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Die Proteste gegen den tunesischen Schuldenhaushalt sind Proteste gegen IWF und EU

Jugendprrotest in Tunesien im Februar 2016 - gegen Erwerbslosigkeit„NACH DER REVOLUTION von 2010 / 2011“ – sagt uns Chamkhi – „wusste Europa nichts Besseres zu tun als dasselbe wirtschaftliche Rezept wie immer vorzuschlagen“. Aus Angst, dass die Revolte das neoliberale Modell in Frage stellt, boten im Mai 2011 die Weltmächte der G8, zusammen mit dem Internationalen Währungsfond, der Weltbank, der Türkei und Golfstaaten, Tunesien, Marokko, Jordanien und Ägypten enorme Kredite an. Im Austausch dafür setzten sie Reformen durch, die zur Öffnung der Märkte und zu Liberalisierungen führten. Bis zu dem Punkt, wo „die Souveränität faktisch in die Hände der EU-Kommission und der internationalen Institutionen übergegangen ist“. Heute steht der tunesische Staat mit einer Verschuldung da, die sich – verglichen mit 2010 – mehr als verdreifacht hat (von 25 auf 77 Milliarden Tunesische Dinar) und 34% der Steuereinnahmen gehen für die Bedienung von Krediten und Zinsen drauf. Tunesien ist heute ein „quasi gescheitertes“ Land, das sich enorm verschuldet hat, ohne dass es gelang, die wirtschaftliche Situation zu verbessern und das Mühe hat, die Kredite zurückzuzahlen und neue zu bekommen“ – so beginnt das Gespräch „Soziale Kämpfe in Tunesien, wo „die Verschuldung zu einer Waffe geworden ist“ am 02. Februar 2018 in il manifesto, das Pino Dragoni mit Fathi Chamkhi, Abgeordneter der tunesischen Volksfront geführt hat. Jetzt übersetzt und kommentiert vom Gewerkschaftsforum Hannover (wir danken!). Siehe dazu auch den Verweis auf unseren letzten Beitrag zu den Protesten in Tunesien, die sich eben zunehmend auch gegen den IWF gerichtet haben:

Vorberkung des Gewerkschaftsforum Hannover:

Der siebte Jahrestag der Tunesischen Revolution von 2011, die zum Sturz des Langzeitdiktators Bel Ali und zur Errichtung einer bürgerlichen Demokratie führte, die – anders als in Ägypten – nicht durch eine reaktionäre Militärdiktatur hinweggefegt wurde, war durch eine Wiederbelebung des Klassenkampfes von unten gekennzeichnet. Das heißt durch den überraschend heftig neu aufgeflammten Kampf von Arbeitern, Arbeitslosen und progressiven Jugendlichen gegen die andauernde Armut, Ungerechtigkeit und massenhafte Erwerbslosigkeit. Im Gespräch mit der italienischen Tageszeitung „il manifesto“ erklärt der Parlamentsabgeordnete der linken Volksfront und Universitätsprofessor Fathi Chamkhi die Hintergründe des Neuaufschwungs der Bewegung, ihre Stärken und Schwächen sowie die dortigen Diskussionen. Der Beitrag erschien am 2. Februar 2018.

Soziale Kämpfe in Tunesien, wo die Verschuldung zu einer Waffe geworden ist“

Interview mit Fathi Chamkhi (Volksfront): „Nach der Revolution von 2010 / 2011 ist die Souveränität faktisch in die Hände von Währungsfond und EU übergegangen.“ Von Pino Dragoni

„Die Staatsverschuldung wurde in Tunesien als konterrevolutionäre Waffe verwendet, um den Volkskämpfen den Weg zu versperren.“ Davon ist Fathi Chamkhi, Aktivist und Professor an der Universität Tunis überzeugt, der 2014 in den Reihen der Volksfront ins Parlament gewählt wurde. Wir trafen ihn im Rahmen des internationalen Konvents „Die Frage der globalen Verschuldung“, der am 27. Januar 2018 in Pescara vom CADTM Italia (dem Komitee für die Streichung der illegitimen Schulden) gemeinsam mit der Erzdiözese von Pescara-Penne organisiert wurde.

„NACH DER REVOLUTION von 2010 / 2011″ – sagt uns Chamkhi – „wusste Europa nichts Besseres zu tun als dasselbe wirtschaftliche Rezept wie immer vorzuschlagen“. Aus Angst, dass die Revolte das neoliberale Modell in Frage stellt, boten im Mai 2011 die Weltmächte der G8, zusammen mit dem Internationalen Währungsfond, der Weltbank, der Türkei und Golfstaaten, Tunesien, Marokko, Jordanien und Ägypten enorme Kredite an. Im Austausch dafür setzten sie Reformen durch, die zur Öffnung der Märkte und zu Liberalisierungen führten. Bis zu dem Punkt, wo „die Souveränität faktisch in die Hände der EU-Kommission und der internationalen Institutionen übergegangen ist“.
Heute steht der tunesische Staat mit einer Verschuldung da, die sich – verglichen mit 2010 – mehr als verdreifacht hat (von 25 auf 77 Milliarden Tunesische Dinar) und 34% der Steuereinnahmen gehen für die Bedienung von Krediten und Zinsen drauf. Tunesien ist heute ein „quasi gescheitertes“ Land, das sich enorm verschuldet hat, ohne dass es gelang, die wirtschaftliche Situation zu verbessern und das Mühe hat, die Kredite zurückzuzahlen und neue zu bekommen.

