Link, worin vor allem die Rolle der antifaschistischen Gruppierungen nach dem Anschlag Thema ist – und wie deren Erkenntnisse von Polizei und VS systematisch missachtet wurden.
  • Polizei-Zeugen im Wehrhahn-Prozess: Warum sie, im Unterschied zu Möbelpackern, nichts gefunden hatten
    Beide am 5. Februar 2018 als Zeugen befragten Polizeibeamten bekundeten, sich kaum noch an das Geschehen Ende Juli, Anfang August 2000 erinnern zu können. Aus diesem Grund hatten sie im Vorfeld ihrer Zeugenaussagen darum gebeten, ihre damaligen Protokolle und Aktennotizen einsehen zu dürfen. Das Gericht gestattet den Zeugen diese Erinnerungshilfe – verbunden mit der Bitte, bei ihren Aussagen jeweils in der Hauptverhandlung kenntlich zu machen, welche Aspekte und Details ihrer Aussagen jeweils ihrer Erinnerung entspringen und an was sie sich nur nach der Lektüre der damals angefertigten Unterlagen erinnern würden. Beide Zeugen – der zwischenzeitlich pensionierte ehemalige Polizeibeamte Gerwin F. und sein damaliger Kollege Frank S. – waren im Jahr 2000 beim Polizeilichen Staatsschutz in Düsseldorf und ab August 2000 in der „EK Acker“ tätig. Gerwin F. sagte aus, an der ersten Vernehmung von Ralf S. am 29. Juli 2000 teilgenommen zu haben, nicht aber an deren Fortsetzung am 31. Juli 2000. Er und ein weiterer Kollege hätten sich zunächst nach einem „Hinweis aus der Bevölkerung“ mit dem „sehr kooperativen“ und „nicht widerspenstigen“ Ralf S. auf der Gerresheimer Straße verabredet. Anschließend hätten sie etwa 45 bis 60 Minuten lang dessen Privatwohnung und Laden durchsucht. Gerwin F. sagte aus: Die Wohnung sei „unbeschreiblich schmutzig“ gewesen. Man habe „leere Patronenhülsen“ gefunden, aber keine Bauanleitungen und auch keine „rechtsradikale Symbolik“. Es hätten „allgemeinbildende Broschüren“ herum gelegen, aber nur „gemäßigte“, die „nicht strafrechtlich relevant“ gewesen seien. S. habe der „Deutschen Volksunion“ (DVU) nahe gestanden. Anschließend seien sie dann in das Ladenlokal gegangen. Da dort der Strom abgestellt und es dunkel gewesen sei, habe man S. gebeten, die Rollläden hochzuziehen. Man habe „nichts von Bedeutung“ gefunden. Auf Nachfragen des Vorsitzenden Richters und des Oberstaatsanwaltes nach der Gründlichkeit der Durchsuchung bekundete F., man sei „durchgegangen“ und habe sich in den Objekten „umgesehen“, den Möglichkeiten entsprechend gründlich. Gerwin F. betonte hierzu auf Nachfrage, dass die Lichtverhältnisse ausreichend gewesen seien. Eine wirklich intensive Durchsuchung sei aber zu zweit nicht zu schaffen gewesen“ – aus dem Bericht „4. und 5. Prozesstag im Wehrhahn-Prozess – Landgericht Düsseldorf, 5. Februar und 8. Februar 2018“ am 09. Februar 2018 bei der Mobilen Beratung NRW externer Link in dem beide Prozesstage ausführlich dargestellt werden
  • Wehrhahn-Terror mit Bundeswehr-Waffe
    „… Die Staatsanwaltschaft stützt ihre Anklage unterdessen auf Indizien, Gutachten von Sachverständigen und Zeugenaussagen. Neben der mutmaßlichen Prahlerei mit der Tat im Gefängnis spielt unter anderem auch ein Sicherungssplint einer Handgranate eine Rolle, der in der Wohnung des Angeklagten gefunden worden war. Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ kurz vor dem Prozessauftakt berichtet, stammte der Sprengstoff der Bombe, die im Juli 2000 detonierte, aus Handgranaten der Bundeswehr. Dies gehe aus den Ermittlungen gegen den Angeklagten hervor. Zudem fand sich nach Informationen der Zeitung bei der Auswertung seines Computers eine brisante Fotostrecke. Die Aufnahmen zeigen nicht nur den Tatort, sondern auch die gegenüberliegende Bushaltestelle mit der besten Sicht auf das Geländer, an dem der Sprengsatz platziert worden war. Auch hatte der Angeklagte den Stromkasten fotografiert, von dem der Attentäter kurz nach 15 Uhr an jenem Julitag mittels Fernzündung die Bombe detonieren ließ…“ – aus dem Beitrag „Sprengstoff für Wehrhahn-Attentat stammte aus Bundeswehr-Handgranaten“ am 26. Januar 2018 im Migazin externer Link, wozu noch einmal daran zu erinnern wäre, dass es nicht die Polizei war, die den entsprechenden Splint gefunden hatte – sondern Möbelpacker… (Siehe den Verweis auf unseren letzten Bericht am Ende dieses Beitrags). Siehe dazu auch einen Beitrag zu antifaschistischem Protest beim Prozessauftakt – auch zur „ewigen Frage“ nach Täter-Verbindungen… Siehe auch:

