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Tunesien

Tunesien: Neue Regierung eingesetzt. Gleich drei Selbstverbrennungsversuche an einem Tag.

Unterdessen geraten die berüchtigten „Milizen zum Schutz der Revolution“ (LPR) erstmals mit der Regierungspartei En-Nahdha aneinander – Theaterdonner oder Scheidungskrise?

Artikel von Bernard Schmid vom 15.3.2013

Das Leben hält sich leider nicht an Redaktionsschlüsse (und der Korrespondent des Labournet vielleicht auch nicht IMMER). Kaum erschien bei uns am Mittwoch, den 13. März 13 gegen 13 Uhr der letzte Artikel zur anhaltenden Regierungskrise, aber auch den sozialen Ereignissen in Tunesien – traf gute zehn Minuten später die Meldung ein, die neue tunesische Regierung „stehe“ nun.

Ungefähr zeitgleich zur letzten Aktualisierung beim Labournet lief die Vertrauensabstimmung im provisorischen Parlament in Tunis, der „Verfassungsgebenden nationalen Versammlung“ (ANC, Assemblée nationale constituante)(vgl. http://www.courrierinternational.com/breve/2013/03/14/le-gouvernement-larayedh-investi externer Link). Seitdem regiert das neue Kabinett unter dem bisherigen Innenminister ’Ali La’arayedh das nordafrikanische Land mit knapp elf Millionen Einwohner/inne/n. Zur Zusammensetzung der Regierung – über die wir bereits am Mittwoch berichteten (vgl. hier http://nawaat.org/portail/2013/03/13/infographie-composition-du-gouvernement-de-ali-laarayedh/ externer Link; zum Koalitionsvertrag vgl. hier: http://nawaat.org/portail/2013/03/13/gouvernement-laarayadh-un-contrat-politique-entre-ennahdha-ettakatol-et-cpr/ externer Link). Am Donnerstag „entschuldigte“ sich der neue Premierminister ’Ali La’areyedh öffentlich für die geringen Frauenpräsenz in seinem Kabinett, dem nur zwei Frauen angehören… (Vgl. http://www.tunisienumerique.com/tunisie-ali-laaryedh-sexcuse-aupres-des-femmes/169185 externer Link und http://nawaat.org/portail/2013/03/11/weekly-political-review-where-are-the-women-in-tunisias-new-cabinet/ externer Link)

Wenige Minuten später begann im westtunesischen Dorf Souk Jemaa die Beerdigung des 27jährigen Arbeitslosen ’Adel Khadri (oft auch Khazri aus dem Arabischen transkribiert), der sich zwei Tage zuvor – am Dienstag gegen 09.30 Uhr – im Stadtzentrum von Tunis selbst verbrannt hatte. Bis dahin hatte er Zigaretten auf der Avenue Bourguiba verkauft, um sich selbst über Wasser zu halten, aber auch seine Mutter und seine drei Brüder (nach dem Tod seines Vaters) zu Hause zu versorgen. ’Adel Khazri starb am Mittwoch früh an den erlittenen Brandverletzungen. Seine Beerdigung, zu der mehrere Hundert Menschen in dem schwer zugänglichen – und nur sehr schlecht an den Verkehr angebundenen – Dorf kamen, wandelte sich in eine Wut- und Protestdemonstration um. (Vgl. etwa http://www.assawra.info/spip.php?article2780 externer Link)

Am selben Tag, am gestrigen Donnerstag, fanden allein drei Versuche einer öffentlichen Selbstverbrennung in Tunesien statt (vgl. http://www.tunisienumerique.com/tunisie-bapteme-du-feu-du-gouvernement-trois-tentatives-dauto-immolation-en-un-jour/169382 externer Link). Solche dramatischen Ereignisse geben einen Eindruck davon, wie drängend zugespitzt ihre soziale Lage von sehr vielen Menschen (vor allem jungen Tunesier/inne/n und Einwohner/inne/n der küstenfernen Regionen, oder Menschen mit Familienangehörigen dort) empfunden wird. Der neue Premierminister La’arayedh sprach in seiner Antrittsrede selbst davon, dass „der Terrorismus“ (der Salafisten) sowie „die sozialen Spannungen die Zukunft des Landes bedroh(t)en“. (vgl. http://www.assawra.info/spip.php?article2775 externer Link)

Auch die politische Lage bleibt zugespitzt. In der Küstenstadt Sousse versuchten bislang Unbekannte, einen örtlichen Vertreter des linken Bündnisses Front populaire / Djabha Scha’abiya (ungefähr „Volksfront“, oder „Front der Unterklassen“) zu ermorden. (Vgl. http://www.tunisienumerique.com/tunisie-tentative-de-meurtre-sur-un-leader-du-front-populaire-a-sousse/169231 externer Link) Unterdessen scheinen die finsteren Wichte der „Ligen zum Schutz der Revolution“ (LPR, Ligues de protection de la révolution), denen nunmehr offiziell die Auflösung droht – vgl. unseren Artikel im Labournet vom Mittwoch -, in Konflikt mit der Regierungspartei En-Nahdha zu geraten. Am 20. März 13 möchten die „Ligen“, und ihnen Nahestehende, nun ein Sit-In in der Innenstadt von Tunis veranstalten, um von ihrer Seite her die Regierung unter Druck zu setzen… (Vgl. http://www.businessnews.com.tn/details_article.php?t=519&a=36902&temp=1 externer Link)

Nicht unbedeutend ist unterdessen, dass bei den jüngst stattgefundenen Studierendenparlamentswahlen die „klassische“ tunesische Studentengewerkschaft UGET offenbar die Studierendenvereinigung, die der islamistischen Regierungspartei En-Nahdha nahe steht, deutlich schlagen konnte. (Vgl. http://thalasolidaire.over-blog.com/article-l-union-generale-des-etudiants-de-tunisie-semble-le-remporter-contre-l-union-generale-tunisienne-de-116170279.html externer Link)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=29306
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