DAS THEMA SCHULDEN ist in der öffentlichen Debatte inzwischen, auch dank der Arbeit verschiedener Organisationen, wie Attac Raid und CADTM, in den Mittelpunkt gerückt. Vom Kampf in einer kommunistischen Untergrundorganisation in den 70er Jahren bis zur Ankunft in der globalisierungskritischen Bewegung in den 90er Jahren und schließlich bis ins Parlament hat Chamkhis Vorschlag für ein Gesetz zur Überprüfung der Schulden im Jahr 2016 die Zustimmung eines Drittels der Parlamentsmitglieder erhalten (allerdings nicht die der Islamisten von Ennahda). Die Überprüfung sieht eine öffentliche Untersuchung der Kreditverträge durch den Staat vor, um zu entscheiden, ob und wenn ja wie viele davon annullierbar sind, weil es sich um Verträge handelt, die demokratische Grundsätze verletzen und gegen die politischen, ökonomischen, sozialen und Bürgerrechte der Bevölkerung verstoßen.

Und während das so genannte „Versöhnungsgesetz“ Absolution für die Verbrechen und die Korruption des Ben Ali-Regimes erteilt, um den alten Eliten so zu erlauben, wieder in den Sattel zu steigen, beläuft sich die Zahl der im Laufe der Proteste, die das Land seit Anfang Januar erschütterten, verhafteten Jugendlichen auf mehr als tausend. Die Unruhen der letzten Wochen sind direkt mit der Intervention Europas und des IWF verbunden, die, um die Rückerstattung der Darlehen zu erreichen, nun die Rechnung durch einen Austeritätsplan und eine Erhöhung der Steuern fordern.
Der wahre revolutionäre Inhalt liegt in den Massen der Jugendlichen, die heute durch die Kämpfe schnell Bewusstsein erlangen. Eine neuartige und vielversprechende Erfahrung.

DAS LAND hat in den letzten Jahren ständige soziale Protestwellen erlebt, mit Tausenden Streiks und Demonstrationen jedes Jahr. „Das Neue an den jüngsten Protesten“ – reflektiert Chamkhi – „ist die Aufsehen erregende Gewalt.“ Auf die Straße gehen die Jugendlichen, die durch die Revolution von 2011 keinen Vorteil hatten. es sind die Arbeitslosen, die Jugendlichen aus den Arbeitervierteln, die Ausgeschlossenen. Ausgeschlossene nicht nur aus dem ökonomischen und sozialen System, sondern auch aus den traditionellen Arbeiterorganisationen.

DIE GROSSE GEWERKSCHAFT UGTT, die in der Revolution eine grundlegende Rolle spielte und unter den Werktätigen eine enorme Legitimität genießt, hat es in den letzten Jahren verstanden, die Interessen der Lohnabhängigen voranzubringen, doch sie „hat die jugendlichen Erwerbslosen nie in Betracht gezogen“. Und die Blockade der Emigration nach Europa hat zu nichts anderem geführt als die Wut und Frustration noch zu verstärken, indem sie das verstopfte, was ein Abzugsventil der sozialen Unzufriedenheit war.

DAS PARADOX besteht in einer Situation, in der „die bestmöglichen Bedingungen für eine Revolution“ existieren: die Rechten gespalten, eine Regierung mit einem Schwindel erregenden Rückgang der Zustimmung, Armut, Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit, aber mit einer „schwachen“ Linken, die unfähig ist, die Initiative zu ergreifen. Die 2012 als Koalition verschiedener linker Kräfte entstandene Volksfront verfügt heute über 15 gewählte Vertreter im Parlament, das heißt 7% der Versammlung, allerdings bei „einer begrenzten Mobilisierungsfähigkeit“ auf den Straßen.
„Der wahre revolutionäre Inhalt“, sagt Chamkhi, wird durch die „Massen von Jugendlichen ausgedrückt, die durch die Kämpfe schnell Bewusstsein erlangen. Eine neuartige und vielversprechende Erfahrung“, deren Darstellung / Deutung die Linke übernehmen muss. „Das ist unsere große Herausforderung“: Aus der Rhetorik herauskommen, um „eine Wirkung auf die echten Menschen, auf die Arbeiter, zu haben, uns auf die konkreten Kämpfe konzentrieren, um das Vertrauen der unteren Klassen zu erhalten“.

Dazu sei allerdings eine Anstrengung nötig, insistiert Chamkhi. „Revolutionäre zu sein, bedeutet daran zu glauben, dass die Veränderung möglich ist. Aber es hängt von uns ab, davon wie wir uns organisieren, wie wir agieren, wie wir Politik machen.“

Vorbemerkung und Übersetzung: Gewerkschaftsforum Hannover gewerkschaftsforum-H@web.de

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=127956
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