    • „Start des Wehrhahn-Prozesses von Protesten begleitet“ am 25. Januar 2018 bei RP online externer Link berichtet über eine Protestkundgebung zum Prozess-Auftakt unter anderem: „… Nach Angaben einer Sprecherin handelt es sich um einen losen Zusammenschluss politisch Gleichgesinnter, die teils bereits im Jahr 2000 unmittelbar nach dem Sprengstoff-Anschlag, bei dem neun Menschen teils schwer verletzt wurden, auf ein mögliches fremdenfeindliches Motiv der Tat hingewiesen hätten. „Wir sind heute hier, um zu zeigen, dass die Opfer mit ihren vielen Fragen nicht allein sind“, sagte die Sprecherin. Man begreife sich als kritische Öffentlichkeit. Es bestünden Zweifel an der Einzeltäter-These von Polizei und Staatsanwaltschaft. „Wir haben bisher den Berichten der Behörden nicht entnehmen können, dass im Neonazi-Milieu gründlich ermittelt wurde, ob Ralf S. Mittäter hatte.“…
  • Auch im Wehrhahn-Prozess: Massive Kritik an nicht eben aktiver Polizei. Zum Beispiel von Möbelpackern
    Ralf S. war Ende der 1990er Jahre eng in die Düsseldorfer Neonaziszene eingebunden. Er gehörte zum Umfeld von Sven Skoda, der bis heute zu den Führungsfiguren der »Freien Kameradschaften« gehört. Im Geschäft von S. lagerten auch Plakate der rechten DVU und es wurden Rechtsrock-CDs verkauft. Antifaschisten aus Düsseldorf vermuteten schon in den Tagen nach der Tat, dass Ralf S. mit der Tat zu tun haben könnte. Bis heute sehen Düsseldorfer Linke zahlreiche offene Fragen und fordern, dass diese im Prozess geklärt werden. Dabei geht es zum Beispiel um einen V-Mann des Verfassungsschutzes, der zum Tatzeitraum für Ralf S. gearbeitet hatte. Auch stelle sich die Frage, warum viele Details, die jetzt ermittelt wurden, nicht schon kurz nach der Tat ermittelt wurden“ – aus dem Artikel „Die Prahlereien des Neonazis“ von Sebastian Weiermann am 26. Januar 2018 in neues deutschland online externer Link zum ersten Tag des „Wehrhahn-Prozesses“. Siehe dazu zwei weitere aktuelle Beiträge, auch darüber, wer warum was gefunden hat – und wer nicht…

    • „Terror und Staat“ von Claudia Wangerin am 26. Januar 2018 in der jungen welt externer Link, worin es zur wenig begeisterten polizeilichen Suche unter anderem heißt: „… Mehrere Hinweise auf Ralf S. waren kurz darauf telefonisch bei der Polizei eingegangen. Einer der Beamten gab diese Information damals offenbar gleich an Ralf S. weiter, der am Donnerstag zum Prozessauftakt jede Tatbeteiligung abstritt. Gleich nach dem Anschlag habe ihn der Beamte gewarnt: »Da rufen jede Menge Leute an und beschuldigen dich«, sagte der heute 51jährige Angeklagte vor dem Düsseldorfer Landgericht. Der Koordinierungskreis antifaschistischer Gruppen in Düsseldorf und Umland (Antifa-KoK) hatte seinerzeit auf eine mögliche Verbindung zwischen dem Attentat und dem »Survival Security and Outdoor«-Geschäft des vorbestraften Neonazis Ralf S. in der Nähe des Tatorts aufmerksam gemacht. Eine erste oberflächliche Hausdurchsuchung in der Wohnung und den Geschäftsräumen des Verdächtigen hatte zwei Tage nach der Tat stattgefunden – insgesamt eine Dreiviertelstunde lang. Erst am 2. August 2000 rückten die Beamten zu einer vorgeblich gründlicheren Razzia an. Auch dabei war kein belastendes Material gefunden worden. Das entdeckten allerdings Möbelpacker fünf Monate später im Keller während der Zwangsräumung von Ralf S. – unter anderem eine Handgranate und neofaschistisches Propagandamaterial. Die Polizei wurde eingeschaltet, die Staatsanwaltschaft wollte aber seinerzeit keinen Zusammenhang zum Wehrhahn-Anschlag erkennen…
