Chemnitz, Köthen, Halle: „Es“ geht immer weiter. Was ist „es“ – und wie kämpft man dagegen?

Plakat Antifademo Chemnitz 1.9.2018Die Ereignisse von Chemnitz sind ja nicht plötzlich vom Himmel gestürzt. Insofern sind auch manche Äußerungen und Verwunderungen insbesondere von politischen Eliten selbst verwunderlich. Außerdem muss man die Analyse breiter anlegen. In 2001 habe ich einen Aufsatz veröffentlicht mit dem Titel „Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus“. Die These war, dass der globale Kapitalismus immer mehr Kontrollgewinne erzielt, während die nationalstaatliche Politik immer mehr Kontrollverluste erfährt. Daraus entstehen auch soziale Desintegrationserfahrungen bzw. Ängste in Teilen der Bevölkerung mit Gefühlen der individuellen Kontrollverluste über das eigene Leben. Damit geht eine Demokratieentleerung einher, dass Teile der Gesellschaft nicht mehr das Gefühl haben, dass die regierende Politik die sozialen und auch kulturellen Probleme lösen kann. Am Ende habe ich 2001 behauptet, dass ein rabiater Rechtspopulismus der Gewinner sein wird. Die These war wohl nicht völlig falsch…“  – aus „„Chemnitz ist das punktuelle Brennglas“ am 07. September 2018 bei den Nachdenkseiten externer Link, ein Interview von Tobias Riegel mit Wilhelm Heitmeyer, worin der Bielefelder Soziologie auch noch eine Bilanz zieht, was Organisationsverbote und ihre Wirkung angeht: Machen ja, aber nicht zu viel erwarten… Siehe dazu drei weitere aktuelle Beiträge:

  • Verklärte Realität und der Alltag von Antifas in Chemnitz“ von Nina Böckmann am 02. September 2018 bei Supernova externer Link ist ein kommentierter Bericht einer Aktivistin aus Chemnitz, die ihren Alltag schildert, unter anderem dieses: „In Chemnitz kann kaum die Rede davon sein, dass eine progressive Stadtbevölkerung die Mehrheit bildet. Das politische Engagement hängt in einer solchen Stadt an einigen Wenigen. Auf verschiedenen Plena trifft man selten verschiedene Menschen und der Großteil des außerparlamentarischen politischen Engagements hängt an überarbeiteten Einzelpersonen“, sagt Svenja. Und auch der aktivistische Alltag sei ein gänzlich anderer als der, den man aus anderen Großstädten gewohnt sei. Durch die permanente Feuerwehrarbeit, die die Antifa leistet, bleibt wenig Zeit und Energie für strategische oder gar theoretische Auseinandersetzungen – das merke man der Szene an. Besonders das „Bündnis Chemnitz Nazifrei“ ist ein wichtiger Akteur, gibt es doch in Chemnitz nicht eine linksradikale Gruppe. Die Szene besteht vor allem aus wenigen Hausprojekten und dem Alternativen Jugendzentrum Chemnitz (AJZ), in dem Ende Oktober auch der „Antifaschistische Jugendkongress (JuKo)“ stattfinden wird, sowie einigen wenigen Kulturprojekten. Zusätzlich zu den schwachen lokalen Strukturen leidet die linke Szene in Chemnitz unter einer  Abwanderungsbewegung in die größeren Städte Leipzig und Berlin. Die 20 bis 30 Jährigen, Menschen also, die tendenziell politisch aktiv werden, fehlen massiv. Gründe dafür sieht Svenja vor allem in der Gefahr, der man sich als offen auftretende Antifaschist*in aussetzt, als auch in der permanenten Frustration, die Aktivismus unter Chemnitzer Verhältnissen bedeutet. Ob Angriffe auf Hausprojekte, alternative Läden und Cafés, Pöbeleien oder (schwere) tätliche Angriffe – das alles ist in Chemnitz keine Seltenheit. „Wer offen als Antifaschist*in auftritt, begibt sich wie ein Reh ins Scheinwerferlicht“, sagt Svenja. Es seien nicht nur die Nazis, die eine Gefahr darstellten, auch das subjektive Gefühl, dass die Polizei mit Repressionen gegen Linke arbeitet, prägt den aktivistischen Alltag. Das zeigte sich in diesem Jahr vor allem im Vorgehen der Einsatzkräfte zum alljährlichen Nazi-Event, dem 1. Mai. Mit einem massiven Aufgebot an Einsatzkräften,  Wasserwerfern, Reiterstaffeln und zwei Helikoptern taten sie vor allem eins: die Antifaschist*innen, die sich gegen die Nazis stellten, drangsalieren…“
