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Tunesien

Es herrscht langwieriges Warten – nicht auf Godot, aber auf die neue Regierung

Artikel von Bernard Schmid vom 13.3.2013

Einige Zugeständnisse mussten die Regierungsislamisten bereits machen, insbesondere könnte es den Milizen in Gestalt der „Ligen für den Schutz der Revolution“ nun endlich an den Kragen gehen – wie u.a. die Gewerkschaften seit längerem forderten. Unterdessen verbrennt sich erneut ein junger Arbeitsloser selbst in der Öffentlichkeit, mit tödlichen Folgen

Junger Arbeitsloser verbrennt sich selbst: ein trauriges Déja-Vu?

Es wirkt wie ein bitteres Déjà-vu: Am gestrigen Dienstag verbrannte sich ein 27jähriger junger Arbeitsloser bzw. Prekärer, der mangels anderer Verdienstmöglichkeit auf der Straße Zigaretten verkaufte, selbst. ‘Adel Khadri zündete sich am Dienstag Vormittag im Stadtzentrum von Tunis selbst an und rief dabei aus: „Seht her, hier ist die Jugend, die Zigaretten verkauft, hier ist die Arbeitslosigkeit!“ Am heutigen Mittwoch früh gegen 05.30 Uhr starb er an den Folgen der erlittenen Brandverletzungen. (Vgl. u.a. http://www.assawra.info/spip.php?article2764 externer Link und http://www.kapitalis.com/societe/14971-tunisie-un-homme-s-immole-par-le-feu-devant-le-theatre-municipal-de-tunis.html externer Link)

Der bittere Zwischenfall erinnert in einigen Punkten an die Selbstverbrennung des 26jährigen, prekär seinen Lebensunterhalt verdienenden Mohamed Bou’azizi am 17. Dezember 2010. Sie bildete den Auslöser für die erste Phase der tunesischen Revolution vom Dezember 10/Januar 11. (vgl. dazu unseren Artikel vom 23.12.10: http://archiv.labournet.de/internationales/tn/sidibouzid1.html)

Er erinnert – sofern nötig – daran, dass die inzwischen abgeschlossenen Phasen der tunesischen Revolution zwar einen politischen sowie Medien-Pluralismus durchsetzten, aber die drängendsten sozialen Fragen bislang mitnichten lösen konnten. Auch der seit dem 05. März 13 andauernde Hungerstreik von Lohnabhängigen bei Téléperformance, einem weltweiten führenden Unternehmen in der Callcenter-Branche, ist ein dringlicher Hinweis darauf. (Ausführlicheres dazu in Bälde. (Vgl. dazu einstweilen: http://www.lemonde.fr/economie/article/2013/03/12/des-salaries-en-greve-de-la-faim-dans-les-centres-d-appel-tunisiens-de-teleperformance_1846511_3234.html externer Link)

Entsprechend stark ist der Erwartungsdruck auf die derzeit und künftig Regierenden. Ohne dass absehbar wäre, dass diese Regierenden auf dieser Ebene irgendetwas lösen könnten – zumal sie keinerlei Anstalten machen, den durch den IWF oder auch die Europäische Union vorgegebenen Rahmen eines eng abgesteckten wirtschaftlichen „Modells“ zu verlassen oder mit ihm zu brechen… (Vgl. dazu https://www.facebook.com/notes/observatoire-tunisien-de-leconomie/partenariat-de-deauville-pierre-angulaire-de-ling%C3%A9rence-internationale-en-tunisi/139739956191322 externer Link)

Neue Regierung: immer noch nicht völlig unter Dach & Fach

Noch immer hat am heutigen Mittwoch die, infolge der manifesten Regierungskrise im Februar d.J., neu eingesetzte Regierung unter Ex-Innenminister ‘Ali La’arayedh ihr Vertrauensvotum in der Verfassungsgebenden Versammlung – die am 23. Oktober 11 gewählte Assemblée nationale constituante arbeitet derzeit als provisorisches Parlament – nicht passiert. (Vgl. etwa http://www.assawra.info/spip.php?article2762 externer Link) Es war am gestrigen Dienstag erst einmal verschoben worden.

