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Wer nicht Erdogan wählt, ist ein Terrorist: Gewählte kurdische Bürgermeister mit einem Putsch abgesetzt, massenhafte Festnahmen und Demonstrationsverbote – die trotzdem stattfinden

20.8.2019 Diyarbakir: Polizei versucht erfolglos Proteste gegen die Absetzung der jurdischen Bürgermeister zu verhindernIn vielen europäischen Städten fanden gestern Proteste gegen den politischen Putsch gegen die gewählten Stadtverwaltungen von Amed (Diyarbakir), Wan (Van) und Mêrdîn (Mardin) auf die Straße. So gingen in Deutschland, der Schweiz , Frankreich, England, den Niederlanden, Dänemark, Finnland und Schweden in Dutzenden Städten die Menschen auf die Straße, um gegen das AKP-MHP-Regime in der Türkei zu protestieren. Auf den europaweiten Protesten wurde immer wieder „Die HDP ist das Volk und das Volk ist hier“ und „Diktator Erdoğan“ skandiert. In Reden wurde darauf hingewiesen, dass „der Diktator Erdoğan die Städte, die er durch Wahlen nicht erobern konnte, nun durch einen Putsch zu erobern versucht“. Es wurde zu einer Einheit der Opposition gegen das faschistische Regime aufgerufen und an Europa appelliert, sich endlich gegen die AKP-MHP-Diktatur zu stellen…“ – so wird der Bericht über die internationalen Proteste „Europaweite Proteste gegen Zwangsverwaltung“ am 20. August 2019 bei Yeni Özgür Politika externer Link eingeleitet – worin über Aktionen in zehn europäischen Ländern berichtet wird. Siehe in der Materialsammlung auch Berichte über die Reaktionen und Proteste in der Türkei – und einige Beiträge, die diesen diktatorischen Amoklauf zu bewerten versuchen:

„Straßenschlachten in Istanbul“ am 20. August 2019 bei der ANF externer Link berichtet unter anderem: „… Eine Kundgebung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Istanbuler Stadtteil Kadiköy ist von der Polizei angegriffen worden. Die HDP-Mitglieder wollten vor der Süreyya-Oper eine Erklärung gegen die Absetzung der Oberbürgermeister*innen von Amed, Wan und Mêrdîn abgeben, als sie von der Polizei eingekesselt wurden. Gewaltsam wurden Aktivist*innen und Journalist*innen vom Platz gedrängt. Die Menschenmenge skandierte daraufhin „Überall ist Amed, überall ist Widerstand“ und „Eure Repression kann uns nicht einschüchtern“. Die Polizei griff die Kundgebung mit Pfeffergas-gefüllten Gummigeschossen an, die Aktivist*innen reagierten mit Stein- und Flaschenwürfen. Es kam zu einer Vielzahl von Festnahmen…“

„Amed: Menschen trotz Polizeiangriffen auf den Straßen“ am 20. August 2019 ebenfalls bei der ANF externer Link ist ein weiterer Bericht über Proteste trotz Polizeiterror: „… Der Gouverneur verhängte ein allgemeines Aktionsverbot in der Stadt. Die HDP-Abgeordnete Saliha Akdeniz erklärte dazu: „Wir werden trotz des Verbots nicht von unseren demokratischen Forderungen ablassen und die Straßen nicht verlassen.“ Anschließend gab Temelli eine Erklärung ab. Daraufhin griff die Polizei ein weiteres Mal an. Diesmal wurden Knüppel und Wasserwerfer eingesetzt. Dabei wurden viele Demonstrant*innen verletzt. Als die Menge Widerstand leistete, wurde Tränengas eingesetzt. Eine Gruppe von Aktivist*innen führte eine Demonstration in Richtung des Gouverneurssitzes durch. Als die Gruppe den Anıt-Park in der Nähe des Gebäudes erreichte, wurde sie ebenfalls angegriffen. Hunderte zogen daraufhin in das Viertel Ofis zum Koşuyolu-Park. Die Demonstration zieht im Moment durch den Stadtteil Bağlar. Trotz der andauernden Polizeiangriffe gehen die Proteste immer weiter…

„Protests are growing inside northern Kurdistan“ am 19. August beim Twitter-Kanal RiseUp for Rojava externer Link ist ein kurzer, aber eindrucksvoller Videobericht über die laufenden Proteste gegen die Absetzung und die darauf folgende polizeiliche Repression von Protesten.

„Ministry of Interior: 418 People Taken into Custody in 29 Provinces“ am 19. August 2019 im BiaNet externer Link war die Meldung über die erste Mitteilung des Innenministeriums, dass eben 418 Verhaftungen in 29 Provinzen vollzogen worden seien – ein Hinweis eben darauf, dass es sich einmal mehr um eine landesweite versuchte Offensive der AKP handelt, jegliche Opposition zu verhindern. Der Schwerpunkt, nicht zufällig, in den kurdischen Provinzen.