  • „Köthen oder die neue Bescheidenheit der Antifaschisten“ von Peter Nowak am 11. September 2018 bei telepolis externer Link zur aktuellen Entwicklung unter anderem: „So wird schon als Erfolg gefeiert, wenn zwei Tage hintereinander rechte Demonstrationen durch Köthen zogen, aber kein Hitlergruß zu sehen war. Dafür war aber vielleicht eher das große Polizeiaufgebot in der Stadt verantwortlich, das samt Wasserwerfer in der Stadt positioniert ist. Vielleicht hat in Köthen auch die rechte Taktik besser als in Chemnitz funktioniert. Dort wurde schließlich auch von Neonazis die Parole ausgegeben: Heute sind wir Volk und nicht Gesinnung und lassen den rechten Arm unten. Das klappte damals nicht überall. So kann gesagt werden, dass Köthen für die Rechte durchaus ein Mobilisierungserfolg war, was auch David Begrich vom zivilgesellschaftlichen Verein Miteinander im Interview mit dem Deutschlandfunk bestätigte. Er sei überrascht und erschrocken gewesen, wie schnell es der Neonaziszene gelungen sei, 2.500 Menschen auf den Straßen in Köthen zu mobilisieren. Dort wurden offen neonazistische Reden gehalten. Der AfD gelang es wiederum, auf einer eigenen Demonstration auch Teile der Köthener Bevölkerung zu erreichen. Eigentlich wäre eine solche rechte Mobilisierung für die Antifa-Szene ein Grund für höchste Aufregung und die Organisierung von Gegenaktionen. Doch nach Chemnitz wird es schon als großer Erfolg gefeiert, wenn die rechten Demos ohne NS-Symbole über die Bühne gehen und keine Videos zu sehen sind, auf denen Menschen von Rechten tatsächlich oder vermeintlich gejagt werden…“  und weist abschließend aber auch darauf hin: „In einer linken Grundsatzerklärung könnte man das etwas allgemeiner formulieren: „Sexistische Übergriffe, mackerhaftes Auftreten, antisemitisches, rassistisches und anderweitig diskriminierendes Verhalten werden bei keiner Person geduldet, ungeachtet seiner/ihrer Herkunft.“ Diese Erklärung sollte in verschiedene Sprachen übersetzt und verteilt werden, in typisch deutschen Eckkneipen ebenso wie vor Spätverkäufen oder den Treffpunkten migrantischer Männer. Das wäre ein Anfang, um Diskussionen über toxisches Verhalten von Männergruppen verschiedener Herkunft anders als die Rechten zu behandeln, aber auch nicht so zu tun, als gebe es das Problem nicht…“
  • „Don’t call it Antifa“ von Paula Irmschler am 07. September 2018 in neues deutschland externer Link: „In den sozialen Netzwerken und vor Ort möchten viele jetzt vieles nicht sein: gewalttätig, Antifa, linksextrem, linksradikal, überhaupt links, manche noch nicht mal politisch. Es gehe nicht um links oder rechts, lassen sich viele Bürgerliche, Kulturschaffende und andere Mitteextremisten dieser Tage zitieren, einige schreiben es sogar auf Plakate, die sie zu den Demonstrationen mitbringen. In Wirklichkeit gehe es um Menschlichkeit, Demokratie, unser Ansehen oder gar unser Volk. Dabei wird vergessen, dass es sich explizit als linke und antifaschistisch begreifende Menschen sind, die seit Jahrzehnten die Arbeit gegen rechte Strukturen übernehmen, mobilisieren, Freiräume schaffen und sich für und mit Marginalisierten einsetzen. Wir helfen den Nazis, Rassisten, Rechten und Völkischen, wenn wir uns nicht konkret positionieren, sondern als gefühlige Bauchmenschen, die für das Richtige einstehen, inszenieren, ohne uns klar darüber zu sein, was das Richtige ist und wie wir es erreichen. Und wenn wir ebenjenen, die versuchen, es auszuhandeln, in den Rücken fallen, weil wir uns ständig von ihnen distanzieren…
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=137335
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