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Tunesien

Tunesien bleibt in den Fängen der EU – Ökonomische Alternative bislang nicht in Sicht. Neues „umfassendes Freihandelsabkommen“ geplant

Artikel von Bernard Schmid vom 18.12.2012 – Teil 5 unserer lockeren Serie

Die tunesische Revolution (mitsamt ihrer Schockwelle und ihren Auswirkungen auf Ägypten, Jemen, Bahrain, Syrien…) hat vieles verändert. Vor allen Dingen eines: Die Angst der Individuen, sich überhaupt zu kollektiven gesellschaftlichen Belangen zu positionieren, ist weg. Aber eine wichtige Sache hat die Revolution, in ihrem bisherigen Stadium, überhaupt nicht angepackt: Eine Alternative auf sozio-ökonomischer Ebene, die Suche nach einem alternativen ökonomischen Modell, eine Perspektive für eine alternative Wirtschaftsstrategie ist bislang nicht in Sicht.

Viele Beobachter/innen analysierten die in Tunesien stattfindenden, und von Tunesien ausgehenden, Umbrüche auch im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Wirtschaftsbeziehungen zu den EU-Staaten. Als erster Staat am Süd- und Ostufer des Mittelmeers hatte Tunesien im Juli 1995 ein Freihandels-Abkommen mit der Europäischen Union abgeschlossen (gefolgt von jenem mit Marokko vom Februar 1996). Es sah die totale Öffnung der tunesischen Ökonomie für Investitionen und Importe aus der Europäischen Union vor, zusammen mit einer Öffnung des EU-Markts für Exporte aus Tunesien. Ursprünglicher Zeithorizont dafür war das Jahr 2010. Im Jahr 2010 selbst waren die Zugangsbarrieren zum tunesischen Binnenmarkt für Kapital und Importe aus der EU tatsächlich weitgehend abgebaut, während bis im selben Jahr sämtliche Staaten des Mittelmeerraums (mit Ausnahme von Libyen unter Muammar Al-Qadhafi, eingedeutscht „Gaddafi“) ihrerseits bilaterale Assoziationsabkommen mit der EU abgeschlossen hatten, welche ihrerseits Klauseln zum Freihandel enthielten.

Solche Bestimmung entfalten notwendig Konsequenzen wie die, dass schwächere, weil mit geringerer Produktivität ausgestattete ökonomische Sektoren dabei – im Namen der freien Konkurrenz – unter die Räder kommen und durch Sektoren mit höherer Produktivität plattgewalzt werden. So verschwanden Produktionszweige in Tunesien wie Teile der Nahrungsmittelproduktion sowie der Bekleidungsherstellung, nachdem sie der Dampfwalze der Importe aus der EU ausgesetzt waren. Allerdings wies Tunesien dennoch unter dem damaligen Regime (bis im Januar 2011) formal relativ hohe Wachstumsraten auf, weil sich spezialisierte und stark von den EU-Märkten abhängige „Nischen“-Produktionszweige in Tunesien ansiedelten. Beispielsweise Call-Center für französische Unternehmen, oder Zulieferer, die Unterprodukte für die europäische Automobilindustrie (wie etwa Sitzbezüge) herstellen. Zudem zog der Tourismussektor Investitionen aus Europa, aber auch aus den mit Petrodollars ausgestatteten Golfstaaten an. Dagegen bleibt der wirtschaftliche Austausch mit den Nachbarländern, Algerien und Libyen, sowie anderen Staaten der umliegenden Region sehr beschränkt bzw. erstreckt sich vor allem auf den „informellen“ Sektor (also Schmuggel in grenznahen Zonen).

Nun hätte mensch glauben können, dass die politischen Umwälzungen – d.h. in Tunesien bislang vor allem die Einführung pluralistischer Wahlen, und des Medienpluralismus – auch zur Infragestellung dieses wirtschaftlichen „Modells“ führen oder jedenfalls dazu beitragen können. Doch weit gefehlt, bislang.

Was sich im Augenblick abzeichnet, ist – im Gegenteil – die Aushandlung und Unterzeichnung eines neuen, noch umfassenderen Freihandels-Abkommens zwischen Tunesien und der Europäischen Union. Am 18. Dezember 2012 kündigte die Chefin der ständigen EU-Delegation in Tunis, Laura Baeza, die „baldige“ Eröffnung einer neuen Verhandlungsrunde zwischen der Europäischen Union und dem nordafrikanischen Land an. Diese soll in ein künftiges „Abkommen für vollständigen und vertieften Freihandel“, französisch abgekürzt ALECA und englisch DCFTA, münden. (vgl. http://www.businessnews.com.tn/details_article.php?t=520&a=35189&temp=3 externer Link) Zuvor hatte Tunesien am 19. November dieses Jahres in Brüssel den Status eines Partners im Rahmen eines „privilegierten Aktionsplans“ zugesprochen bekommen. Die Verhandlungen über das ALECA // DCFTA stehen in diesem Rahmen. Schon seit Ende 2011 hat die EU eine Charmeoffensive in Richtung Marokko, Tunesien, Ägypten und Jordanien für den Abschluss solcher „privilegierter“ Handelsabkommen begonnen; vgl. dazu (http://www.cncd.be/Maghreb-Machrek-L-Europe-a-l externer Link) – Um nur ja ihren Einfluss auf Tunesien nicht sinken zu sehen, hat die EU dem von wirtschaftlichen Schwierigkeiten (vgl. unten) gebeutelten Staat aktuell gerade 107 Millionen Euro zugebilligt, um das Budgetdefizit für das laufende Jahr 2012 auszugleichen: vgl. (http://www.businessnews.com.tn/details_article.php?t=520&a=35195&temp=3 externer Link) Hauptsache, die strukturellen Abhängigkeitsbeziehungen werden nicht in Frage gestellt! Momentan werden sie eher gefestigt, denn abgebaut…