‘Ali La’arayedh (Anm.: die Apostrophen stehen in der Umschrift für einen eigenen arabischen Buchstaben), der zum eher nach bürgerlicher „Normalisierung“ strebenden Flügel der islamistischen Regierungspartei En-Nahdha zählt, hatte am 22. Februar die Nachfolge des am 19.02.13 zurückgetretenen Premierministers Hamadi Jebali angetreten. Er hatte daraufhin vierzehn Tage Zeit, um ein neues Kabinett vorzustellen. Kurz vor knapp, wenige Stunden vor Ablauf der Frist, präsentierte er Präsident Moncef Marzouki dann auch ein neues Regierungskabinett.

Dieses ist im Wesentlichen gegenüber dem alten unverändert zusammengesetzt: Es ist nicht gelungen, die „Troika“ genannten bisherige Regierungskoalition (aus En-Nahdha, dem „Kongress für die Republik“/ CPR von Moncef Marzouki und der sozialdemokratischen Partei Ettakatol) um weitere politische Kräfte zu erweitern – wie Spitzenpolitiker der ausscheidenden Regierung dies explizit angestrebt hatten. Im Wesentlichen bleibt die alte Koalition im Amt, wobei jedoch vier Schlüsselministerien – Inneres, Äußeres, Verteidigung, Justiz – künftig mit parteilosen Fachleuten statt mit Vertretern von En-Nahdha besetzt werden. (Vgl. etwa http://www.lefigaro.fr/international/2013/03/08/01003-20130308ARTFIG00572-la-tunisie-entrouvre-son-gouvernement.php externer Link) Dies war eine der wesentlichen Forderungen der bisherigen Koalitionspartner von En-Nahdha, vor allem von Ettakatol, für ihren Verbleib in der „Troika“ gewesen. En-Nahdha wiederum ist aus eigener Sicht auf die Koalition angewiesen, nicht allein aufgrund einer nur relativen Mehrheit im provisorischen Parlament (41 % der Sitze dank rund 37 % der Stimmen), sondern auch, um nicht allein die politische Verantwortung für Erfolge und v.a. Misserfolge der Regierung zu tragen. Denn auch En-Nahdha ahnt zumindest – trotz allen ideologischen Nebels, in dem die Islamisten wandeln mögen – dass sie die drängenden sozialen und ökonomischen Probleme des Landes eben nicht einfach lösen wird…

Eine hohe Achtung genießt im Augenblick zumindest der künftige Innenminister, Lotfi Ben Jeddou. Bislang amtierte er als Untersuchungsminister im westtunesischen Kasserine. Dort arbeitete er, trotz massiver Widerstände seitens der „Sicherheitsorgane“, an gerichtlichen Untersuchungen zur Repression während der ersten Phase der tunesischen Revolution. Die Repression hatte im Januar 2011 in Kasserine sowie El-Kef, beide in der Nähe der algerische Grenze gelegen, die meisten Todesopfer gefordert. (Vgl. zu ihm etwa: http://maghreb.blog.lemonde.fr/2013/03/08/le-petit-juge-de-kasserine-nomme-ministre-de-linterieur-a-tunis/ externer Link)

Geht es den LPR endlich an den Kragen?