„Bürgermeister in der Türkei abgesetzt“ von FIGEN GÜNEŞ und OLIVER KONTNY am 19. August 2019 in der taz gazete externer Link berichtet über den Absetzungs-Vorgang hinaus: „… Die erste Amtshandlung des in Van eingesetzten Gouverneurs war es, vor laufenden Kameras ein Bild des Staatspräsidenten Erdoğan aufzuhängen. Gleichzeitig wurden die Internetpräsenzen der betroffenen Stadtverwaltungen abgeschaltet. Das Innenministerium flankierte die Amtsenthebung mit einer knappen Meldung, bei Operationen gegen die PKK seien in 29 Provinzen bisher insgesamt 418 Personen festgenommen worden. In einer ausführlicheren Stellungnahme argumentiert das Ministerium, die gewählten Bürgermeister*innen hätten vorgehabt, finanzielle Mittel der Stadtverwaltungen an die kurdische Terrororganisation weiterzuleiten. Dies gelte es im Sinne des gesellschaftlichen Friedens zu verhindern. Konkret wird den drei Bürgermeister*innen vorgeworfen, mit der Frauenquote von 50% und dem damit verbundenen System der genderparitätischen Ko-Bürgmeisterschaft unbefugte Personen in offizielle Positionen gebracht zu haben und damit in ihren Stadtverwaltungen eine “vom Ganzen des Landes abweichende Struktur einführen zu wollen.“ Zudem seien in den Stadtverwaltungen Angehörige von wegen PKK-Kontakten inhaftierten Personen angestellt und vereinzelt Straßen und Plätze umbenannt worden. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 waren 95 von 102 Bürgermeister*innen der HDP abgesetzt und durch staatliche Verwalter ersetzt worden. Derzeit sitzen 40 dieser Bürgermeister*innen in türkischen Gefängnissen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte bereits vor den Kommunalwahlen angekündigt, erneut gewählte Bürgermeister*innen abzusetzen, die sich seiner Politik widersetzen. Das konfliktreiche Thema war allerdings hinter der erzwungenen Wiederholung der Istanbuler Bürgermeisterwahlen in den Hintergrund getreten. Der im zweiten Wahlgang bestätigte Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu twitterte, die Amtsenthebung der gewählten Bürgermeister*innen sei nicht mit den Prinzipien der Demokratie zu vereinbaren…“

„HDP-Aufruf zum Widerstand gegen politischen Putsch“ am 19. August 2019 bei Yeni Özgür Politika externer Link dokumentiert die Übersetzung des HDP-Aufrufes gegen Erdogans neuerlichen antidemokratischen Putsch: „Die in Diyarbakir mit 63 Prozent, in Mardin mit 56 Prozent und in Van mit 53 Prozent gewählten Bürgermeister*innen unserer Partei sind auf Befehl des Innenministeriums mit erlogenen und unrechtmäßigen Begründungen abgesetzt worden. Gegen Stadtratsmitglieder und Mitarbeiter der Stadtverwaltungen läuft eine Festnahmeoperation, die immer noch andauert. Bei dieser Maßnahme handelt es sich um einen neuen politischen Putsch. Er zeigt die feindliche Haltung zum erklärten politischen Willen des kurdischen Volkes. Das Innenministerium macht sich damit zum Zentrum eines Putsches, mit dem Rechte und Freiheiten usurpiert und Entscheidungen getroffen werden, die keine Spur von Demokratie aufweisen. In der Zeit der Zwangsverwaltung sind in den betroffenen drei Großstädten und den anderen Kommunalverwaltungen alle Ressourcen aufgebraucht worden. Die staatlichen Treuhänder haben einen Trümmerberg hinterlassen. Durch die Zwangsverwaltung sind die Rathäuser zu Zentren der Korruption und des Diebstahls gemacht worden. Die Regierung und das Innenministerium wollen verhindern, dass die während der Zwangsverwaltung erfolgten Regelverstöße und die Korruption aufgedeckt werden. Die lokale militärische und zivile Bürokratie hat diese Korruption unterstützt, weil sie selbst davon profitiert hat. Die Regierung hat keinerlei demokratische Legitimation mehr. Für die AKP/MHP-Koalition ist es zum Normalzustand geworden, den Willen der Bevölkerung zu missachten und unliebsame Wahlergebnisse mit staatlicher Gewalt zu ändern. Die Bevölkerung wird dieses Vorgehen nicht hinnehmen und sich hinter ihre gewählten Vertreter*innen und unsere Partei stellen. Wir rufen alle demokratischen Kräfte und oppositionellen Parteien zur Solidarität auf. Der Kampf gegen diese Regierung mit allen demokratischen Mitteln ist ein nicht zur Diskussion stehendes Recht, das aus der Verfassung und der universellen Rechtsauffassung hervorgeht. Demokratie kann es nur geben, wenn alle demokratischen Kräfte gemeinsam und entschlossen dafür kämpfen. Unser Aufruf richtet sich an alle in der Türkei, die am 31. März und 23. Juni ihr Wahlrecht genutzt und darauf hingearbeitet haben, dass die AKP/MHP-Koalition verliert und die Demokratie gewinnt. Es handelt sich nicht nur um ein Problem der HDP und des kurdischen Volkes, sondern um ein Problem aller Völker und demokratischen Kräfte der Türkei. Schweigt nicht, wer schweigt, stimmt zu!