Das in den letzten 40 Jahren verfolgte tunesische ökonomische „Modell“ ist höchst fragwürdig. Es beruht auf einer fast reinen Export-Orientierung; neben dem Tourismus als zweitem Hauptsockel. Dadurch vernachlässigt es einerseits die eher küstenfernen Regionen im Landesinneren, die in den letzten Jahren zunehmend verarmen – und deswegen auch, seit Gafsa (Januar bis Juli 2008) und bis zum Aufruhr in Sidi Bouzid (Dezember 2010), sowie erneut seit Sommer 2012 – wiederholt zur „Brutstätte“ für massenhafte Sozialproteste und Revolten geworden sind. Denn die Exportindustrien, wie Autozulieferer und sich auf bestimmte Exportmärkte spezialisierende Textilindustrien, sind überwiegend in der Nähe der Mittelmeerküste angesiedelt, natürlich auch um Verkehrswege abzukürzen. Andererseits produziert diese stark von „Export-Nischen“ abhängige Wirtschaft auch „Arbeitslose mit Hochschulbildung“ (die berühmten,diplômes chômeurs‘), da die auf Export getrimmten Sektoren vor allem „gering qualifizierte“ Arbeitskräfte für monoton-repetitive Tätigkeiten abfragen, während Tunesien gleichzeitig über ein stark entwickeltes Schul- und Hochschulwesen verfügt. Je höher das Bildungsniveau ist, das von den jungen Leuten erreicht wird, desto stärker wächst ihr Arbeitslosigkeits-Risiko, ein scheinbares Paradoxon. Aus diesen und ähnlichen Gründen würde das Wirtschafts„modell“, wie es bislang aussieht und auch der Logik der Vereinbarungen mit der EU voll entspricht, es verdienen, erheblich in Zweifel gezogen zu werden. (vgl. http://www.kapitalis.com/kapital/34-economie/12829-le-modele-economique-tunisien-est-a-bout-de-souffle-il-faut-en-changer.html externer Link)

Davon ist jedenfalls unter den regierenden Kräften, welche von der islamistischen Haupt-Regierungspartei En-Nahdha („Wiedergeburt“, „Renaissance“) bis zur als fünftes Rad am Wagen mitregierenden sozialdemokratischen Partei Ettakatol („Forum für Arbeit und demokratische Freiheiten“) reichen, nichts zu spüren. Dort ist man unterdessen besorgt, aber vor allem über den Abfall ausländischer Investitionen – Letztere kommen insbesondere aus Europa und den Golfstaaten -, welche im Vergleich zum Jahr 2010 (dem letzten Jahr unter dem alten Regime) um 15,3 Prozent gesunken sind. (vgl. http://www.businessnews.com.tn/details_article.php?t=520&a=35194&temp=3 externer Link) Darauf reagieren Teile der politischen Klasse in Panik, da sie den erneuten Ausbruch stärkerer sozialer Unruhen fürchten. Die jüngsten massiven Proteste in Siliana, zwischen de“m 27. November und dem 01. Dezember dieses Jahres – die polizeiliche Repression forderte rund 300 Verletzte – führte soeben zu einer begrenzten Regierungsumbildung, und zum Austausch des Finanzministers. (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2012/12/20/97001-20121220FILWWW00658-tunisie-nouveau-ministre-des-finances.php externer Link) Manche Beobachter/innen sprechen bereits von einer „angekündigten allgemeinen Krise“, vgl. (http://kapitalis.com/afkar-2/68-tribune/13444-tunisie-chronique-d-une-crise-generale-annoncee.html externer Link)

Auf diese Herausforderungen reagieren die Regierenden keineswegs mit einem Nachdenken oder gar Überdenken der bisher verfolgten Wirtschaftsstrategie, sondern im Gegenteil dadurch, dass sie (regierende Islamisten inklusive) sich „Marktwirtschaft“, Freihandel, EU und dem Hinterherjagen nach Investitionen immer noch tiefer in die Arme werfen. Zudem soll im Februar 2013 ein neues Programm aufgelegt werden, um den Tourismus – welcher seit den Umbrüchen ab Januar 2011 zurückging – anzufachen und zu entwickeln (vgl. http://www.businessnews.com.tn/details_article.php?t=520&a=35253&temp=3 externer Link) Unterdessen hat die internationale Hotelkette ACCOR ihr Vorhaben angekündigt, in etwa zwanzig Hotelneubauten in Tunesien – wahrscheinlich wieder einer hässlicher als der andere – investieren zu wollen (vgl. (http://www.businessnews.com.tn/details_article.php?t=520&a=35198&temp=3 externer Link). Pech nur, dass soeben auch heraus kam, dass 47 % der in einer Umfrage befragten Französinnen und Franzosen inzwischen „ein negatives Bild von Tunesien“ haben (vgl. http://www.businessnews.com.tn/47-des-Fran%C3%A7ais-ont-une-mauvaise-image-de-la-Tunisie-,520,35252,3 externer Link) Dieser Wert war unter der alten Diktatur nicht so hoch, damals war Tunesien ein Gegenstand intensiver Positivpropaganda in Frankreich. Ob also von dieser Seite her Rettung nahen könnte, ist ungewiss und wird es noch eine ganze Weile bleiben.

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