    • „Ein Neonazi gibt das Opfer“ von Andreas Wyputta am 25. Januar 2018 in der taz online externer Link berichtet: „… Doch auch nach vorübergehender Festnahme, stundenlangen Verhören und folgender Überwachung ließ sich der Verdacht gegen ihn nicht erhärten: In seiner Wohnung fanden sich keine Spuren von Sprengstoff. Offenbar lag das auch an der schlampigen Arbeit des Staatsschutzes, der als Erster bei S. war: „Durchsuchung würde ich das nicht nennen“, sagte Dietmar Wixfort, der die Mordermittlungen leitete, im NRW-Landtag. Der Besuch des Staatsschutzes bei dem Rechtsextremen habe eher den Charakter eines „Stubendurchgangs“ gehabt. Nach 17 Jahren vor Gericht gebracht hat sich S. selbst. Er habe „an einem Bahnhof Kanaken weggesprengt“, soll er einem Mitgefangenen im Knast erzählt haben, als er wegen einer nicht bezahlten Geldbuße von 2.000 Euro einsaß. Erst dadurch geriet S. wieder ins Visier der Ermittler, die dann alte Akten wälzten, noch mal Zeugen vernahmen. Am 31. Januar 2017 nahm ihn ein Spezialkommando fest. Doch S. hält sich für clever. Völlig ungewöhnlich in einem Mordprozess äußert sich der Angeklagte schon am ersten Prozesstag ausführlich. Stundenlang beantwortet er die Fragen des Richters – an den Tattag aber kann er sich kaum erinnern. Vielmehr gibt er das unschuldig vom Verfassungsschutz verfolgte Opfer: Nur wegen der Anschlagsvorwürfe habe er keine Jobs bekommen, sei deshalb chronisch pleite gewesen…
  • „Beobachtung des Wehrhahn-Prozesses durch Beratungsstrukturen gegen Rechtsextremismus“ am 22. Januar 2018 bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in NRW externer Link beinhaltet die Ankündigung der Prozessbeobachtung ebenso wie die Abgrezung zu den wichtigsten Fragen: „Ebenso steht die Frage im Raum, warum es über 17 Jahre gedauert hat, eines Beschuldigten habhaft zu werden, welcher bereits im Jahr 2000 tatverdächtig war. Auch Fragen zu möglichen Mitwissern oder –Tätern, sowie zu geschehenen Ermittlungspannen sind noch offen. Antworten auf diese und andere Fragen zu finden, ist nicht Aufgabe des Strafprozesses. (…) Obwohl der Prozess öffentlich ist, hat nicht jeder die Möglichkeit diesen auch zu besuchen. „Auch deshalb veröffentlichen wir unsere Prozessbeobachtung in regelmäßigen Online-Berichten“, kündigt die Mobile Beratung an. Die Prozessberichte werden dabei im Bedarfsfall mit Hintergrundinformationen und Szene-Kenntnissen aus dem Jahr 2000 ergänzt. Dies soll auch Journalistinnen und Journalisten in ihrer Arbeit unterstützen“.

Siehe zuvor:

  • [Düsseldorf 3.2.2017] Kundgebung: Schaut hin! Rassistische Anschläge sind Normalzustand! Es wird Zeit, endlich Licht ins Dunkel zu bringen
    Die gestrige Festnahme des Neonazis Ralf S. sorgte bundesweit für großes Aufsehen. Fast 17 Jahre nach dem Wehrhahnanschlag scheint eine Aufklärung des Attentats endlich in greifbare Nähe zu rücken. Bereits gestern veröffentlichte DSSQ in Zusammenarbeit mit antifaschistischen Gruppen aus Düsseldorf eine Pressemitteilung, in der die Theorie der Einzeltäterthese – wie damals so auch heute – angezweifelt wird. Erschreckend ist, dass im Zuge des Rechtsrucks der Gesellschaft, rassistisch motivierte Anschläge und Übergriffe durch Neonazis wieder stark zugenommen haben. (…) Die Ermittlungen der Polizei richten sich bei Anschlägen und Übergriffen nach wie vor viel zu oft auf das migrantische und / oder religiöse Umfeld der Opfer anstatt in rechtsradikalen Kreisen zu ermitteln. (…) Wir fordern die konsequente und umfassende Aufklärung von rassistischen Anschlägen, wie z.B. auf Flüchtlingsunterkünfte. Gewaltbereite Neonazistrukturen müssen in ihrer Gefährlichkeit ernst genommen und bekämpft werden…” Aufruf von und bei “Düsseldorf stellt sich quer” externer Link zur Kundgebung am Freitag, 3.2.2017 im Beitrag vom 02. Februar 2017
  • Und am 29. Mai 2015: Die Anschläge der 1990er Jahre in Köln: verdrängt, vergessen, abgehakt?
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=127047
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