„DEMOKRASİYE, ADALETE, SEÇME VE SEÇİLME HAKKINA YÖNELİK DARBE KABUL EDİLEMEZ!“ am 19. August 2019 bei der DISK externer Link ist die Protest- und Solidaritätserklärung des Gewerkschaftsbundes gegen den antidemokratischen Akt der Regierung, die mit ihrem Angriff auf gewählte Repräsentanten des Volkwillens einmal mehr ihren reaktionären Charakter offen zeige.

„Türkei: AKP setzt Oppositions-Bürgermeister ab“ von Gerrit Wustmann am 20. August 2019 bei telepolis externer Link zur Bedeutung dieses neuen Angriffs: „… Nach den Kommunalwahlen Ende März, bei denen zahlreiche türkische Großstädte, darunter auch Istanbul, an die Opposition fielen, schien die Allmacht von Staatspräsident Erdogan angekratzt. Die erzwungene Neuwahl am Bosporus, bei der die oppositionelle CHP ihren Vorsprung sogar noch ausbauen konnte, geriet für Erdogan und seine AKP zum Desaster.   Als dann auch noch das Verfassungsgericht und das Oberste Berufungsgericht Urteile widerriefen und mehrere politische Gefangene freiließen, keimte die Hoffnung auf, dass die Demokratie am Bosporus doch noch nicht komplett verloren sein könnte. Seither wurde gerätselt, was Erdogans nächster Schachzug sein würde. Nun scheint es, dass jene, die umso härtere Repressionen befürchteten, Recht behalten. In der Nacht auf Montag wurden die im März gewählten Bürgermeister der südöstlichen, kurdisch geprägten Städte Van, Mardin und Diyarbakir gewaltsam abgesetzt und durch AKP-Statthalter ausgetauscht. Dem waren am Wochenende Massenverhaftungen von 400 Mitgliedern der Oppositionspartei HDP vorausgegangen. Die HDP war durch den Verzicht auf eigene Kandidaten und die Unterstützung der CHP maßgeblich für die Wahlniederlage der AKP in Istanbul mitverantwortlich. So sehr diese jüngsten Repressalien wie ein Racheakt anmuten, so wenig neu sind sie. Bereits im Laufe der letzten Jahre waren Tausende HDP-Mitglieder verhaftet worden, darunter auch mehrere Bürgermeister, Abgeordnete sowie die Parteichefs Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Demirtas ist seit nunmehr fast drei Jahren inhaftiert. Erst Anfang August hatten Prominente, Journalisten und Politiker in Deutschland mit einer Social-Media-Kampagne Demirtas‘ Freilassung gefordert. Unter ihnen waren auch Günter Wallraff, der Grünen-Politiker Cem Özdemir und der im deutschen Exil lebende türkische Journalist Can Dündar. Doch die türkische Regierung zeigt sich unnachgiebig…“

„Finanzquellen der Klientel versiegen“ von BARIŞ İNCE am 19. August 2019 bei der taz gazete externer Link sieht auch noch andere Aspekte des reaktionären Angriffs: „… Es putscht nicht das Militär, sondern die Zentralregierung, die ihre weisungsgebundenen Gouverneure als Zwangsverwalter über das Gemeinwesen der drei Großstädte einsetzt. Dabei wird in der regimenahen Presse betont, Grund für das Vorgehen sei eine Unterstützung der PKK durch die drei Bürgermeister*innen. Wir wissen allerdings, dass diese drei Personen rund ein Vierteljahr nach ihrer Wahl damit Schlagzeilen machten, dass sie die unglaubliche Verschwendung öffentlicher Gelder und Verschuldung der Kommunen durch die in der vorigen Wahlperiode dank des Ausnahmezustands waltenden Zwangsverwalter öffentlich gemacht und zum Teil ausgebügelt hatten. Wir wissen, dass der vorherige Zwangsverwalter der Stadt Van Schulden in Höhe von eineinhalb Milliarden Lira hinterlassen hatte. Bürgermeister Ahmet Türk (HDP) hatte in Mardin 620 Millionen Lira Schulden aus dem Haushalt seines Vorgängers, eines Zwangsverwalters, übernommen. In den Großstädten im Westen der Türkei sieht es nicht wesentlich anders aus. Erst letzte Woche machte der neue Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu publik, dass die Stadt einem AKP-treuen Medienunternehmen mehrere Millionen Lira zugeführt hatte. Der Geldfluss wurde unterbunden. Für die Klientel des Palastregimes wichtige Finanzierungsquellen versiegen. Dagegen wurde nun vorgegangen. Da die Städte im Südosten des Landes von der HDP regiert werden, schien es ein Leichtes, der Öffentlichkeit im Westen des Landes glaubhaft zu machen, dass Gefahr im Verzug sei. Folglich begann man hier...“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=153357
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