Eine immerhin tröstliche Aussicht besteht darin, dass die finsteren Wichte der so genannten „Ligen für den Schutz der Revolution“ (LPR, Ligues de la protection de la révolution) ihren Aktionsspielraum verlieren könnten. Die LPR stellen Mobilisierungsorgane – Kritiker/innen sprechen auch von „Milizen“, freilich i.d.R. unbewaffneten – der islamistischen Regierungspartei En-Nahdha dar. Sie bestehen aus Aktivisten, die En-Nahdha mindestens nahe stehen, und setzen seit der zweiten Jahreshälfte 2012 verstärkt Oppositionelle und Gewerkschaften mit Mobilisierungen gegen „Korrupte“ und angebliche „Kräfte des alten Regimes“ unter Druck. Am 18. Oktober 2012 begingen diese „Ligen“ in der südtunesischen Stadt Tataouine ihren ersten politischen Mord, und am 04. Dezember 12 zeichneten sie für schwere Tumulte vor dem Gewerkschaftshaus der UGTT in Tunis verantwortlich; Labournet berichtete ausführlich.

Am gestrigen Dienstag, den 12. März 13 fror ein Gericht in Tunis die Aktivitäten des nationalen Dachverbands der „Ligen“ sowie ihrer sämtlichen Untergliederungen für die Dauer eines Monats ein (vgl. http://www.businessnews.com.tn/details_article.php?t=520&a=36850&temp=3 externer Link). Der Generalsekretär der Regierung hatte zuvor gegen den Verband geklagt, nun muss die Gesetzmäßigkeit seiner Aktivitäten untersucht werden; ihr „Einfrieren“ stellt nur eine vorläufige Maßnahme dar. Am 06. März 13 hatte die Regierung bereits angekündigt, es handele sich nur „um einen ersten Schritt zu ihrer Auflösung“ (vgl. http://www.courrierinternational.com/breve/2013/03/07/vers-une-dissolution-des-ligues-de-protection-de-la-revolution externer Link).

Noch können Zweifel daran aufkommen, denn nicht alle Strömungen oder Untergruppen der – politisch zerfaserten – Regierungspartei En-Nahdha dürften es so einfach akzeptieren, dass ihnen solcherart ein Druckmittel aus der Hand genommen wird. Gleichzeitig wuchs der politische Druck auf En-Nahdha in dieser Frage so stark, dass jedenfalls ihre an die Regierung angebundene Fraktion sich gezwungen sieht, die außerinstitutionelle Gewalt (wie sie stark von den LPR ausgeht) erheblich zurückzufahren und eine Art bürgerlich-institutioneller „Normalisierung“ anzustreben. Schließlich wurde erst Ende Februar 13 ein mutmaßliches Mitglied der LPR im Zusammenhang mit dem Mord an dem Anwalt und Oppositionspolitiker Chokri Belaïd festgenommen (vgl. http://www.webdo.tn/2013/02/25/un-membre-de-la-lpr-arrete-pour-lassassinat-de-chokri-belaid/?utm_source=feedburner&utm_medium=email&utm_campaign=Feed%3A+webdo+%28webdo%29 externer Link) auch wenn inzwischen verlautbarte, „nur“ der Fahrer des Fluchtmotorrads sei dingfest gemacht, der (neue) „Hauptverdächtige“ befinde sich hingegen noch auf der Flucht.

Am 16. Februar 13 hatte unterdessen der bisherige landesweite Chef der LPR, Mohamed Maalej, seinen Rücktritt erklärt und angekündigt, „eine eigene politische Partei zu gründen“ (vgl. http://www.assawra.info/spip.php?article2477 externer Link). Ein Entlastungsmanöver zugunsten von En-Nahdha?

Bemerkenswert ist unterdessen auch, dass der im Golfstaat Qatara ansässige TV-Sender Al-Jazeera in jüngster Zeit detailliert über einen „Kongress“ der LPR in einer Banlieue von Tunis berichtete, und vor allem, dass die „Ligen“ ankündigten, Filialen im Ausland – und zuerst konkret in Qatar – zu eröffnen. (Vgl. http://www.businessnews.com.tn/details_article.php?t=520&a=36668&temp=3 externer Link) Zeichnet sich hier die Hand der reaktionären Golfmonarchien im Spiel ab?

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=29136
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